«Kehrt endlich um!» (II)

Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/91/Rembrandt_Harmensz._van_Rijn_-_The_Return_of_the_Prodigal_Son.jpg).

Theologie zwischen Appell, Verfahren und Illusion

Zukunft, so Assmann, ist schon lange kein Versprechen mehr, das Zeitregime der Moderne jedenfalls ist "aus den Fugen geraten". Und ist das nicht das Zeitgefühl unserer Generation: Was soll denn eigentlich unsere Zukunft sein?! Das ist die zentrale Frage, auf die es heute so wenige plausible Antworten gibt und die jeden Aufruf, von der Zukunft, gar dem Letzten her zu denken, fraglich werden lässt. Wie genau soll denn diese Zukunft aussehen, dass wir gerne und gut darin leben wollen würden? Wenn wir uns schon aufraffen zur Umkehr – wohin, bitteschön, soll die Reise denn eigentlich gehen konkret? Damit zu einem zweiten Aspekt:

Wie funktionieren Umkehrprozesse?

Wie muss man ein Umkehrgeschehen eigentlich genau verstehen? Wissenssoziologische Forschungen belegen, dass dauerhafte Umgestaltungen des Selbstund Weltkonzeptes prozesshaft verlaufen. Und sie bedürfen, damit sie erfolgreich sind, der gleichzeitigen strukturellen Absicherung – etwa durch Gruppen Gleichgesinnter. Es kommt also auf umkehrförderliche Rahmenbedingungen an.11 Damit liegen zwei Erläuterungen auf dem Tisch, welche auch für Umkehrprozesse im religiösen Bereich gelten. "Umkehr " wäre dann der Oberbegriff für mehrere Etappen eines Handlungsstranges, der manchmal erst im Rückblick als einheitlich oder zusammengehörig so bezeichnet werden kann.

Wie ist es denn konkret, wenn so etwas wie Umkehr geschieht? Man könnte es so rekonstruieren: Ich empfinde bei einer Sache, die ich tue oder gewählt habe, einen "Anfangsverdacht", fühle mich unwohl damit, habe den Eindruck, es könnte anders besser laufen oder auch, es sollte anderes geschehen, als es de facto der Fall ist. Irgendwann kommt es zum Impuls, es doch anders zu probieren – aber weiss ich schon, wie genau? Eher nicht, vielmehr geht der Weg tastend voran, mit allerlei Versuchen in die eine oder andere Richtung, vielleicht auch Irrwegen und sicher auch mit dem Zweifel, einen richtigeren Weg als den verlassenen überhaupt finden zu können. Früher oder später taucht die Frage auf: Isoliere ich mich, wenn ich etwas Neues mache, oder machen das andere ähnlich, haben damit gute Erfahrungen gemacht, können Unterstützung leisten?

Eine solche kurze Skizze des Phänomens von Umkehren trifft auf signifikant viele thematische Umkehrgeschehen des individuellen und sozialen Lebens zu, ob das nun – in der Universität eine klassische Frage – die Suche eines passenden Berufes ist und man eine zunächst angezielte Wahl korrigieren muss, ob es – ein anderes grosses Lebensthema – die Frage nach dem richtigen Lebenspartner ist, dem eigenen Weg innerhalb der Paarbeziehung, oder ob es Fragen von politisch-gesellschaftlicher Tragweite sind: Entscheidungen zur Energieversorgung eines Landes etwa, oder zu einer effizienten, aber auch gerechtigkeitsorientierten Wirtschaftspolitik. In allen Fällen gerät der Umkehrweg zu einem tastenden Vorankommen "auf Sicht". Ein Ziel ist wohl im Auge, dieses ist aber notwendigerweise recht abstrakt gehalten ("erfüllender Beruf", "geglückte Partnerschaft", "bezahlbare und sichere Energieversorgung " usw.), so dass sich der konkrete Verlauf des Weges auf dieses Ziel hin nur im je neuen Bezug auf konkrete Situationen und Kontexte ergibt. Resümée bleibt: Umkehren in ethischer Hinsicht ist nicht wie ein Flugzeug, das wegen Spritmangels zum Ausgangsflughafen zurückkehrt. Umkehr ist weder Rückkehr noch einfach die Umprogrammierung auf einen neuen Zielflughafen, um im Bild der Fliegerei zu bleiben. Umkehr ist ein Prozess, und das heisst: Man weiss nicht so genau, wo man nachher "landet", was am Ende herauskommt. Man erhofft das Beste, man kommt aber nur stufenweise voran, und das bedeutet: Man geht ein Risiko ein. Risiken handhaben – das ruft wiederum die Ethik auf den Plan, und damit bin ich beim dritten Aspekt, der auf die Gefahr hinweist, dass theologische Umkehrrede zur Illusion wird, nämlich die eigentliche Aufgabe der Ethik.

