Das Geschick Gottes und das Geschick der Kirche (II)

Relecture einiger Schriften von Hans Urs von Balthasar

3. Eine Kirche, die in Gottes Einsatz lebt

Wie bereits gesagt: Die gesteigerte Transzendenz Gottes bleibt nicht ohne Rückwirkung auf die Kirche. Und es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen dieser geistesgeschichtlichen Situation und dem Programm einer Kirche, die sich konsequent auf die Welt und das Heute einlässt. Der Grund dafür liegt nicht in strategischen Überlegungen, sondern in Jesus Christus. So schreibt Balthasar zwanzig Jahre nach der «Schleifung der Bastionen»: «Für eine arme und dienende Kirche werden wir, weil sie allein die Berührung mit der Welt von heute noch gewährleisten kann, nicht aus Erfolgssucht, sondern aus Auftrag plädieren.»50 Es gehe also um die Treue der Kirche zu ihrer Sendung.

– Restauration genügt nicht

Die Diagnose ist für Balthasar bereits 1952 klar: «Das heutige Zeitalter der Restauration täuscht nicht über die Ausmasse der Krise, worin im Bund mit der Welt auch die Kirche liegt.»51 Restauration war zwischen dem Konzil von Trient und der Neuscholastik immer wieder Programm der Kirche. Nach den Gräueln der totalitären Diktaturen und dem Zweiten Weltkrieg hat sie gewiss ihre Berechtigung gehabt. Aber dieses Programm allein greife zu kurz. Es habe die Kirche eher an den Rand der neuzeitlichen Entwicklung gedrängt und es ihr unmöglich gemacht, ihrer eigentlichen Sendung zu entsprechen. Was auf diese Weise der Kirche zum Schicksal geworden ist, das sei für sie heute eine positive Möglichkeit: «Dass die Kirche bei diesem Abstieg zunächst geführt wurde, wohin sie nicht wollte (Joh 21,18), dass er sich als ein Leiden und eine Verdemütigung für sie vollzog, ändert nichts daran, dass sie einen sehr guten, von der Vorsehung sorgsam geplanten Weg ging. Dieser Weg hat sie in Fühlung mit der Welt gebracht, innerlich, schicksalshaft, in einer für ihr Erleben ganz neuen, schaudervollen Solidarität.»52

Balthasar erkennt im neuzeitlichen Geschick der Kirche also einen Plan der Vorsehung. Gott führe die Kirche in eine neue, ungeschützte Beziehung zur Welt, in die sie ja gesandt ist. Dieser Weg ist alles andere als ungefährlich. Deshalb beschliesst Balthasar sein Büchlein «Schleifung der Bastionen» mit den Worten: Bedauernd «müssen wir» die Schleifung der Mauer «billigen; was sie aussagen wollte, gilt nicht mehr. Gott selber hat, als sein Sohn erschien, grössere Zwischenwände niedergelegt, um ‹aus den Zweien in sich selber einen neuen Menschen zu erschaffen, den Frieden herstellend› (Eph 2,15). Sinkende Mauern können vieles begraben, das, durch sie geschützt, zu leben schien; aber die Fühlung mit dem Raum, die sich herstellt, ist grösser.»53

– Kirche, die in Gottes Einsatz lebt

Nicht nur die Tatsache, wie früh Balthasar schonungslos, aber keinesfalls hoffnungslos, das Geschick Gottes im modernen Bewusstsein und das Geschick der Kirche dargelegt hat, kann Verwunderung und Staunen wecken, auch die sachliche Kohärenz seiner einschlägigen Beiträge zum Weg der Kirche in die Zukunft. Balthasar hat bekanntlich keinen eigenen Traktat der Ekklesiologie verfasst. Aber er hat bei verschiedenen Gelegenheiten Bausteine für eine existenzielle ausgeprägte Ekklesiologie vorgelegt, die von den Koordinaten der «Theodramatik» geprägt erscheint. Es sei an dieser Stelle nur an seine bereits zitierte Schrift «In Gottes Einsatz leben» erinnert. Sie ist Luigi Giussani und der von ihm gegründeten Gemeinschaft «Communione e liberazione» gewidmet und bietet eine Art Ortsbestimmung für die Kirche.

