Das Thema «Judentum - Christentum» im Lehrplan 21

Endlich ist ein grosses wissenschaftliches Desiderat in Erfüllung gegangen, nämlich eine systematische und religionsdidaktische Reflexion über den Themenbereich «Judentum-Christentum» im Hinblick auf die neuen religiösen Unterrichtsfächer Ethik, Religionen, Gemeinschaft oder ähnlich. Der bereits pensionierte Lehrerbildner Walter Weibel widmete sein «otium cum dignitate» einer Dissertation über die Geschichte des Judentums in der Schweiz, über den jüdisch-christlichen Dialog und vor allem die Frage, wie dieses Thema im Lehrplan 21 zu verorten ist.1 Während in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg der «Lernprozess Christen Juden» (Günter Biemer) und die «Holocaust-Education» zu den unabdingbaren Topthemen im Unterricht gehören – und dies in Deutschland zu Recht –, ist es in der Schweiz ein «Orchideenthema» geblieben, das nur wenige angegangen haben, sodass von einer «Israelvergessenheit der Christen» gesprochen werden muss.

Die Inhalte der Dissertation

Die Dissertation «In Begegnung lernen», erstellt bei Prof. Dr. Verena Lenzen am Institut für Jüdisch- Christliche Forschung in Luzern, möchte den noch kaum realisierten Dialog zwischen Christen und Juden an Schweizer Schulen initiieren bzw. vertiefen. Sie gliedert sich nach der Einleitung (Kap. 1) in vier vorbereitende Kapitel, die gleichsam ein Basiswissen über das Judentum bereitstellen, und zwar: Kap. 2: Was man vom Judentum wissen muss; Kap. 3: Geschichte des Judentums in der Schweiz; Kap. 4: «Nostra aetate» und die Folgen; Kap. 5: Religionsunterricht und Judentum. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dann auf den Kapiteln 6–8: eine Analyse früherer Religionslehrbücher und der Lehrpläne im Fachbereich Ethik und Religionen der Volksschule (Kap. 6), ein Vorschlag für verbindliche Lernziele, Inhalte und Kompetenzen im Lehrplan 21 (Kap. 7) und weitere Unterrichtsvorschläge zum christlich-jüdischen Dia-log in schweizerischen Schulklassen (Kap. 8). Im 56-seitigen Anhang finden sich eine Zeittafel jüdischer Geschichte, die wichtigsten Festtage des Judentums, ein Glossar jüdischer Fachbegriffe sowie ein Literatur- und Internetverzeichnis.

Das Judentum als Lebensform

Der Verfasser begreift Judentum und Judesein nicht als Gesetzesreligion, sondern vielmehr als eine «Lebensform» (29 f.), die von Geschichte und Traditionen – vor allem der Thora – ebenso geprägt ist wie vom Festtagszyklus, der die zentrale Gottesbeziehung immer wieder zum Ausdruck bringt. Zu dieser Lebensform gehören die Speisegesetze und die Reinheitsgebote, das Schächten und weitere kulturell-religiöse Ausformungen. Der Verfasser ist sich der lebendigen Pluralität des Judentums bewusst und unterscheidet verschiedene «Strömungen» wie das orthodoxe Judentum, das konservative Judentum, den «Reconstructionism», während das liberale, das feministische und mystische Judentum (Chassidismus) etwas weniger ausgeführt werden. Aufschlussreich ist die Kurzgeschichte der Jüdinnen und Juden in der Schweiz; es fehlt nicht an Erklärungen der antijüdischen Vorurteile, der Abdrängung der Juden ins Surbtal vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, bis dann die Niederlassungsfreiheit der Juden im Kanton Aargau und in der Schweiz endlich gewährt wurde. Die Dramatik der im Zweiten Weltkrieg abgewiesenen Flüchtlinge bleibt nicht unerwähnt, und zahlreiche jüdische Persönlichkeiten aus dem deutschen Sprachraum werden gewürdigt. Die bekannten Seelisberger Thesen (1947) kommen ausführlich zu Wort, weiter «Nostra Aetate» Nr. 4 mit seiner Folgegeschichte bei den nachkonziliaren Päpsten und in den offiziellen Kommissionen. Die jüdische (liberale) Antwort (Dabru emet, 2000) auf die Selbstkorrektur der katholischen Einstellung zum Judentum wird erläutert (107). Schlusspunkt bildet der 2011 eingeführte «Dies judaicus» am zweiten Fastensonntag.