Die eigentliche Aufgabe der Ethik

Wenn es richtig ist, dass Umkehr ein Prozess ist und der Ausgang dieses Prozesses nicht vorhersagbar, dann fängt Ethik eigentlich überhaupt erst an – weil man nämlich im konkreten Handlungsstrom nur Schritt für Schritt vorankommt und "auf Sicht fahren " muss, das heisst, man hat von Konflikt zu Konflikt zu entscheiden, wie es am besten weitergeht.12 Für die Ethik, auch für die theologische, beginnt die Arbeit also dann, wenn uns sakramental-juridische Verfahren und eschatologische Appelle bekannt gemacht sind – denn sie muss nun die "Mühen der Ebene " schultern und im Einzelnen ermitteln, wie sich der grosse Anspruch in konkrete, soziale Praxis übersetzt. Wie schwierig und naturgemäss umstritten das ist, zeigt sich etwa an den Auseinandersetzungen in der Bioethik: Heiligkeit des Lebens – was heisst das konkret, in jedem technologisch neuen Einzelfall …? Und in einer gewaltenteiligen, weltanschaulich pluralen Gesellschaft bedeutet der Umkehrruf einer einzelnen Religionsgemeinschaft nur eine von mehreren programmatischen Optionen, die miteinander abzugleichen sind. Was machen wir, wenn nicht nur die einen, sondern mehrere zum Umkehren aufrufen, aber leider in verschiedene Richtungen? Fragen, denen sich theologische Ethik nicht entziehen kann und die dazu führen, den Umkehrruf des christlichen Glaubens nicht weniger ernst zu nehmen, aber ihn doch als komplex und anspruchsvoll zu verstehen.

4. Umkehren – woher und wohin?

Resümieren wir die bisherigen Überlegungen und wagen daraus eine Schlussfolgerung. "Umkehr" scheint so etwas wie ein Formschema zu sein, das vom christlichen Glauben – in seiner biblischen Grundprägung – vorgegeben wird: Dieses Formschema beschreibt den Weg, um in ein neues Gottesverhältnis zu kommen, und fordert, dass ein in religiöser Sicht offenbar irreführender Weg verlassen werden soll. "Formschema" bedeutet: Es wird eine Art und Weise des Handelns beschrieben, vielleicht besser: die Art und Weise eines umfassenden Wandels – vom Alten ins Neue, von der Verblendung zum Heil.

Beschrieben wird aber daran viel mehr die Notwendigkeit eines solchen Wandlungsweges, als dass man von vornherein ausmachen könnte, worin sich dieser Wandel inhaltlich-thematisch ausdrückt. Und wie sollte es auch anders sein? Wenn Gottesglaube sich in der Wahrnehmung von Verantwortung für Umwelt und Mitwelt des Menschen ausdrückt, dann kann es angesichts sich stets verändernder sozialer und kultureller Kontexte und immer neuer Wissensstände keine ein für allemal feststehenden Umkehr- Fahrpläne und -Zielsetzungen geben. Die Vorgaben, die der Glaube macht, liegen auf einer übergeordneten Ebene: Heiligkeit des Lebens, Rettung und Befreiung, Rücksicht auf die Ausgeschlossenen usw. Was das jeweils konkret heisst, ist sehr interpretationsbedürftig und fallabhängig! Was aber könnte heute ein Kriterium für gelingende und richtige Umkehr sein, wenn man aufgrund der in einer normativ pluralen Moderne unvermeidbaren Konkurrenz um das "gute Leben" nicht mehr von vornherein bestimmte Werte und Handlungsweisen anbieten kann?