Mit dem bereits zitierten Stichwort von einer armen und dienenden Kirche greift Balthasar einen Leitgedanken des sogenannten Katakomben-Paktes auf, den einige Bischöfe während des Zweiten Vatikanischen Konzils initiiert haben und der schliesslich von etwa 500 Konzilsvätern unterzeichnet worden ist. Von einer solchen Kirche sagt Balthasar: «Es ist die Kirche, die, solange sie in der Welt wirken kann, mitwirkt, aber durch das Schicksal Jesu die Gewissheit hat, dass dort, wo sichtbare aktive Wirksamkeit endet und das Leiden, die Krankheit, die äussere Erfolglosigkeit beginnt, ihre Aufgabe nicht abbricht, sondern vielleicht erst recht anfängt. Eine solche Kirche hat ihre Bastionen geschleift, die sie zur Welt hin abschützen, sie versteht sich nicht als ‹feste Burg›, sondern eher als eine Hilfskonstruktion zu einem ihr überlegenen Zweck: Gott hat es durch ihre Vermittlung mit der Welt zu tun.»54

– Lebendige Tradition mit dem Wasserzeichen des Kreuzes

Unüberhörbar klingen in diesen Zeilen Motive aus «Schleifung der Bastionen» an. Christus selbst in seiner Selbstentäusserung wird zum Mass der Kirche und ihres Lebens. Aber Balthasar treibt die Parallele zum Schicksal Christi noch weiter: «Vielleicht lässt Gott von der Kirche immer gerade so viel überleben, als er braucht, um neuen Sauerteig zu haben, der in den Teig versenken kann, neues Korn, das nur dazu da ist, in die Erde zu fallen und zu sterben, um in etwas anderes hinein aufzuerstehen.»55

Diese Perspektive ermöglicht Balthasar «einen ganz anders dynamischen Begriff von Tradition als den einer blossen unveränderten Weitergabe von Bestehendem. Denn in jedem Prozess wiederholt sich in jeder Gegenwart die ursprüngliche ‹traditio›, nämlich die Übergabe des Sohnes durch den Vater für das Heil der Welt».56 Tod und Auferstehung Jesu werden zum Wasserzeichen für die Kirche – was für ein Abstand zum Selbstverständnis der Kirche früherer Zeiten. Die Kirche ist zwar – wie das Erste Vatikanum es formuliert hat – das unter den Völkern aufgerichtete Zeichen,57 aber sie ist es nicht mehr in ihrer unbezwingbaren Festigkeit, sondern dadurch, dass an ihr sich Gottes Gnade als machtvoll erweist. Auf jeden Fall wird deutlich: Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie «in Christus»58 ist – sie muss «in Gottes Einsatz leben», d. h. den Einsatz Gottes in Menschwerdung, Tod und Auferstehung mitvollziehen.

4. Glaube in personaler und trinitarischer Gegenwart

Liest man heute diese Texte von Balthasar, dann drängt sich vor allem eine Frage auf: Warum wurden sie, warum haben wir das nicht ernst genommen? War es die Trägheit und Sicherheit einer vergleichsweise grossen Institution und ihrer Mitglieder? Hätte das am Anfang vielleicht noch leise Beben nicht schon viel früher wahrgenommen werden können? War die damals übliche Diagnose zu oberflächlich? Während in diesem Beitrag bisher versucht worden ist, das Denken von Hans Urs von Balthasar darzustellen, sind die weiteren Ausführungen der Versuch, davon ausgehend eigene Überlegungen anzustellen.

