Das neue Paradigma «Ethik, Religionen, Gemeinschaft»*

Anzuzeigen ist ein "Werkstattbericht" (15) bzw. das Resultat eines gut zehnjährigen "kollegialen Prozesses" des Fachdidaktikforums "Ethik, Religionen, Kultur", das sich aus den Lehrenden an den 2002 neu gegründeten Pädagogischen Hochschulen der Schweiz zusammensetzt. Es ist noch keine abschliessende systematische Didaktik des neuen Faches, das an die Stelle des bisherigen (staatlich verantworteten) Schulfachs "Biblische Geschichte" bzw. "Bibel- und Lebenskunde" tritt, sondern eine Zwischenbilanz auf dem Weg zu einer anwendungsorientierten interdisziplinären Fachdidaktik. Es geht also nicht um den Religionsunterricht der Kirchen. Denn die Kirchen können weiterhin, je nach kantonaler Regelung, ihren konfessionellen oder ökumenischen Unterricht in der Schule halten, was durch den Lehrplan 21 (LP 21) nicht eingeschränkt wird. Ausgangspunkt für das Buch sind Überlegungen aus dem LP 21, der für die 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantone leitend, wenn auch nicht verpflichtend geworden ist.

Thematische Schwerpunkte

Das stattliche Buch – auch als E-Book erhältlich – ist in vier Teile strukturiert: Teil I (17–91) thematisiert das neue Fach "Ethik, Religionen, Gemeinschaft" als integrierendes Moment der Allgemeinbildung. Während dieses im Primarbereich in den grossen Sachbereich "Natur, Mensch, Gesellschaft" integriert ist, soll es in der Oberstufe ein eigenes Fach werden. Grosse Beachtung findet die Subjektorientierung dieses Unterrichts, die dann auch das Recht auf Religionsfreiheit beachtet sowie die von der UNO 1989 anerkannten Kinderrechte. Christian Cebulj, der neue Rektor der Theologischen Hochschule in Chur, situiert das neue Fach im Kontext weiterer religionsunterrichtlicher Konzeptionen in Europa (siehe dazu auch die Aufsätze in Teil III.)

Teil II (92–172) befasst sich mit dem Beitrag des neuen Faches zur individuellen und sozialen Entwicklung und religiösen Bildung der Kinder und Jugendlichen: konkret mit Identitätsbildung, Sozialkompetenz, Moralischer Entwicklung (Lawrence Kohlberg), religiösen Entwicklungstheorien, religiöser Sozialisation, mit den empirischen Befunden jugendlicher Religiosität, wobei sowohl die 10 Prozent "hoch religiösen Jugendlichen" wie die "dezidiert nicht religiösen Jugendlichen" (145) aussen vor bleiben, und schliesslich "Rolle und Professionalität" der Lehrpersonen. Besonders interessant sind die Bemerkungen zum "Moralisieren" im "bekenntnisunabhängigen" Unterricht (Andreas Studer). Der Autor setzt manipulierenden, instrumentalisierenden Unterricht gegen freiheitliche Auseinandersetzungen.

Teil III (173–294) reflektiert das neue Fach "Ethik, Religionen, Gemeinschaft" im Zusammenhang mit dem LP 21. Dieses Steuerungsinstrument für die deutsch- und mehrsprachigen Kantone beschreibt die Pflicht- und Wahlpflichtbereiche der obligatorischen Schulzeit und könnte die in Kantonshoheit stehenden Schulen in der Schweiz vergleichbarer und kompatibler machen. Doch sind solche Harmonisierungstendenzen in der Schweiz nicht überall willkommen, aber es wäre eine Chance, die früheren Schulfächer in Fachbereiche neu zu strukturieren. Wiederholt wird "Mündigkeit" als Globalziel aller Kompetenzen genannt: "Mündigkeit als Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit als Ziel schulischer Bildung" (103). Kuno Schmid, eben geschmückt mit dem "Worlddidac Award 2014", zeichnet die neue Didaktik in den Spannungsfeldern von Schülerzentrierung, Individualisierung, Gemeinschaftsförderung, Lehrplanorientierung und Lehrerzentrierung, woraus ein dynamischer Aushandlungsprozess resultiert und Schule prozessorientiert gestaltet: "zwischen dem Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit in einer unübersichtlich gewordenen Welt und der Zumutung von Differenz und Pluralität" (186).

Teil IV (295–420) greift drei exemplarische Zugänge religionsdidaktischen Handelns heraus: sachorientiertes Lernen, das sich dem Wissen und Verstehen widmet; ästhetisches Lernen mit allen Sinnen und Ausdrucksmöglichkeiten und philosophisch-kommunikatives Lernen, wodurch eine ganzheitliche Nachdenklichkeit gefördert wird.

Profil des neuen Faches

Zu Beginn des dritten Jahrtausends ist in der deutschsprachigen Schweiz der sogenannte "seminaristische Weg" ausser Kraft gesetzt worden, und an seine Stelle ist der Weg zum Lehrer- und Lehrerinnenberuf über die eidgenössisch anerkannte Maturitatsprüfung und die neu gegründeten "Pädagogischen Hochschulen" getreten. Das mögen jene bedauern, die die Förderung der musischen und künstlerischen Fähigkeiten an den Seminarien unterstrichen, der Allgemeinbildung indessen weniger Gewicht beimassen. Stattdessen setzt die Erziehungsdirektorenkonferenz die Maturitätsprüfung für alle künftigen Lehrpersonen als Standard voraus und hofft, dadurch den erhöhten Anforderungen in der heutigen Schul- und Bildungslandschaft gerechter zu werden. Sowohl Lehrer/-in als auch Religionslehrer/-in sein ist in der zunehmend pluralen Welt kein Pappenstil mehr.

Das neue Fach "Ethik, Religionen, Gemeinschaft" trägt den gewandelten Verhältnissen in Gesellschaft und Schule Rechnung und will insbesondere wegen der multikulturellen und heterogenen Schülerschaft einen "Religionsunterricht für alle" einrichten. Damit wird der früheren Privilegierung der Grosskirchen im staatlichen Unterricht ein Ende gesetzt und alle religiösen Bekenntnisse (inklusive Personen ohne Religionszugehörigkeit) als gleichwertig anerkannt. Die Auffächerung von einem rein konfessionellen zu einem zwar nach wie vor religionssensiblen, aber konfessionsunabhängigen Fach neben dem immer noch angebotenen konfessionellen Unterricht, das ethische, religionenspezifische und gemeinschaftsrelevante Fragen behandelt, ist europaweit zu beobachten, freilich in durchaus differenzierender Weise. Nur Deutschland hält zumindest in den alten Bundesländern an seinem Modell des rein konfessionellen Religionsunterrichtes fest – die Nazivergangenheit im Rucksack der Geschichte –, unterstützt durch das Alternativfach "Ethik" oder Philosophie; Religionsunterricht gibt es dort auch für jüdische Kinder ebenso wie die (allerdings zögerliche) Einführung des islamischen und christlich-orthodoxen Unterrichts. Einigkeit herrscht weit über Europa hinaus darüber, dass Religion kein ephemeres Phänomen ist, das sich bald auflöst, sondern eine Dimension der Wirklichkeit, die mit Menschlichkeit, aber auch mit Lernen zu tun hat.

In der Schweiz wird dieses neue Unterrichtsfach kantonal festgelegt und je anders benannt. Tendenziell situiert es sich für die Volksschule nach dem Lehrplan 21 im Fachbereich "Natur, Mensch, Gesellschaft" an, und für die Oberstufe ist es ein eigenes Fach. Damit soll die Schule kein Tummelplatz mehr sein für Missionare, keine Mitgliedschaftswerbung religiöser Gemeinschaften, sondern ein Ort professioneller sachlicher Auseinandersetzung mit den Letztfragen des Lebens. Pate stehen die Religionswissenschaften und Theologie, allerdings nicht als distanzierte, beobachtende "neutrale" Wissenschaften "about religion", sondern durchaus in einem engagierten erfahrungsbezogenen und dialogischen Sinn. Der Eröffnungsbeitrag des Zürcher Religionspädagogen und Praktischen Theologen Thomas Schlag spricht von einem "religionskundlich-verstehensorientierten Ansatz" (29), der sich nicht mit einer bloss beschreibenden Aussenwahrnehmung begnügt, denn diese würde den Schülerinnen und Schülern nicht gerecht. Katechetischer und kerygmatischer Unterricht, der auf die Einübung religiöser Vollzüge abhebt wie in der Sakramentenkatechese, muss in die ausserschulische, pfarreiliche Arbeit verlegt werden. In der öffentlichen (nicht privaten) Schule des neutralen Staates soll ein subjektorientierter, erfahrungsbezogener, dialogischer und partizipativer "Religionsunterricht" heimisch werden, der pluralitätsfähig, zivilisierend und konfliktmindernd ist (vgl. Schlag 28).