Reue und Wiedergeburt

Max Scheler, der Philosoph und Soziologe, versucht sich 1917 in seinem Aufsatz "Reue und Wiedergeburt "13 an einer Wiedergewinnung dieser klassischen moraltheologischen Kategorien: Reue, so Scheler, ist die Versöhnung mit sich selbst. Ganz in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik eines Wilhelm Dilthey gilt für ihn: Der Mensch steht in einem Sinnzusammenhang, ist von unterschiedlichen Identitätsentwürfen stets unter Spannung gesetzt. Das Geschehen der Erinnerung ist Bestandteil der Reue und wird für den Menschen unabdingbar für seine "Wiedergeburt", das heisst die Wiedererlangung einer sozialen Existenz in Identität mit sich selbst. Ziel ist ein Gesinnungswandel, den Scheler "Reue" nennt: "Die gewusste Geschichte macht uns frei vor der Macht der gelebten Geschichte."14

Nehmen wir diese wenigen Indizien eines Denkweges, den man natürlich noch gründlicher ausleuchten sollte. Aber dieses Denken enthält doch einige thematische Indizien, um mit dem Umkehr-Begriff heute etwas anzufangen. Umkehr ist mit Scheler vor allem zu begreifen als ein Weg, der bei der Perspektive des Subjekts ansetzt. Auf eine gelingende Weise eine Identität zu entwickeln angesichts der institutionellen, sozialen, kulturellen, der sinnhaften Spannungen, unter denen jede und jeder in einer pluralen Welt steht, das ist die Aufgabe. Scheler rekonstruiert diese Aufgabe mit den Kategorien von Reue und Wiedergeburt. Man könnte es auch als Umkehr beschreiben. Ich möchte im Folgenden gerne ein konkretes Feld benennen, bei dem diese Aufgabe wiederbegegnet.

Die eigene Identität finden

Heiner Bielefeldt, Menschenrechtssonderberichterstatter der Vereinten Nationen, hat bei einer Tagung in Freiburg i. Ü. beschrieben,15 wie in der internationalen Menschenrechtsdiskussion eine sukzessive menschenrechtliche Anerkennung freier Selbstbestimmung in Fragen sexueller Orientierung stattfindet. Der Begriff "Sexuelle Orientierung", der lange Zeit etwa im rechtlichen Umgang mit Homosexualität oder dem Wechsel des Geschlechts verwendet wur-de, wird mittlerweile ergänzt durch den Begriff der Gender-Identität. Interessant ist, dass damit die Doppelstruktur von freier Selbstbestimmung und Identität zu einem Thema wird. Für den Zusammenhang hier ist eines von Belang, nämlich der erkennbare Wechsel in der rechtlichen Hermeneutik, mit der Phänomene des Themas behandelt werden.

Noch in den 1990er-Jahren lag der Fokus der Rechtspolitik zunächst darauf, Straffreiheit zu erreichen, es ging um die Forderung nach Entkriminalisierung "unnatürlicher" Sexualität. Zunehmend setzte sich in der Zeit seitdem eine Entwicklung durch, die ganz anders formuliert, nämlich aus der Perspektive der selbst erfahrenen Identität der Betroffenen. Dann ist die Rede – wie es etwa der Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte der UNO tut – von der "Berichtigung" von Geburtsurkunden bei einem Geschlechtswechsel. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) spricht 2003 in einem Urteil zur Kostenerstattung solcher Massnahmen eben nicht mehr von "Geschlechts- Umwandlung", sondern von "transgenderreassignment ". Gender-Identität wird in diesem Kontext nicht biologistisch definiert; das Selbstverständnis der betroffenen Person ist entscheidend – das Recht zeichnet sich insofern als freiheitlich aus. Solche Freiheit ist aber nicht nur ein beliebiges Experimentieren ("Basteln"), sondern – über die Subjektperspektive – eben zurückgebunden an Fragen leibhaftig erfahrener Identität und leibhaft erfahrener Orientierung. Eine ethisch-moralische Aufgabe des Subjekts ist es dann, in Verantwortung für diese je individuell aufgegebene Leibhaftigkeit die eigene, als passend empfundene Identität zu "finden" – ein Rechtsanspruch, wie es auch das deutsche Bundesverfassungsgericht 2011 zu Artikel 2 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit / Recht auf Leben) formuliert. Der Wechsel der Rhetorik (Identität "finden" / "berichtigen" / "neuverteilen " – "anpassen") ist auch eine sinnhafte Wende: Es kommt darauf an, nach dem Massstab der eigenen Identitätssuche – ethisch würde man sagen: unter der Verantwortung für sich selbst – einen neuen Weg sexueller Identität zu suchen und ihn auch für sich und mit anderen zu leben. Es ist sicher für viele, die das betrifft, der Prozess einer "Wiedergeburt", wenn man mit Scheler spricht, oder eben: eine Umkehr.