– Die Diagnose erweitern

Wie es auch immer in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gewesen sein mag: Heute gibt es an der Diagnose, die Balthasar damals erstellt hat, kein Vorbei. Eher wird man sagen müssen: Sie muss noch ergänzt, vielleicht verschärft werden.

Was über das hinausgeht, was Hans Urs von Balthasar wahrnehmen konnte, ist z. B. die technisierte und ökonomisierte Globalisierung. Dafür steht das iPad bzw. das, was daraus noch werden wird. Unschuldig und technisch faszinierend – aber die Folgen sind kaum zu überschätzen. Wie sehr man damit überwacht werden kann, ist das eine. Das andere und in unserem Zusammenhang Gravierendere – die Möglichkeit einer ungeheuren Aussensteuerung und Uniformierung. Und eine Reduktion des Denkens. Die Bildlogik dominiert über die Begriffslogik, das, was man früher die letzten Fragen genannt hat, wird ausgeblendet. Denken in einer sehr eng definierten Immanenz. Philosophie und damit auch das Glaubens-Denken werden ortlos.

Dazu kommt der Verlust der Tradition. In einem pragmatischen, technisch und ökonomisch geprägten Denken wird das, was nicht unmittelbar verwertbar ist, in den Hintergrund gerückt und abgewertet. Die Diskussion über Schulfächer und damit über den Bildungskanon zeigt es. Tradition wird schlussendlich reduziert auf eine fremdgewordene und vielleicht deshalb interessante Kulisse für den Tourismus.

Nicht zuletzt hat sich Rolle, Situation und Wahrnehmung der Kirche (nicht nur) in unseren Breiten geändert. Manche Agitation von aussen hat sich verstärkt, die Folgen des Missbrauchsskandals sind wohl kaum zu überschätzen. Im Gefolge des Missbrauchsskandals haben der gute Ruf der Kirche und das Vertrauen zu ihr schweren Schaden genommen. Das wiederum hat das Selbstbewusstsein der Katholiken beeinträchtigt. Die Kirche ist innerlich schwächer geworden. Zwar darf man das Potenzial der theologisch gebildeten Frauen und Männer, die in der Kirche tätig sind, nicht unterschätzen – viele von ihnen arbeiten mit grossem Engagement und einem tiefen und wachen Glauben. Aber Klerus und Orden haben nicht nur zahlenmässig an Kraft verloren. Dazu kommt, dass die Diskussion der sog. «heis-sen Eisen» (Zölibat, wiederverheiratete Geschiedene, Priesterweihe von Frauen …) oft sehr unbefriedigend geführt worden ist. Ausserdem hat sie von manchen Fragen abgelenkt, deren Beantwortung noch dringlicher wäre bzw. ist. Und nicht zuletzt: Auch in der praktischen Führung und Organisation des diözesanen Lebens ist vieles so weitergelaufen, als wäre nicht absehbar gewesen, was der Kirche bevorsteht.

Gerade wenn man das differenzierte Denken von Balthasar ernst nimmt, wird man in alledem nicht nur die Probleme wahrnehmen, sondern auch mit den Chancen rechnen – zumal, wenn man auf die unerschöpflichen Möglichkeiten Gottes vertraut. Und wo sollte das geschehen, wenn nicht in der Kirche.

– Eine neue Präsenz der Kirche

Was in erster Linie ansteht, ist m. E. eine innere Einwilligung in die Situation der Kirche, die im Vertrauen auf Gott und seine Vorsehung begründet ist. Und die Bereitschaft, die Kirche in neuer Gestalt zu leben. Das bedeutet nicht Zustimmung zu allem und jedem, sondern Realismus und Unterscheidung der Geister.59 Dabei handelt es sich nicht um ein Programm, das man umstandslos allen verordnen kann, sondern es muss von einzelnen Gemeinschaften zu leben begonnen werden.

