Biografien vermitteln Reformationsgeschichte

St. Gallen fand der zweite Leseabend in der Reihe «Brennpunkt Religion» statt. Der ökum. Verein WirkRaumKirche lud ein: die evang. Theologin Kathrin Scheiber, den kath. Publizisten Rolf Bossart und Pfarrer Heinz Angehrn.

Überraschungsgast war Pfarrer Martin Schmidt als Präsident des Evangelischen Kirchenrates des Kantons St. Gallen. Themen waren neue Publikationen zum Reformationsjubiläum. Die Vielfalt der Bücher zeigte die Vielfalt der aktuellen ökumenischen Diskussion auf. Gemeinsam war den vier Werken, dass sie anhand von Personen und Biografien das Zeitalter der Reformation samt ihren Hintergründen zu beleuchten versuchten.

Peter Opitz über Zwingli

Kirchenratspräsident Schmidt stellte eine knapp gehaltene neue Zwingli-Biografie des Zürcher Kirchengeschichtlers Peter Opitz über Ulrich Zwingli vor.1 Opitz entwickelt die Biografie streng entlang der Geschichte der alten Orte und der stetig wachsenden Eidgenossenschaft des 15./16. Jahrhunderts. Zwingli ist hier Theologe, Pfarrer, Reformator und immer auch gleich Politiker, sein gewaltsamer Tod auf dem Schlachtfeld des Zweiten Kappeler Krieges kein Zufall. Schmidt als Konstanzer zeigte sich überrascht, wie stark sich der Schweizer Zwingli vom Deutschen Luther unterscheidet, und wie deutlich politischer die Reformation in der Schweiz ausgestaltet war. Er stellte fest, dass sich beide konfessionellen Parteien in der Schweiz nach den Erfahrungen des Zweiten Kappeler Kriegs nicht mehr an den europäischen Folgekriegen beteiligten.

Volker Leppin zu Luthers mystischen Wurzeln

Ganz anders geartet das Buch eines Kirchengeschichtlers, des Tübingers Volker Leppin, die ausführliche Darstellung des «Mystikers» Martin Luther.2 Leppin arbeitet heraus, wie stark Luther in der Mystiker-Welt des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit (Johannes Tauler) verwurzelt war, wie viele seiner theologischen Anliegen, die zur Spaltung führen sollten, in ihr und nicht im Bestreben, Neues zu schaffen, begründet lagen, und wie dezidiert Martin Luther deshalb als Antipode einer aufklärerischen Bewegung in der Kirche, ja als evangelischer Pietist und Mystiker zu deuten ist. Gemeinsam diskutierten die Teilnehmer Leppins These, dass Termini wie «Mystik» und «Pietismus» in der evangelischen Tradition lange als verrucht und allzu katholisch gefärbt beurteilt wurden. Mystik und Pietismus seien sogar nötig, um Religion vom doktrinären Sockel herunterzuholen!

Kardinal Kasper: Luther ökumenisch besehen

Bei dieser Luther-Deutung setzt das von Angehrn ausgewählte Buch von Walter Kardinal Kasper über Martin Luther an.3 Es ist quasi die «offiziell katholisch-kirchliche Deklaration zum Jubiläum». Auch Kasper deutet Luther als Erneuerer aus mystischer Ergriffenheit und vermerkt hart, dass heute in der Zeit des «Endes des konfessionellen Zeitalters» die damals spaltenden Themen gar nicht mehr interessieren. Sie seien gar irrelevant für das Voranschreiten von Welt und Menschheit, welche nun eine «versöhnte Verschiedenheit» der Kirchen benötige. Die evangelischen Diskussionsteilnehmer zeigten sich erfreut, wie stringent einer der wichtigsten katholischen Partner im ökumenischen Dialog Luther heute als Brückenbauer und nicht als Spalter versteht.

Georg Diez: Luther, mein Vater und ich

Zwischen Kampfschrift, Autobiografie und theologischem Dokument schwankt das von Bossart ausgewählte Buch von Georg Diez.4 Diez arbeitet sich mühsam an der Frage ab, wie sein Pfarrervater als humaner Mensch und Seelsorger mit dieser Theologie, die sich ihm aus der Bibel und aus Luthers Schriften erschliesst, leben konnte, einer Theologie, die Zorn und Widerständigkeit, die doch so notwendig wären, sozialisiert und zum Mittel der Machterhaltung benutzt. Bossart würdigte Diez als einen, der die Zusammenhänge zwischen Religion und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Machtverhältnissen und Ungerechtigkeiten erkennt. Die Teilnehmer konnten dem für sie sehr subjektiv gehaltenen Buch nicht viel abgewinnen. Zumindest der Terminus «Pastoren-Kind» ist angesichts der breiten Vielfalt der Entwicklungen (Friedrich Dürrenmatt, Gudrun Ensslin, Christoph Blocher) spannend.

Neue Ära angebrochen

Schliesslich blieb die These von Kardinal Kasper, dass eine neue Ära «versöhnter Verschiedenheit» angebrochen sei. Sowohl die Frage, was den Getauften vor Gott gerecht mache, noch diejenige, wie denn Christus im heiligen Mahl wirklich präsent sei, sind theologisch interessant, doch irrelevant für den Fortbestand der Menschheitsfamilie.

 

1 Peter Opitz: Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus, Zürich 2015.

2 Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016.

3 Walter Kasper: Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive, Ostfildern 2016, Abdruck eines Vortrages zu Beginn 2016 in Berlin.

4 Georg Diez: Martin Luther, mein Vater und ich, München 2016.