Darstellung, Dialog und Patzer

Diese sich seit dem letzten Weltkrieg zum Guten gewendete jüdisch-christliche Geschichte bildet sich in den Unterrichtslehrbüchern ab, die seit den 1970er- Jahren deutlich weniger antijüdische Vorurteile enthalten als in vor dem Weltkrieg verfassten Lehrbüchern und die das Judesein Jesu und der Jünger nicht mehr unterschlagen. Wenn man von den Patzern Benedikts XVI. betreffend Fürbitten im alten Ritus und der Reintegration von Bischof Williams absieht, kann von guten jüdisch-christlichen Beziehungen gesprochen werden. Kardinal Kurt Koch betont dies immer wieder. Was noch fehlt, ist das mangelhafte Vorrücken des offiziellen Dialogs und seiner Ergebnisse an das Bewusstsein der kirchlichen Basis, wozu auch Erwachsenenbildung, Religionsunterricht und Katechese gehören. Trotz zahlreicher Christlich-Jüdischer Arbeitsgemeinschaften in den grösseren Städten der Schweiz, trotz vier universitärer Forschungsinstitute in Bern, Basel, Lausanne und Luzern, trotz des Zürcher Lehrhauses und des Jüdischen Museums in Basel, kommen antijüdische Anschläge (z. B. Friedhofschändungen) nicht zum Verstummen. Was also ist zu tun?

Die Vorschläge von Walter Weibel

Walter Weibel schlägt ein systematischeres und interdisziplinäres Vorgehen in Schule (Geschichts- und Deutschunterricht) und im neuen Unterrichtsfach «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» vor. Denn dort kommt man bisher über wenige Fragmente, Unterrichtsbausteine und allgemeine wertschätzende Kompetenzen und Grundhaltungen nicht hinaus. Er möchte im Anschluss an Peter Fiedler einschlägige Grundbegriffe und ein Grundwissen im Unterricht erarbeiten lassen, geschichtliche Perspektiven jüdischen Lebens in der Schweiz einbringen und sowohl Gemeinsamkeiten (Ähnlichkeiten) wie auch Unterschiede zwischen Judentum und Christentum stärker profilieren. Die jüdischen Wurzeln des Christentums in Geschichte, Theologie und Liturgie müssten deutlicher und bekannter werden, kurz das Verdanktsein des Christentums gegenüber dem Judentum sollte Hass und Feindschaft unterlaufen. Zwei Schwierigkeiten werden bleiben: a) die Tatsache, dass nur mehr wenige Jüdinnen und Juden in der Schweiz sichtbar sind, und wenn, dann vorwiegend orthodoxe Vertreterinnen und Vertreter dieser Religion; b) die oft gradlinige Verlängerung des israelisch-palästinensischen Konfliktes auf Unschuldige hier und heute.

Besonders ertragreich erscheint Weibel ein dialogisches Lernen in der Begegnung zu sein, weshalb der Autor neben Themen wie Menschenrechten, Spielregeln des Zusammenlebens, Umgang mit Fremdsein, Konflikten, Toleranz, Nächsten- und Feindesliebe auch didaktische Impulse gibt wie Interviews mit Überlebenden, Exkursionen zu Spuren des Judentums heute, Museumspädagogik, Unterrichtsprojekte wie die Aktion Stolperstein in Deutschland, die Berücksichtigung von Quellen aus dem Internet und vieles mehr.

Man darf dem Verfasser dankbar sein, ein so bedeutsames Thema für die Christen, für das Zusammenleben der Religionen und der Menschen überhaupt in einer multikulturellen Welt mit weitem Blick für die Schule in der Schweiz angegangen zu haben. Die subtilen Lehrplananalysen der kantonal verschiedenen Lehrpläne beeindrucken die Lesenden ebenso wie die klare pädagogische Ansicht von schulischem Lernen in Verantwortung vor der jüdisch-christlichen Geschichte. 

1 Walter Weibel: In Begeg-nung lernen. Der jüdisch-christliche Dialog in der Er ziehung (= Forum Christen und Juden, Bd 9). (LIT-Ver-lag) Münster-Berlin-Wien- Zürich 2012, 305 S. Walter Weibel erhielt 2013 den Preis der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft Sektion Bern für die hier besprochene herausragende Arbeit zum Dialog zwischen Christentum und Judentum.

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.