Kirche in einer neuen Gestalt. Dafür steht das Stichwort einer «armen Kirche für die Armen». Aufs Erste nicht viel mehr als ein Stichwort, aber es ist das Stichwort, das immerhin der Papst, Papst Franziskus, nachdrücklich ins Gespräch gebracht hat. Was er in den Jahren seines bisherigen Pontifikats bis in sein Apostolisches Schreiben «Evangelii gaudium» (2013) unmissverständlich deutlich gemacht hat, liegt unübersehbar auf einer Linie, die bis zu Balthasars «Schleifung der Bastionen» zurückgeführt werden kann. Es geht um eine neue Präsenz der Kirche. Sie wird der Kirche an vielen Orten heute mit und ohne Programm abgefordert. Und die europäisch geprägte Kirche sollte ihren Abschied von ihrem reichen Erbe durchaus ernster nehmen – anderenfalls bleiben Kulissen, die unwohnlich sind und eher einem Museum gleichen als einer lebendigen Kirche.

Das ist kein Plädoyer für eine romantische Sicht der Armut, auch nicht für eine Fixierung auf Materielles (das man freilich aus den Überlegungen nicht ausklammern darf). Eine arme Kirche – das wird vor allem eine Kirche sein, die institutionell schwächer geworden und zurückgeworfen ist auf den Glauben, die Nachfolge Jesu und vielgestaltigen Dienst. Dabei wird die Kirche in Europa ihre Geschichte ernst nehmen – auch hier geht es um Unterscheidung der Geister. Das nicht nur deshalb, weil ein solcher Prozess psychologisch fordernd ist – wer wird schon gerne zu einer Minderheit? Andererseits sind wir in Europa eine Kirche mit einer ganz bestimmten, kulturell reichen Vergangenheit, die überall ihre Zeugnisse hinterlassen hat. Es wäre leichtfertig, diese Zeugnisse verkommen zu lassen. Gefragt ist freilich eine Kirche, die nicht eine Agentur für Kulturgüter ist, sondern durch ihr Leben der Botschaft des Evangeliums eine verständliche Sprache verleiht und erkennbar macht, dass es Gott um das Heute geht.

Vielleicht kann eine der ältesten Basiliken in Rom ein Anschauungsbeispiel geben: Santa Maria in Trastevere. Diese Kirche mit ihren antiken Säulen und ihrem wunderschönen Apsismosaik ist heute der Gemeinschaft «Sant’Egidio» anvertraut. Sie feiert dort nicht nur ihr tägliches Abendgebet und die Eucharistie. Sie begeht in dieser Basilika auch das jährliche Weihnachtsessen mit den Armen. Im ersten Augenblick ist das gewöhnungsbedürftig, dann aber klar: Was hier geschieht, spricht die Sprache des Evangeliums. Im alten, nahezu musealen Rahmen eine lebendige Gegenwart der Kirche … «Schleifung der Bastionen», wie sie in einem solchen Beispiel (und anderen) exemplarisch sichtbar wird, ist untrennbar verbunden mit der Einsicht, dass die Kirche sich nicht auf einen gesicherten Bestand verlassen kann, sondern aus lebendiger Begegnung immer neu entsteht und entstehen muss. Sie kann sich nicht auf ihre anordnende Autorität verlassen, sondern muss durch ihre zeichenhafte Präsenz einladen. Eine solche Kirche, so ist zu hoffen, hat als Verheissung auf ihrer Seite, was Hans Urs von Balthasar 1952 formuliert hat: «Sinkende Mauern können vieles begraben, das, durch sie geschützt, zu leben schien; aber die Fühlung mit dem Raum, die sich herstellt, ist grösser.»60

– Das «Sakrament des Bruders»

