«Das Land verliert sein menschliches Potenzial»

Interview über die Situation im Libanon

Etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge sind im Libanon registriert. Das ist ein Drittel der Bevölkerung. Mit welchen Herausforderungen Kirche und Gesellschaft im Libanon konfrontiert sind, schildert P. Rouphael Zgheib, Direktor von Missio Libanon. Die Situation der Flüchtlinge in Europa heute ist durch den Strom der Migrantinnen und Migranten, die täglich an den Grenzen Europas ankommen, drängender denn je. Auf der Flucht riskieren sie ihr Leben, um einer hoffnungslosen Situation in ihrer Heimat oder einem tödlichen Konflikt wie in Syrien zu entkommen.

Wie schafft es Ihr Land, so viele Flüchtlinge aufzunehmen?

Zu Beginn der Krise in Syrien (2011) wurde der Libanon von Tausenden von Flüchtlingen überflutet, weil es keine Grenze zwischen den beiden Ländern gibt. Dazu muss man wissen, dass seit der Unabhängigkeit des Libanon 1943 keine Demarkation der Grenze zwischen Syrien und dem Libanon vollzogen wurde. Während der syrischen Okkupation des Landes, die 2005 mit dem Abzug der syrischen Truppen beendet wurde, hatte Syrien kein Interesse an einer klaren Grenzziehung, um so weiterhin seinen starken Arm über den Libanon ausstrecken zu können. Viele Stimmen sprachen sich nach dem Abzug der syrischen Truppen und dem tödlichen Anschlag auf den Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri für eine klare Grenzziehung zwischen dem Libanon und Syrien aus. Aber wegen der innenpolitischen Streitigkeiten und des syrischen Einflusses, den es im Land immer noch gibt, ist nichts geschehen. Jetzt, nach fünf Jahren des Konflikts in Syrien, werden offiziell ca. 1,5 Millionen Flüchtlinge gezählt, in einem Land mit 4 Millionen Einwohnern, d.h. ein Drittel der Bevölkerung.

Welche Auswirkungen auf das Leben im Libanon hat die Anwesenheit von 1,5 Millionen Flüchtlingen in Ihrem Land?

Die Präsenz der Flüchtlinge hat Auswirkungen auf das tägliche Leben, die Wirtschaft und die Sicherheit. Was das tägliche Leben anbelangt, so werden durch die zahlreichen Autos, mit denen die Syrer geflohen sind, riesige Verkehrsstaus verursacht. Im Libanon gibt es nur eine einzige Autobahn, die der Küste entlang verläuft. Das hat das Leben wirklich schwer gemacht. Was die Schule betrifft, so muss man feststellen, dass sie wegen der vielen Kinder überfüllt sind und es keinen Platz mehr für die libanesischen Kinder hatte. Die Regierung sah sich deshalb gezwungen, eine fixe Quote einzuführen. Wenigstens die Hälfte der Kinder pro Klasse muss libanesisch sein. Das hat aber dazu geführt, dass im letzten Jahr zahlreiche Kinder nicht in die Schule gehen konnten.

Was sind die grössten Herausforderungen, mit denen Sie konfrontiert sind?

Zusammen mit den Flüchtlingen sind auch viele Terroristen gekommen, die sich in Wohnungen oder Zelten eingerichtet haben. Wegen ihrer prekären Situation wirkten sie im Land destabilisierend. Die Regierung sah sich gezwungen, hier einzuschreiten: Es gab zahlreiche Festnahmen. Viele Libanesen haben ihre Arbeit verloren, denn die syrischen Arbeiter sind billiger als die libanesischen, und vielen grossen Unternehmern fehlt das Geld, um die Sozialversicherung zu bezahlen. Sie arbeiten schwarz. Das hat eine schwierige wirtschaftliche Situation geschaffen. Viele Libanesen mussten das Land verlassen, um sich Arbeit in den arabischen Ländern oder besser in Europa zu suchen. Angesichts dieser Herausforderungen zeichnet sich eine grosse Gefahr ab, über die wir zu sprechen begonnen haben: die Einbürgerung dieser Flüchtlinge. Das würde ein demografisches Ungleichgewicht zwischen Christen und Muslimen erzeugen in einem Land, in dem alles von diesem Gleichgewicht abhängt und wo die Aufteilung der Gewalten das Fundament der partizipativen Demokratie des Libanon ist (das Staatsoberhaupt muss maronitischer Christ sein, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim, der Regierungschef sunnitischer Muslim und der Armeechef ein Christ).

Man darf nicht vergessen, dass der Libanon seit langem Heimat für 300 000 palästinensische Flüchtlinge ist, die in Lagern leben. Der Libanon weigerte sich die ganze Zeit, diese Flüchtlinge einzubürgern, und hat immer ihr Recht, in ihr Land zurückzukehren, angemahnt. Ausserdem muss man sagen, dass die Flüchtlinge aus Syrien nicht in Flüchtlingslagern leben und nur wenige von ihnen in Camps sind.

Was tut die Kirche in dieser Situation für diese Menschen?

Die Kirche im Libanon versucht, durch ihre Institutionen den syrischen und irakischen Flüchtlingen so viel als möglich zu helfen. Wir geben ihnen etwas zum Essen und Kleidung, helfen bei einem Krankenhausaufenthalt und für die Bildung. Die Kirche macht keinen Unterschied zwischen Christen und Muslimen. Wir organisieren Ausflüge zusammen, um sie miteinander in Kontakt zu halten. Wir verteilen auch Medikamente und helfen bei besonders dringenden Operationen, vor allem, wenn es sich um einen schweren Unfall handelt. Man muss aber sagen, dass es enorm viel zu tun gibt. Am besten wäre es, wenn es sichere Flüchtlingslager an der Grenze zu Syrien gäbe, damit die humanitäre Hilfe alle erreichen kann. Denn beim aktuellen Zustand ist es schwierig, die humanitäre Hilfe in einer Weise zu organisieren, dass sie alle erreichen kann.

Gibt es eine Zusammenarbeit mit den muslimischen Autoritäten?

Es gibt, so meine ich, nur wenig Zusammenarbeit mit muslimischen Autoritäten. In der Regel ist die Hilfe der Kirche über ihre Institutionen effektiver und ohne Diskriminierung.

Was erwarten Sie von der Kirche in der Schweiz?

Von der Kirche in der Schweiz und der Kirche in Europa erwarte ich, dass sie nicht nur denjenigen helfen, die bei ihnen ankommen, sondern auch der lokalen Bevölkerung hier vor Ort; ich erwarte Hilfe, dass sie hier bleiben können und ihr Heimatland nicht verlassen müssen, denn es trägt eine sehr reiche Kultur. Mit dem Exodus verliert ein Land sein menschliches Potenzial. Und ich erwarte ein Insistieren für einen Friedensprozess in Syrien, um die Schwächsten und Zerbrechlichsten in diesem Krieg retten zu können.

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Das Interview mit P. Rouphael Zgheib, Direktor Missio Libanon, führte Siegfried Ostermann, Missio Schweiz, in schriftlicher Form.

 

Siegfried Ostermann

Siegfried Ostermann

Siegfried Ostermann ist zuständig für die PR Bereich Weltkirche bei Missio, dem internationalen Missionswerk in Freiburg.