Der Jüdisch-Christliche Dialog in der Schweiz und in Israel / Palästina

Aus Anlass des Doppeljubiläums 50 Jahre Konzilserklärung «Nostra Aetate» und 25 Jahre Jüdisch/Römisch-katholische Gesprächskommission veranstaltete das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung an der Universität Luzern am 4. Mai 2015 ein stark beachtetes internationales Symposium. Kernpunkt dieser Tagung war die intensive Auseinandersetzung mit der bahnbrechenden Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils «Nostra Aetate – über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen». Am 28. Oktober 1965 leitete eine einzige Seite über das Judentum in der Konzilserklärung «Nostra Aetate» eine revolutionäre Wende ein. Zum ersten Mal bekannte sich die katholische Kirche zu den jüdischen Wurzeln des Christentums, verurteilte jede Form von Antijudaismus und Antisemitismus und forderte zur gegenseitigen Achtung wie zum geschwisterlichen Gespräch auf.

Die Institutsleiterin Prof. Dr. Verena Lenzen erklärte in ihren Begrüssungsworten: «In der Konfrontation mit einem weltweit wachsenden Antisemitismus, mit religiösem Fundamentalismus und Terrorismus erscheint das solidarische Engagement der Religionen für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben umso notwendiger und wird zugleich auf eine harte Probe gestellt.» Der Dekan der Theologischen Fakultät, Prof. Dr. Martin Mark, zeigte in seinem eindrücklichen Grusswort die Entwicklung des Verhältnisses von Judentum und Christentum von Feindschaft zum geschwisterlichen Gespräch auf. Auch Bischof Dr. Charles Morerod aus Freiburg sieht den jüdisch-christlichen Dialog als Bereicherung an. Dr. Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), bezeichnete in seinem Grusswort die Konzilserklärung «Nostra Aetate» als Meilenstein für den dauerhaften Dialog zwischen Juden und Christen und betonte: «Das in den letzten 50 Jahren Erreichte, und es ist nicht wenig, soll anerkannt und hervorgehoben werden, gleichzeitig sollen die Aufgaben, die heute vor uns stehen, benannt und die Motivation gestärkt werden, sie auch anzupacken. Die bis heute wichtigste Errungenschaft, die ‹Nostra Aetate› nachhaltig geschaffen hat, ist die Institutionalisierung der Beziehungen zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem jüdischen Volk, auch hier bei uns in der Schweiz. So pflegen die Leitungspersonen des SIG und der Schweizer Bischofskonferenz heute ein regelmässiges Gespräch.» Die konsequente Ablehnung des Antisemitismus und der gegenseitige Respekt bildeten die Grundlagen des Dialogs, zu dem permanent Sorge getragen werden müsse. Denn durch die Ereignisse der vergangenen Monate hätte sich für die Juden in Europa, so auch hier in der Schweiz, etwas geändert. Und so mahnte Herbert Winter am Schluss seines Grusswortes: «Verbale und physische Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen in Europa und auch hierzulande, insbesondere die Attentate in Brüssel, Paris und in Kopenhagen, denen auch schon andere in früheren Jahren vorausgegangen waren, haben das Gefühl eines existentiellen Unwohlseins ausgelöst. Manche haben das seltsame Gefühl eines Déjà-vu. All dies macht uns Sorgen, bereitet vielen Angst. Unsere Geschichte hat uns gelehrt, wachsam zu bleiben, auch wenn es uns gut geht. Angesichts weltweiter Krisen, deren Ursachen komplex sind und deren Lösung nicht von heute auf morgen auf dem Tablett präsentiert werden können, sind Minderheiten, und die jüdische erfahrungsgemäss in besonderem Masse, Verschwörungstheorien ausgesetzt und dazu geeignet, als Sündenböcke herzuhalten. Wohin das führen kann, wissen wir alle.»

Von Seelisberg bis Rom

In ihrem Vortrag zeichnete Verena Lenzen die Entwicklung des jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz auf, der gleich nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund der Shoah mit der Gründung der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Antisemitismus begann und auf die Initiative von jüdischen Flüchtlingen und protestantischen Pfarrern, wie dem Flüchtlingspfarrer Paul Vogt, entstand. Das einschneidende Ereignis war aber die internationale Konferenz der Christen und Juden (auch «Emergency Conference on Antisemitism» genannt) vom 30. Juli bis 5. August 1947 in Seelisberg. Ihr Zweck war die Untersuchung des Antisemitismus und führte zur Gründung des Internationalen Rats der Christen und Juden. Unter den 65 Teilnehmenden aus 19 Ländern waren 28 Juden, 23 Protestanten und 8 Katholiken. Die christlichen Konferenzteilnehmer formulierten in 10 Thesen die Grundlagen für ein erneuertes und vorurteilsloses Verhältnis von Christen gegenüber dem Judentum.

Die «Ten Points of Seelisberg» beeinflussten entscheidend die Konzilserklärung «Nostra Aetate», die einen wesentlichen Perspektivenwechsel auslöste. Der Artikel 4 bringt das Thema, um dessentwillen das Dokument entstand: das Verhältnis von Judentum und Christentum. Der Glaube, die Erwählung und die Berufung der Kirche haben in Israel ihren Ursprung und Anfang. Israel ist die bleibende Wurzel der Kirche aus Juden und Heiden. Alle Christgläubigen sind dem Glauben nach als Kinder Abrahams in die Berufung des Patriarchen eingeschlossen. Die Kirche ist nicht nur durch den Alten Bund und das Alte Testament, sondern auch durch die jüdische Abstammung Jesu, Marias, der Apostel und der meisten der ersten Jünger mit dem jüdischen Volk verbunden. Auf Grund des gemeinsamen geistlichen Erbes ruft das Konzil auf, das brüderliche Gespräch und die gegenseitige Kenntnis und Achtung zu fördern. Entschieden verurteilt die Kirche alle Formen von Rassismus und Antisemitismus.1 Ab 1965 wurde in der katholischen Kirche ein neues Kapitel im Verhältnis Judentum-Christentum eröffnet, das durch Papst Johannes Paul II. eindrücklich gefördert wurde.