Diese neue Form von kirchlicher Präsenz erfordert auch neue Akzentsetzungen in ihrem Leben und Wirken. Für einen solchen Akzent findet sich in Balthasars Ausführungen zur Gottesfrage ein m. E. wichtiges Stichwort: «Sakrament des Bruders».61 In einer metaphysisch dürren Zeit kommen der Liebe zum Nächsten und der Begegnung mit ihm besondere Bedeutung und Aktualität zu. Balthasar formuliert es so: «Es ist die Weltstunde angebrochen, in der die Bruderliebe die Christen und Nichtchristen eint.»62 Die gegenseitige Liebe, von der das Evangelium spricht (vgl. Joh 13,34), sei nicht einfach eine Liebe im Binnenraum, auch nicht im Binnenraum der Kirche. Sie muss die Grenze übersteigen. Zwar könne man «im Bezirk der innerkirchlichen gegenseitigen Liebe die helle Mitte der Menschheit erblicken»,63 aber es geht nicht nur darum, die Menschheit in diese Mitte zu holen, sondern es brauche auch den umgekehrten Weg: «Gottes Liebe kann nur, durch alle Welt und Verlorenheit hin, Gott lieben.»64 Und so müsse sie jede Grenze übersteigen und in allen Bereichen der Schöpfung Gott lieben. Die christliche Liebe sei nicht nur Philanthropie, sondern komme von weiter her und führte weiter als menschliche Liebe allein: «Gott, Christus, Kirche bilden etwas Untrennbares, das zusammen der Ursprung der Liebe ist. Aber auch ihr Motiv (…). Die Liebe liebt (…) zuletzt um Gottes willen.»65 Das sei «umso geforderter, als die menschliche, auch die christliche Liebe sich in keiner Hinsicht mit der Erlöserliebe in Christo messen kann».66 So könne man in allen Dingen «und vor allem im Bruder»67 Gott finden.

Was hier in den Blick genommen wird, ist nicht das Programm einer banalen Reduktion des Glaubens auf Philanthropie, sondern seine Rückführung auf das Wesentliche. Das aber wird nur gelingen, wenn man – so Balthasar – «Gott auch in sich selber, im Heiligtum des Gebetes und des kirchlichen Wortes und Sakramentes zu suchen und zu finden gewillt ist».68

Und so kann Balthasar an anderer Stelle schreiben: Die eigentliche Kraft «hat der innere Kreis, der sich unmittelbar um das Ereignis des Einsatzes Gottes in Christus herumlegt. Es ist die Gemeinde derer, für die das Wort nicht zur abstrakten Lehre erkaltet, sondern in der Bruderliebe und in der sakramentalen und existentiellen Communio lebendige personale und trinitarische Gegenwart ist. Wo immer in der Welt solche Gemeinde ist, dort ereignet sich Weltbefreiung im Ursprung».69

Es braucht nicht gesagt werden, dass es sich dabei um ein anspruchsvolles Programm handelt. Das nicht nur deshalb, weil Liebe immer anspruchsvoll ist. Es kommt auch darauf an, dass menschliche Liebe durchsichtig wird für die Liebe Gottes. Und sie soll nicht als Zustimmung zu allem missver-standen werden, was diejenigen, denen sie gilt, in Wort und Tat vertreten. Aber diese Unterscheidung musste schon zur Zeit Jesu eingemahnt werden, der mit Zöllnern und Sündern an einem Tisch gesessen ist (vgl. Mt 9,11).

– Erlösung – das Wozu der Kirche

Je weniger der christliche Glaube in der Gesellschaft selbstverständlich ist, sondern sich mit konkurrierenden religiösen Vorstellungen konfrontiert sieht, umso mehr kommt es darauf an, zu wissen, wozu es die Kirche gibt, wofür sie steht. Zwei Extreme sind als theologisch unerwünscht und unvertretbar zu betrachten: auf der einen Seite ein kirchliches Angebot, das sich allein nach der Nachfrage richtet und am Ende vieles schuldig bleibt, was Sache des Evangeliums ist; auf der anderen Seite eine stereotype Wiederholung des längst unverständlich Gewordenen.

