Kirchliche Sprache

Die 42-zeilige Gutenberg-Bibel, gedruckt in Mainz um 1455. (Quelle: Faksimile der New York Public Library, 2009; Bild: Wikipedia)

 

Die ersten Wochen waren mühsam – bis sie buchstabieren, Worte und Sätze aus den geschriebenen Zeichen aufnehmen und wiedergeben konnte. Aber dann, als sie den Schritt in die Welt der Sprache hinein getan hatte, wuchs sie weit über ihre Körpergrösse hinaus. Sie überstieg den Zaun ihrer kleinen Lebenswelt, neue Zeiten und Räume wurden ihr zugänglich.

Die Lust an der Sprache, der gesprochenen wie der schriftlichen, begleitete sie fortan: Als Jugendliche auf der Theaterbühne, im Studium der Theologie und am Rednerpult, wenn sie als Politikerin das Wort ergriff. In der Arbeit an der Grammatik zeigte sich der Theologiestudentin das Geheimnis der Sprache, der Fall der Laute, die Reihung und Ordnung der Worte. Die Muttersprache trat in Beziehung zum Lateinischen, Griechischen und Hebräischen. Fremde Zeiten und Kontinente wurden zugänglich, ja, durch die Sprache schien ihr eine Annäherung an das Unfassbare möglich.

Das Haus der Sprache erlaubte ihr die Entgrenzung ihrer Fantasie, die Freilassung ihrer Neugier, den Flug ihrer Sehnsüchte und die Provokation ihrer Vorstellung. Indem sie mit Hingabe las und schrieb und sich mit Haut und Haaren auf die Sprache einliess, betrat sie eine Brücke, die sie über den Graben der Zeit führte. Ihr wurde bewusst, dass der Urlaut der biblischen Schriften zwar im Wind der Zeit verflogen war, deren Botschaft aber die Menschen damals wie heute anrührte und umtrieb.

Im Musiktheater überfiel die Opernliebhaberin – wie ein Wegelagerer – schon so manchmal der Gedanke, dass man an diesem Ort mehr über die nicht zur Ruhe kommende Frage nach Gott erfahren würde als in den meisten Texten der Theologie, die kaum die breitgefächerten Erfahrungen der Menschen atmeten. Ganz anders auf der Bühne, wo geliebt und gestorben, gelitten und gehofft, geglaubt und gezweifelt, mit Gott gehadert und gerungen wird, wo man nach dem Woher und Wohin und nach dem Warum angesichts von Tod, Schuld und Not fragt. Eben genauso wie im richtigen Leben und eben genauso wie in Gottes wildem Libretto, das man Bibel nennt. Suchend und immer wieder von vorne beginnend wird auf der Bühne versucht, dem Unerklärlichen auf die Spur zu kommen. Die aufreibenden Geschichten von Schuld und Verrat, von der Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, um die es auf den Brettern der Welt und im Buch der Bücher geht, durchkreuzen jedes theologische Pathos und jede ausgefeilte Rede von Gott. Angesichts der verzweigten und oft irritierenden Windungen, die diese Geschichten nehmen, kann es schon vorkommen, dass es der Theologin buchstäblich die Sprache verschlägt.

Béatrice Acklin Zimmermann*

 

* Dr. habil. Béatrice Acklin Zimmermann ist Theologin und Politikerin. Sie publiziert und referiert regelmässig zu theologisch-philosophischen und gesellschaftspolitischen Themen. Nach ihrem Studium der evangelischen und katholischen Theologie und der politischen Wissenschaften wurde sie an der Universität Freiburg i. Ü. promoviert und habilitiert.