«Nun wusste ich zwar nicht, aber ahnte, dass die Stunden zwischen sieben und zehn Uhr morgens die einzigen sind, in denen die Iren zur Einsilbigkeit neigen ...» Zu dieser Erkenntnis kommt Heinrich Böll auf seiner Irlandreise im Jahre 1954, nachdem die Menschen auf seine vielen Fragen lediglich mit einem kurzen «Sorry» antworten. (Heinrich Böll, Irisches Tagebuch)
Meinen irischen Vorfahren habe ich vielleicht meine eigene frühmorgendliche Wortkargheit zu verdanken. Persönlich denke ich, dass uns allen Zeiten der Einsilbigkeit oder gar Stunden des Schweigens, auch tagsüber, ganz guttun würden. Wie oft habe ich schon in der Adventszeit «Meditationen» anhören müssen, in denen die Stille mit ausschweifenden Sätzen zerredet wurde. Manchmal frage ich mich, warum wir es nicht schaffen, eine Zeit der Stille mit weniger als zwei Sätzen einzuleiten. Jetzt, wo sich die katholische Kirche neu auf einen synodalen Weg begibt, werden sich einige schon lautstark mit ihren Anliegen gemeldet haben, um sich Gehör zu verschaffen.
Papst Franziskus möchte mit uns jedoch einen Weg gehen, wo wir zuerst aufeinander hören. Er möchte mit uns ein neues «Aufeinanderhören» einüben. «Lautstarke» könnten für einmal eine Zeit lang still werden, ohne dass man ihnen den Mund verbieten müsste. Jenen, die sich oft leise und wortkarg ausdrücken, könnte zu einer neuen, hörbaren Stimme verholfen werden, denn der Schrei der Armen äussert sich manchmal auch in einem leisen, wortlosen Wimmern.
An das erste Wort «Höre» im Prolog der Benediktsregel erinnerte ich mich, als ich im Vorbereitungsdokument für eine synodale Kirche auf einen der ersten Schritte für diesen Weg gestossen bin: «Das Zuhören ist der erste Schritt.» Mir scheint dieser Schritt ein ganz wesentlicher Punkt zu sein, um auf diesem synodalen Weg vorwärts zu kommen. Doch zum Zuhören gehört auch das Ausredenlassen. Zugegeben, das fällt auch mir manchmal schwer. Zum Zuhören auf dem synodalen Weg gehört das Anhören der Nächsten und des Nächsten, ohne gleich eine fertig formulierte Entgegnung aussprechen zu müssen.
Eine Frage beschäftigt mich im erwähnten Vorbereitungsdokument jedoch ganz besonders: «Wem gegenüber hat ihre Teilkirche eine ‹Bringschuld des Zuhörens›? Wie wird den Laien, besonders den Jugendlichen und den Frauen, zugehört? Wie wird der Beitrag der gottgeweihten Frauen und Männer integriert? Welchen Raum hat die Stimme der Minderheiten, der Ausge-
stossenen und der Ausgeschlossenen? Gelingt es, Vorurteile und Stereotypen zu identifizieren, die das Zuhören behindern? Wie wird auf den sozialen und kulturellen Kontext gehört, in dem sie leben?» (Vorbereitungsdokument der 16. Ordentlichen Generalverammlung der Bischofssynode, 7. September 2021).
Ich hoffe es wird mir persönlich gelingen, mich auf diesen Weg des Zuhörens einzulassen. Sollte ich dennoch mehr sprechen als zuhören, bin ich froh, wenn mich Menschen an meine frühmorgendliche Einsilbigkeit erinnern.
Jürg Stuker