Den entscheidenden Anhaltspunkt bilden Begriff und Wirklichkeit der Erlösung. Das in Erinnerung zu rufen, hat bereits Hans Urs von Balthasar für notwendig erachtet. In seinen Ausführungen zur Gottesfrage hält er fest, dass der Mangel der westlichen Theologie darin bestehe, «dass sie nicht ernstlich genug erwägt, wovon uns Gott erlöst hat».70 Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Und Balthasar zeigt, dass auch in diesem Punkt die gegenwärtige Situation nicht nur ein Problem markiert, sondern ihre Chancen hat. Für die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hält er fest: Die Situation ermögliche «ein anthropologisches, das heisst innerliches, erfahrungshaftes Verständnis der Verlorenheit».71 Das könne helfen, den Sinn der Erlösung neu zu erschliessen. So könnten «der Verlassenheitsschrei am Kreuz und der Abstieg des Erlösers», aber auch «der soteriologische Sinn des christlichen Mit-Leidens neu und tiefer zugänglich»72 gemacht werden.

Damit ist nicht alles gesagt, wohl aber eine Richtung angegeben. Vielleicht ist mit dem Begriff der Verlorenheit tatsächlich ein aktueller Zugang zur Wirklichkeit der Erlösung möglich. Bei Balthasar mag der Begriff noch existenzialistisch getönt sein, heute kann man darüber hinaus an eine Orientierungslosigkeit denken, die nicht nur durch Relativierung des bislang Tragenden zustande gekommen ist, sondern auch durch eine Überfülle an Informationen, die nur schwer erkennen lässt, worauf es eigentlich ankommt, und an die durchgängige Verwischung der Grenze zwischen dem Realen und dem Virtuellen, ja zwischen Wahrheit und Lüge. Erlösung kann in einer solchen Welt erlöste Freiheit bedeuten, die sich dort einstellt, wo Menschen Klarheit und Orientierung finden – und das unter dem Vorzeichen einer unzerstörbaren Hoffnung und Geborgenheit. Ist nicht genau das die Botschaft des Evangeliums?

– Gehorsam, der gegen fragwürdige Plausibilitäten absichert

Eine Kirche, die nicht mehr das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt, muss damit rechnen, dass sie in den Sog fast übermächtiger gegenläufiger Plausibilitäten gerät, die es schwer machen, an der authentisch christlichen Glaubenslehre festzuhalten. Das ist der Punkt, an dem auf neue Weise sichtbar gemacht werden könnte, was mit dem nicht unbelasteten Begriff «Gehorsam» gemeint ist. Er steht für das Eingeständnis, dass es Wirklichkeiten gibt, die jenseits der eigenen Erkenntnismöglichkeiten liegen und nur «gegen den Strom» zugänglich sind.

Gehorsam ist ein Weg, der seine Mühen hat. Das zeigt sich gerade dann, wenn man bedenkt, dass der Begriff des Gehorsams im Neuen Testament die Existenzweise Christi bezeichnet. Mit den Worten von Balthasar: «Denn nicht durch humane und soziale Werke hat der Sohn die Welt erlöst, sondern durch das in Vergeblichkeit sich verspritzende Blut seines Kreuzesgehorsams.»73 Darauf aufbauend geht es nicht um einen blinden, auch nicht um einen sehenden und ebenso wenig um einen militärischen Gehorsam. Balthasar vertritt einen geistgeleiteten Gehorsam.74 Ein so verstandener Gehorsam «bleibt der heimliche Schatz der Kirche».75 Denn in diesem Gehorsam ist Christus «über die Sphäre des Sozialen wie des Personalen» hinausgedrungen «in die schweigende Namen- und Antlitzlosigkeit der über-, weil drei-persönlichen Gottheit».76

Der Gehorsam Jesu, der sich in seinem Sterben am Kreuz manifestiert, macht deutlich, dass der in der Neuzeit als immer ferner erfahrene Gott zugänglich ist und bleibt – freilich unter dem Vorzeichen des unfasslichen Paradoxes der Gott-Verlassenheit (vgl. Mk 15,34). Christ sein heisst, sich darauf einzulassen.

Den theologischen Sinn des Gehorsams zu behaupten, ist das eine; den Weg zum Gehorsam zu ebnen, das andere. Die alles entscheidende Frage: Wie kommt man zu dem von Balthasar geforderten geistgeleiteten Gehorsam? Wie kann vermieden werden, dass sich allzu menschliches Anordnen und Unterordnen in die Praxis des Gehorsams einmengen, ihn psychologisch zu Recht verdächtig und in der Perspektive des Glaubens wertlos machen? Versucht man eine Richtungsangabe, dann wird man wenigstens so viel sagen müssen: Der gesuchte Gehorsam ist eine Herausforderung an das geistliche Miteinander und die gemeinsame Unterscheidung der Geister.

– Unvermeidliche Einsamkeit

Was Balthasar bereits für seine Zeit formuliert hat, das gilt auch heute: Die Gegenwart der Kirche in der Gesellschaft und damit auch des Christen trägt unvermeidlich auch Züge der Einsamkeit. Sie ist «das Erdulden des Fremdseins dieser Wahrheit [der Welt], ihres Unangepasstseins an den heiligen Innenraum der göttlichen Wahrheit (…). Das Ertragen dieser Fremdheit gehört zum christlichen Leben in der Welt, ja es gehört ursprünglich zum Opfer, das Gott in der Menschwerdung bringt, und so ist die kirchliche Duldung der Toleranz zuletzt ein Teil ihres Kreuzes: das Dulden und Ertragen dieser fremden Last, wie der Herr selber sie ertrug.»77

In der Perspektive der christlichen Geschichte betrachtet ist das nichts Neues. Es geht um eine Dimension, die in einer christentümlichen Gesellschaft in den Hintergrund getreten ist und wieder entdeckt werden muss. Biblisch und bei den Kirchenvätern war sie durchaus bekannt und hat im Begriff der «Paroikia» ihren Ausdruck gefunden hat: das Fremdsein in der Welt, weil die eigentliche Heimat der Christen im Himmel ist (vgl. Phil 3,20). Das muss heute wohl erst wieder neu gelernt und eingeübt werden. Dabei geht es nicht um Aufkündigung des Engagements in der und für die Gesellschaft, wohl aber um eine kritische Sicherung kirchlicher und christlicher Identität.78

5. Ein Ausblick

An dieser Stelle sollen die Überlegungen zuerst einmal abgebrochen werden. Was den theologisch-inhaltlichen Ertrag betrifft, können Balthasars Ausführungen zusammengefasst an Henri de Lubac erinnern, der in seinem Buch «Auf den Wegen Gottes» zu Beginn des letzten Kapitels «Von der Aktualität Gottes» lapidar feststellt: «Jedesmal, wenn die Menschheit ein Denksystem aufgibt, meint sie Gott zu verlieren.»79 Ist das nicht auch heute für manche genau ihre Erfahrung? Sie meinen, Gott zu verlieren. Karl Rahner hat von «bekümmerten Atheisten»80 gesprochen.

Hans Urs von Balthasar zeigt in seinem gesamten Werk, dass man das christliche trinitarische Gottesbild mit seinem ganzen, im allgemeinen Bewusstsein oft genug unterschätzten geistlichen und intellektuellen Potenzial nehmen muss, wenn man den heutigen Herausforderungen für den Glauben und das Menschsein gerecht werden will. Trinitarisches Denken ist alles andere als müssige Spekulation, sondern Kondensat jener abgründigen Theodramatik, in der Gott sich in seinem Sohn auf die Geschichte bis in die Gottferne einlässt. Gottes Erlösungswerk, das «mysterium paschale», umfasst den Abstieg in die Scheol – und das scheint auch Gottes Präsenz in der Geschichte mit ihren Abgründen zu prägen. Wo Gott endgültig verloren zu sein scheint, im Verlassenheits-Schrei des Gekreuzigten, ist er aufs Neue im Kommen. Aus der Unfasslichkeit seiner (vermeintlichen) Ferne ist die Unfasslichkeit seiner Liebe geworden.