Wie hier, so ist bei jeder Umkehr zu fragen: Gelingt ein solcher Wandel nicht nur deswegen, weil ich zwar einem Impuls folge, weil aber auch von der anderen Seite her etwas "zieht", das so attraktiv (= anziehend) ist, dass ich die Umkehr auch schaffe? In den Bahnen der bisherigen Überlegungen würde das heissen, theologisch gewendet: Tief in mir selbst vernehme ich so etwas wie einen Ruf, dem ich folgen kann, weil ich spüre, mich darin selbst noch einmal so neu entdecken zu können, dass anderes nicht mehr "ich" wäre. Wer an den inkarnierten, den Mensch gewordenen Gott glaubt, wer vielleicht, wie die Mystik, von der "Gottesgeburt im Menschen" spricht, wird den Versuch, zu sich selbst umzukehren, nicht leichtfertig abtun als eine selbstbezogene Bastelei fern der im Glauben wahrgenommenen Verantwortung. Rembrandt zeigt, wer auf den wartet, der diesen Weg zu Ende geht.16

Schlusswort

Moraltheologie zu lehren, erscheint mir immer noch als eine grosse Bürde, von der ich gar nicht weiss, ob ich sie tragen kann. Mir scheint, die Aufgabe heutiger Theologie besteht im Unterschied zu vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr auch darin, überhaupt erst den Boden zu bereiten, das Feld zu sichten, auf dem über Gott in dieser Welt nachgedacht werden kann. Das Religiöse ist heute in aller Munde, zugleich ist es etwas Fremdes, Exotisches, oft einfach Folklore. Für die Theologie – und wahrscheinlich hat man es auch dieser Vorlesung angemerkt – ergibt sich daraus ein Spagat: Sie muss stets hin- und herwechseln zwischen Innen und Aussen, zwischen Verständnishorizonten und Sinnsprachen, die erst einmal nicht religiös sind, und dem Anspruch des christlichen Offenbarungsglaubens, der immer neu hinein zu übersetzen ist in diese Sinnsprachen. 

 

 

11 Vgl. exemplarisch: Hanns- Joachim Meyer / Wieland Jäger: Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart. Berlin-Heidelberg 2003.

12 Vgl. Konrad Hilpert: Zentrale Fragen christlicher Ethik. Regensburg 2009, 30–41.

13 Max Weber: Reue und Wiedergeburt, in: Ders.: Vom Ewigen im Menschen (1921), Gesammelte Werke Bd. 5. Bonn 62006.

14 Ebd.

15 Die Beiträge dieser Tagung werden als Publikation demnächst verfügbar sein: Daniel Bogner / Cornelia Mügge (Hrsg.): Natur des Menschen. Brauchen die Menschenrechte ein Menschenbild? Freiburg-Fribourg 2015.

16 Dieser "anziehende", hier nur noch angedeutete Aspekt eines im theologischen Sinne konstruktiven Verständnisses von Umkehr wäre weiter zu vertiefen. Auf beeindruckende und für Praxisvollzüge hilfreiche Weise gelingt dies in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Bibel heute", Nr. 1/2015, hrsg. vom Katholischen Bibelwerk e.V. Stuttgart.

Daniel Bogner

Daniel Bogner

Prof. Dr. Daniel Bogner ist seit 2014 Professor für Moraltheologie und Theologische Ethik an der Universität Fribourg/ Schweiz. Er promovierte in Fundamentaltheologie und habilitierte in Münster in Sozialethik, war Referent für Menschenrechtsfragen im Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz.