Der Papst, der die Grenzen überwand

«Ohne Sie, Heiliger Vater, wäre die Berliner Mauer nie gefallen.» Es war kein Geringerer als Kremlchef Michail Gorbatschow, der mit diesen Worten bei seinem ersten Besuch im Vatikan im Dezember 1989 für Aufsehen sorgte. Die Begegnung beendete eine ideologische Feindschaft, die mit der zur «Oktoberrevolution» verklärten Machtergreifung der Bolschewiken 1917 begonnen hatte. Genau zehn Jahre vor dem historischen Treffen hatte Gorbatschow in Moskau an einer Sitzung des Politbüros teilgenommen, bei der «Massnahmen gegen den polnischen Papst» auf der Tagesordnung standen, Einzelheiten sind allerdings bis heute unbekannt. Der Papst sei überzeugt gewesen, dass der Kreml hinter dem Attentat auf ihn am 13. Mai 1981 gestanden habe, berichtete sein langjähriger Sekretär Stanislaw Dziwisz nach dessen Tod. Doch habe er sich nie öffentlich dazu geäussert, weil er die ohnehin schwierigen Beziehungen zu Moskau, auch zur Russisch-Orthodoxen Kirche, nicht habe gefährden wollen.

Fürchtet euch nicht!

Anlass für die Sitzung des Politbüros war der erste Besuch des neuen Papstes in seiner polnischen Heimat in der Pfingstwoche 1979. Zehn Millionen Menschen waren zu den Messen mit ihm geströmt, jeder zweite Erwachsene. Der Papst hatte über das «Recht der Nationen auf Freiheit» gepredigt, in Warschau beschloss er seine Predigt mit den Worten: «Es komme Dein Geist herab und erneuere das Antlitz der Erde! Dieser Erde!» Viele seiner Landsleute begriffen diese Fürbitte als Aufruf, sich gesellschaftlich zu engagieren, zumal sie mit der Aufforderung verbunden war: «Fürchtet euch nicht!» Ein Jahr später entstand nach einer Streikwelle die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc, an ihre Spitze wurde der charismatische Elektriker Lech Walesa gewählt. Am Zaun der Danziger Lenin-Werft hingen Bilder des Papstes, Walesa und seine Berater wurden von ihm im Vatikan empfangen.

Die sowjetische Führung drängte den polnischen Partei-, Regierungs- und Armeechef General Wojciech Jaruzelski dazu, die Demokratiebewegung um die Solidarnosc zu zerschlagen: Am 13. Dezember 1981, genau sieben Monate nach dem Attentat auf dem Petersplatz, verhängte der General das Kriegsrecht über Polen. Johannes Paul II. rief zur Besonnenheit auf und wurde erhört: Die Aktivisten der verbotenen Solidarnosc setzten auf passiven Widerstand. Die Parteiführung musste verärgert feststellen, dass der Papst für die überwältigende Mehrheit seiner Landsleute die höchste Autorität war. Er gab dem internierten Walesa die Kraft, den Pressionen wie den Korruptionsangeboten Jaruzelskis zu widerstehen. Dieser musste hilflos zur Kenntnis nehmen, dass es da eine Kraft gab, die die Ideologie des dialektischen Materialismus nicht erfassen konnte.

Das repressive Regime im Ostblock lockerte sich schrittweise, nachdem Gorbatschow 1985 in Moskau das Ruder übernommen hatte. Er erkannte, dass sein Land tiefe Reformen und Wirtschaftshilfe aus dem Westen brauchte. So setzte er auf aussenpolitische Entspannung, auch gegenüber dem Vatikan. Gorbatschow nahm auch die ersten halbfreien Wahlen in Polen im Juni 1989 hin, die die verbotene Solidarnosc mit einer erneuten Streikwelle erzwungen hatte. Die Kommunisten wurden abgewählt, der katholische Publizist Tadeusz Mazowiecki wurde neuer Premier. Unter ihm ermöglichte Polen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern die Weiterreise nach Westen, der Eiserne Vorhang war löcherig geworden.

Die Lockerung des sowjetischen Regimes ermunterte auch die bislang gnadenlos verfolgte mit Rom unierte Kirche in der Westukraine, den Untergrund zu verlassen. Johannes Paul II. setzte bei Gorbatschow ihre Legalisierung durch. Unierte Christen wurden zu Führern der ukrainischen Demokratiebewegung, die die Loslösung von Moskau forderte. Nicht anders hielten es die Katholikinnen und Katholiken in der Sowjetrepublik Litauen. Johannes Paul II. schrieb später zum Zerfall des Sowjetblocks: «Der Kommunismus ist als System in gewisser Weise von allein zusammengebrochen. Er fiel wegen seiner Fehler und seiner Rechtsbrüche. Er fiel wegen seiner immanenten Schwäche. Das Holz dieses Baumes war schon morsch. Ich musste es nur kräftig schütteln.»

Thomas Urban

 

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Thomas Urban

Thomas Urban (Jg. 1954) studierte Romanistik und Slavistik. Als Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung» in Warschau, Moskau und Kiew erlebte er in den Jahren 1988 bis 2012 die grossen Umwälzungen in Osteuropa mit. Er berichtete über die PapstReisen nach Polen, Litauen und in die Ukraine.