Was bedeutet «Nostra Aetate» in unserer Zeit, in der aktuellen Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts? So fragte Verena Lenzen und meinte: «Gegenwärtig sind wir konfrontiert mit dramatischen Migranten- und Flüchtlingsproblemen. Wir sind betroffen von einem religiösen Fundamentalismus, Terrorismus und einem grassierenden Antisemitismus. Siebzig Jahren nach der Seelisberg-Konferenz bleibt der Abwehrkampf gegen alle Formen von Antijudaismus und Antisemitismus eine grundsätzliche Verpflichtung für Kirche und Gesellschaft und eine Basis der christlich-jüdischen Zusammenarbeit. Unter den Zeichen unserer Zeit bleiben die Ziele der theologischen Aufklärung von antijüdischen Vorurteilen sowie der Wissensvermittlung über das Judentum und die jüdisch-christliche Dialoggeschichte sowie andere Religionen in Schulen, Universitäten, Gemeinden, Medien und politischen Institutionen.»

Einen jüdischen Standpunkt zum Dialog brachte Rabbiner Dr. David Bollag ein. Er betonte gleich zu Beginn, dass es allen Grund zum Feiern dieses fünfzigjährigen Jubiläums gäbe, denn «Nostra Aetate» sei eine «Art Revolution des Verhältnisses von Christentum und Judentum». Er zeigte, wie Denker der jüdischen Tradition das Auserwähltsein für alle drei monotheistischen Religionen geltend machten. Nach Raw Kook und Maimonides habe das Judentum die universale Aufgabe, die Einsicht über den einzigen Gott der Menschheit kundzutun. Dies bedeute jedoch nicht den Übertritt aller Menschen zum Judentum. Die Integrität von Christentum und Islam sei gewahrt, da sie Teil des göttlichen Plans seien.

Tag des Judentums in der Schweiz

Dr. Christian Rutishauser, Provinzial der Schweizer Jesuiten, sprach über die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung des Tags des Judentums in der Schweiz.2 Der 2011 eingeführte Tag ist eine bedeutende Aktivität der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission. Er wird jeweils am zweiten Fastensonntag als «lebendiges Bewusstsein um das gemeinsame Erbe von Judentum und Christentum» in der Liturgie gefeiert und durch Begegnungen und kulturelle Veranstaltungen gefördert.

Interreligiöse Begegnung in Israel/Palästina

Dass der jüdisch-christliche Dialog nicht nur in Europa, sondern auch in Israel stattfindet und unmittelbare Auswirkungen hat, verdeutlichten am Nachmittag verschiedene Vorträge. So berichtete Abt Dr. Gregory Collins von der Benediktinerabtei «Dormitio» in Jerusalem, dass sein Kloster in einer dreifachen Beziehung zu den Menschen im Heiligen Land steht: einerseits durch die deutschsprachigen Wallfahrten und das ökumenische Studienjahr, anderseits durch die wichtige Dialogpflege zwischen Juden, Christen und Muslimen. So erklärte der aus Dublin stammende Benediktiner, was Leben im Heiligen Land bedeutet und wie die harte Realität der interreligiösen Annäherung im Schatten des Nahostkonflikts aussieht. Abt Gregory versteht sein Leben in Jerusalem als Weg, «das himmlische Jerusalem zu erreichen». In Erinnerung an die Konzilserklärung «Nostra Aetate» wird jedes zweite Jahr am 28. Oktober der «Mount Zion Award» von der «Mount Zion Foundation», die 1986 gegründet wurde, verliehen. Es ist ein Friedenspreis an Personen oder Institutionen in Israel, die in der kulturellen und interreligiösen Verständigung von Judentum, Christentum und Islam und im Friedensprozess in Nahost Verdienste erworben haben. Drei Preisträgerinnen des «Mount Zion Award» berichteten auf eindrückliche Art von ihrer Arbeit. Yisca Harani erzählte, wie sie als jüdische Israelin Wissen über das Christentum an Schülerinnen und Schüler und israelische Reiseführer vermittelt. Die bekannte palästinensische Buchautorin, Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Prof. Dr. Sumaya Farhat-Naser berichtete auf berührende Weise, mit welchen Schwierigkeiten sie als palästinensische Christin lebe, nie den Mut aufgebe und andere Frauen zu Emanzipation und Bildung ermutigen möchte. Sr. Monika Düllmann, Direktorin des «French Hospice St. Louis» in Jerusalem, bewegte alle Tagungsteilnehmenden mit ihren Worten, wie sie und ihre Mitarbeitenden – katholische Ordensschwestern, jüdische und palästinensische Ärzte und Angestellte – kranke und alte Menschen aller Religionen pflegen und damit die Brücken zur Verständigung offen halten. Die Freiheit zur Begegnung macht den Dialog des Lebens aus. 

Walter Weibel

Dr. phil. et Dr. theol. Walter Weibel war nach dem Studium der Pädagogik in der Lehrerbildung und in der Schulentwicklung tätig.
Nach der Pensionierung als Regionalsekretär der Erziehungsdirektorenkonferenz der Nordwestschweiz studierte er an der Universität Luzern Theologie. Er ist nun ehrenamtlich als Altersheimseelsorger in Hitzkirch tätig.