Als Schweizer Christen sich einsetzten

Flüchtlingsarbeit eines evangelischen Hilfswerks im Dritten Reich

In einem monumentalen Werk beschreibt Heinrich Rusterholz das "Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland" von 1937 bis 1947. Herz und Seele dieses Liebeswerks waren Paul Vogt als einsatzfreudiger Leiter und Karl Barth als theologischer Inspirator.

 Der Titel des angezeigten Buches "… als ob unseres Nachbars Haus nicht in Flammen stünde" ist einem Memorandum entnommen, das Barth 1937 im Auftrag des noch jungen Hilfswerks verfasst hatte. Der Appell versuchte, die reformierten Schweizer Pfarrer von ihren eigenen Sorgen abzulenken und sie für die Unterstützung der Bekennenden Kirche Deutschlands zu sensibilisieren. Diese engagierte sich gegen den nazistischen Staat und die nazihörige Gegenkirche, die sogenannten Deutschen Christen.

Mehr als 700 Schweizer Kirchgemeinden bekundeten ihre Zustimmung zu Barths Memorandum. In der Folge unterstützten sie das neue "Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland". Das Hilfswerk pflegte persönliche Kontakte zu Bekenntnis-Christen in Deutschland und lud im Rahmen seiner Freiplatzaktion Theologen und Laien zu Studien- und Erholungszwecken in die Schweiz ein. Damit war aber bald Schluss. Denn die deutschen Bekenntnis- Christen sahen sich in ihrer Heimat Zwangsmassnahmen wie Ausreiseverbot oder Inhaftierung ausgesetzt. Jetzt musste das Hilfswerk seine Tätigkeit auf die Flüchtlingsarbeit in der Schweiz konzentrieren. Seine Fürsorge galt zunächst Christen und den zum Christentum konvertierten Juden. Doch die Geldbeschaffung erwies sich als schwierig. Deshalb erfand das Hilfswerk den "Flüchtlingsbatzen" – einen freiwilligen monatlichen Beitrag "vieler kleiner Leute" an den Lebensunterhalt der zu betreuenden Emigranten. Als "Dankesgruss" lieferte das Periodikum "Nicht fürchten ist der Harnisch" Informationen an die Spendenden.

Praxisnahe Partnerschaft

1943 verpflichtete sich das Hilfswerk unter ausdrücklichem Verzicht auf Missionierung zur Fürsorge für weitere 300 Flüchtlinge jüdischer Konfession. Dieser Entscheid zugunsten der vor Deportation geretteten Menschen war zugleich eine prophetisch-aufrüttelnde Kritik an der "Das-Boot-ist- voll-Politik" des Bundesrats und praxisnahe Partnerschaft mit den Behörden, um wenigstens einem Teil der Flüchtlinge Gastrecht zu ermöglichen.

Zur Bewältigung der gestiegenen Arbeitslast wurde ein vollamtliches Flüchtlingspfarramt errichtet, das Paul Vogt übernahm. Bis dahin hatte er das Hilfswerk neben seiner Gemeindearbeit in Zürich Seebach geleitet. Zwei Jahre nach Kriegsende konnte das Pfarramt aufgehoben und das Hilfswerk ins Heks überführt werden.

Von Bedeutung war ferner die Verbindung von caritativem Wirken mit theologischer Arbeit, in deren Zentrum die acht gut besuchten Wipkinger Tagungen über theologische Grundsatzfragen standen. An einer derselben kam es – nicht erstaunlich angesichts des Engagements zugunsten der Juden – zu einer Debatte darüber, wie Johannes 4,22 ("Das Heil kommt von den Juden") auszulegen sei. Während Emil Brunner in der Tradition des christlichen Antijudaismus monierte, Joh 4,22 gehöre der Vergangenheit an ("kam" statt "kommt"), interpretierte Karl Barth im Bemühen um einen theologischen Neuansatz des Verhältnisses von Christen zu Juden den Bibeltext als gegenwärtiges Geschehen. Über diese Kontroverse wäre es im Hilfswerk beinahe zu einem Bruch gekommen.

Forschungslücke geschlossen

Das Buch von Heinrich Rusterholz basiert auf ebenso umfangreichen wie sorgfältigen Recherchen. Eine Vielzahl von Dokumenten ist in den Text ein gearbeitet. Dazu bemerkt die "NZZ": "Der Gefahr, dass man sich beim Lesen darin verliert, steht der Gewinn an Unmittelbarkeit gegenüber." Fakt ist, dass mit dieser Publikation eine Forschungslücke hinsichtlich der protestantischen Flüchtlingshilfe während der nationalsozialistischen Bedrohung geschlossen werden konnte. Rusterholz’ detaillierte Abhandlung ergänzt in idealer Weise das Standardwerk "Rationierte Menschlichkeit" von Hermann Kocher über Flüchtlingsnot und Flüchtlingspolitik der Schweiz (1933–1948) sowie die Biographie von Marianne Jehle über Adolf Keller mit dem Hinweis auf die von ihm und dem Evangelischen Kirchenbund ge leitete "Europäische Zentralstelle für kirchliche Hilfsaktionen" (1919–1939) – Fakten, die im Flüchtlingsbericht der Bergier- Kommission unterschlagen worden sind.

Als Lichtgestalt (ohne dass sie überhöht würde) taucht bei der Lektüre die Person von Paul Vogt auf, der sich mit immensem Fleiss, Mut und Ausdauer für die Verfolgten eingesetzt und mit drängender Rhetorik das reformierte Kirchenvolk aufgerüttelt hat. Obwohl sich Vogt hinsichtlich Persönlichkeitsstruktur und Lebensumständen stark von Dietrich Bonhoeffer unterschied, waren sich die beiden Theologen darin ähnlich, dass sie aus einem tiefen christlichen Glaubensfundus heraus Rechenschaft über ihr engagiertes Handeln ablegten.

Heinrich Rusterholz: "… als ob unseres Nachbars Haus nicht in Flammen stünde". Paul Vogt, Karl Barth und das Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland 1937–1947 . TVZ-Verlag, Zürich 2015. 712 Seiten, Fr. 72.–.

 

 

Walter Wolf

Walter Wolf ist Historiker und Journalist.