Das grosse Versprechen geteilter Lebensfülle

Dreifaltigkeitssonntag: Ex 34,4b.5–6.8–9; 2 Kor 13,11–13; Joh 3,16–18

Religionen erfahren in öffentlichen Debatten kaum ungeteilte Anerkennung. Dass sie in Unmündigkeit und Unaufgeklärtheit führen können oder zu Missbrauch und Gewalt, wird kritisch geltend gemacht. Dennoch kann kaum jemand der Frage nach der Religion ausweichen. Dies zeigen Anfragen aus skeptischer oder atheistischer Grundhaltung. Damit ist das Renommee einer Religionsgemeinschaft nicht mehr am Anspruch ihrer Glaubenssätze allein festzumachen. Ihr Suchen nach Sinn und das Bezeugen des Glaubens muss sich im Alltag jeder Gesellschaft bewähren.

Erratischer Block?

Ein vertiefter Blick auf den Dreifaltigkeitssonntag lässt innehalten. Er zeigt sich wie ein erratischer Block im Kirchenjahr, findet aber seinen Sinn eine Woche nach Pfingsten, nachdem die dritte göttliche Kraft in Szene gesetzt ist. Rückt diesem Sonntag der Weltflüchtlingstag (ehemals seit 1914 von Benedikt XV. ausgerufen und seit 2001 von der UNO am 20. Juni gesetzt) nahe, lassen sich inhaltliche Bezüge schaffen. Denn weltweit treffen Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religion durch globales Wirtschaften ebenso wie durch die grosse Migration aufeinander. Die zwei Sonntage zeigen inhaltlich ein je anderes Gesicht. Dennoch ist ihnen eine innere Verwandtschaft nicht abzusprechen. Denn das Angerührt- Sein vom Wesen Gottes im christlichen Verständnis liegt nicht fern vom Angerührt- Sein von Menschen, die aus fremder Heimat flüchten mussten. Zugänge eröffnen der Blick eines koreanischen Buddhisten und die Begegnung mit einem Muslim.

Begegnung

Schwer ist einem Menschen zu begegnen.
Denn sein ganzes Leben tritt einem entgegen.
Man trifft seine Schmerzen und sein Sehnen.
Auch seine schwelende Wunde, alles auf einmal.
Kim Jae Jin1

Und vor Jahren die Begegnung mit einem muslimischen Theologen, der in die Schweiz migriert war. Sein Fragen nach Gott und der Art des säkularen Lebens brannte ihm auf der Zunge, weil er so einiges in seiner neuen Heimat vermisste: «Warum sind die Menschen in diesem Land so? Darf hier von Gott gesprochen werden? Kann ich als Begleiter von Schwerkranken weiterarbeiten, wenn ich an meinem Arbeitsort im Heim Kritik hören muss, weil ich als Muslim regelmässig die mir Anvertrauten im Rollstuhl zu Kirchenräumen fahre und spüre, wie sie dies überaus schätzen?» Meine etwas dürftige Antwort an ihn war: «Von Gott in diesem Land zu sprechen, ist tatsächlich ein Wagnis geworden.»

Christlicher Glaube trägt ein grosses Versprechen in sich. Gerät er durch Einkapselung ins Private oder wird aufgrund negativer Erfahrungen resignativ abgelehnt, kann er in der Begegnung mit Fremden nachgerade neu herausgefordert sein. Die Perikopen am Tag der «Trinität» erinnern an Hinwege zur Einlösung eines grossen Versprechens. Sie heben göttliche Eigenschaften hervor, die in den Brüchen der Welt von einem Gottesbild erzählen, dem geteilte Lebensfülle verborgen innewohnt.2

Angerührter Moses

Moses steht stellvertretend für sein «störrisches» Volk, dessen Exodus er anführt. Moses meditiert frühmorgens in der Einsamkeit auf dem Berg Sinai. Er erfährt, wie JHWH an ihm vorübergeht und hört ihn zurufen: «Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue.» (Ex 34, 6) Die ganze Erzählung zeigt die Herausforderung, der sich Moses stellen muss, nachdem er die beiden ersten Tafeln zerschmettert hatte. Der neue Bundesschluss nimmt seinen Ausgang in dieser Begegnung mit JHWH, aus welcher Moses verändert heraustritt: «Als Aaron und alle Israeliten Mose sahen, strahlte die Haut seines Gesichtes Licht aus, und sie fürchteten sich, in seine Nähe zu kommen. Erst als Mose sie rief, kamen Aaron und alle Sippenhäupter der Gemeinde zu ihm zurück und Mose redete mit ihnen. Dann kamen alle Israeliten herbei, und er übergab ihnen alle Gebote, die der Herr ihm auf dem Sinai mitgeteilt hatte. Als Mose aufhörte, mit ihnen zu reden, legte er über sein Gesicht einen Schleier.» (V. 30 ff.).

Es mutet dieser Schleier an wie ein Vorbehalt, sich auch in noch so schwieriger Situation, die das Volk unterwegs und später in der neuen Heimat erfahren wird, nicht von der göttlichen Zusage zu entfernen und sich der Realität zu stellen – mit eingeschlossen den «Brüchen der Welt»: «Da sprach der Herr: Hiermit schliesse ich einen Bund: Vor deinem ganzen Volk werde ich Wunder wirken, wie sie auf der ganzen Erde und unter allen Völkern nie geschehen sind. Das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, wird die Taten des Herrn sehen; denn was ich mit dir vorhabe, wird Furcht erregen.» (V. 10) JHWH verspricht keine Kuschel-Wirklichkeit.

Angerührt von Jesus

Wie Moses mit JHWH zu tun hat, hat es der Rabbi Jesus in besonderem Mass. Er hört im nächtlichen Gespräch Nikodemus sagen: «Rabbi: Wir wissen, dass du ein Lehrer bist, der von Gott kommt. Denn wer solche Wunder wirkt wie du, der muss schon mit Gott zu tun haben.» (Jo 3,2) Das ist handgreiflich mehr, was sich Nikodemus gewohnt war. Sagt doch Jesus zu ihm: «Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.» (V. 17) Jesus sieht sich als Menschensohn verbunden mit göttlicher Geistkraft und wird als göttliches Wort ganz in Gottes Geheimnis aufgehen und einig werden. Das Ziel seiner Sendung ist das Zusammengehen von Gott und Welt in geteilter Lebensfülle.

Geteilte Lebensfülle

Sie ist anzustreben und führt zur Kritik an jeder «herrscherlichen Verfügung über die Welt».3 Es bleibt darum Aufgabe der Religionsgemeinschaften, den «Schmerzen» und dem «Sehnen» der Menschen zu begegnen und mit jenen, die flüchten mussten, «neue kulturelle Synthesen zu schaffen» (Franziskus: Evangelii Gaudium 201) – geteilte Lebensfülle an allen Orten, wo Menschen Zuflucht finden und mit uns nach neuen Lebensmöglichkeiten suchen.

 

 

 

1 Quelle: NZZ 12. April 2014, 59.

2 Anregend dazu: Ralf Miggelbrink: Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Reihe Quaestiones Disputatae 235, Freiburg i. Br. 2009, III: Pleromatische Theologie, 216–261 und Ottmar Fuchs: Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt, Ostfildern 2014.

3 So das Fazit der Studie von Miggelbrink aaO. 261.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)