"Offensichtlich gibt es jedenfalls in allen Religionen erhebliche stabile Ressourcen, die die Weitergabe der jeweiligen Traditionen, Glaubensinhalte und Praktiken an die nächste Generation gewährleisten und dazu anregen, neue Formen mit den dazugehörigen Inhalten zu generieren" (Schlag, 23). Und weil die Schule nicht bloss der Wissensvermittlung dient, ist sie auch als Lebens- und Erfahrungsraum zu gestalten. Ihr obliegt es, Kernkompetenzen wie die Kommunikationsfähigkeit und das Ausdrucksvermögen zu fördern, die Gestaltungs- und Handlungskompetenzen und viele weitere kognitive, emotionale und willensmässige Fähigkeiten. Das neue Fach muss "religionsbezogene Sach-, Selbstund Sozialkompetenz" fördern und eine "kreative, mündige und kundige Auseinandersetzung mit dem Religionsthema" ermöglichen, nicht zuletzt eine "konstruktive Auseinandersetzung mit Meinungen anderer" in Gang bringen. Damit trägt es sowohl zur Allgemeinbildung als auch zur Schulkultur bei. Religion ist nicht aus der Schule zu verbannen; sie soll vielmehr "der selbstverständliche Bezugshorizont allgemeiner Bildung" (32) sein. Kinder haben ein "Recht auf Religion" (Friedrich Schweitzer); ihnen gehört ein "respektvoller Blick" und keinesfalls eine Geringschätzung. (Hier geschieht eine Neubegründung des Faches analog zur Neubegründung des Religionsunterrichtes durch das Korrelationsprinzip in Deutschland zur Zeit der Würzburger Synode!)

Es freut mich, dass in der veränderten Schweizer Schullandschaft intensiv über Religionsuntericht, Religiosität, sozialreligiöses und ethisches Lernen im globalen Kontext der grossen Religionen nachgedacht wird, und zwar in selbstverständlicher ökumenischer Offenheit und Kooperation! Das religiöse Anliegen wird wachgehalten und schülerbezogen, entwicklungsorientiert, interreligiös und bekenntnisunabhängig neu konzipiert. Zahlreiche Impulse aus England, Amerika und Deutschland sind aufgegriffen und in schweizerische Verhältnisse implementiert worden. Die Kirchen sollen durchaus im Dialog mit dem neuen Schulfach bleiben und sich sputen, die konfessionelle Katechese in den Pfarreien und pastoralen Grossräumen zu profilieren und – vielerorts – erst zu installieren. Hier wird für die Schule eine Auseinandersetzung mit Sinnfragen, Werten und Religionen intendiert, die den Zeiterfordernissen Rechnung trägt.

Zwei Anliegen

Zwei Anliegen bleiben für mich: Das erste, dass die theologische und religionswissenschaftliche Kompetenz vieler Theologen, Pfarrer und Religionspädagogen durch neue Zusatzausbildungsmöglichkeiten genutzt wird, sodass sie weiterhin an der religiösen Bildung in der Schule partizipieren können. Das zweite, dass die Lehrerschaft, die unterschiedlich an religiösen Fragen interessiert und ausgebildet ist, kein Monopol auf das neue Fach hat. Das Buch ist für den Aufbau und die Ausbildung hilfreich, gehaltvoll und stimmig, auch wenn nicht alle der 29 Autorinnen und Autoren in durchaus unterschiedlichen Beiträgen dieselben Akzente bei der Profilierung des Faches setzen. Die Herausgeber und der Verlag haben Überdurchschnittliches geleistet, nebensächlich sind die Überschneidungen. Für eine Zweitauflage wären eine Gesamtbibliographie und die üblichen Register zu wünschen. 

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* Sophia Bietenhard / Dominik Helbling / Kuno Schmid (Hrsg.): Ethik, Religionen, Gemeinschaft. Ein Studienbuch. (hep Verlag AG) Bern 2015, 424 Seiten.

 

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.