Schliessen wir. Hans Urs von Balthasar war kein Prophet. Aber er war ein theologischer Denker, der kraft seiner Bildung erspürt hat, was uns heute, ja erst recht heute zu denken geben kann. Und zu glauben – an den Gott, der seine Kirche führt. Schliessen wir mit einem Wort, das klärt und Mut macht. Christen «werden gebraucht. Gottes Freiheit soll ja von uns Befreiten mitvollzogen werden. Und das Christliche muss immer auch geschichtlich von einer lebendigen glühenden Mitte aus in die Welt hinausströmen, erkaltete Lava liegt genug herum.» Entscheidend ist also eine Kirche, die «sich unmittelbar um das Ereignis des Einsatzes Gottes in Christus herumlegt. Es ist die Gemeinde derer, für die das Wort nicht zur abstrakten Lehre erkaltet, sondern in der Bruderliebe und in der sakramentalen und existenziellen Communio lebendige personale und trinitarische Gegenwart ist».81 

50 Hans Urs von Balthasar: In Gottes Einsatz leben (= Kriterien 24). Einsiedeln 1971, 105.

51 Balthasar, Schleifung der Bastionen (wie Anm.3), 7.

52 Ebd., 79–80.

53 Ebd., 83.

54 Balthasar, In Gottes Einsatz (wie Anm. 50), 105.

55 Ebd.

56 Ebd.

57 Vgl. Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution «Dei Filius» (1870), DS 3014.

58 Hier sei an die Formulierung in der Kirchenkonstitution «Lumen gentium» des Zweiten Vatikanischen Konzils (Nr.1) erinnert: «Die Kirche ist ja in Christus gleichsam Sakrament.»

59 Vgl. die Ausführungen des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Pastoralkonstitution «Gaudium et spes», 11: «Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind.»

60 Balthasar, Schleifung der Bastionen (wie Anm.3), 83.

61 Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen (wie Anm. 9), 207.

62 Ebd., 210.

63 Ebd., 211.

64 Ebd.

65 Ebd., 214.

66 Ebd., 217.

67 Ebd., 224.

68 Ebd., 225.

69 Balthasar, In Gottes Einsatz leben (wie Anm.50), 113–114.

70 Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen (wie Anm.9), 194.

71 Ebd., 203.

72 Ebd.

73 Ebd., 175.

74 Vgl. ebd., 173.

75 Ebd., 175.

76 Ebd.

77 Balthasar, Schleifung der Bastionen (wie Anm.3), 67–68. Vgl. zum Thema der Einsamkeit auch Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen (wie Anm.9), 153–173.

78 Vgl. Klaus Müller: Dem Glauben nachdenken. Münster 2013, 185–186. Zur Einsamkeit vgl. auch die Ausführungen von Madeleine Delbrêl, in: Frei für Gott. Über Laien-Gemeinschaften in der Welt. Einsiedeln 1976, 73–79.

79 Henri de Lubac: Auf den Wegen Gottes. Einsiedeln 1992, 143.

80 Vgl. Karl Rahner: Schriften zur Theologie, Bd. VII. Einsiedeln 1966, 55.

81 Balthasar, In Gottes Einsatz leben (wie Anm.50), 113–114.

Bernhard Körner

Prof. Dr. Bernhard Körner ist seit 1993 ordentlicher Universitätsprofessor für Dogmatik an der Universität Graz. Er ist Konsultor der Päpstlichen Kongregation für das Katholische Bildungswesen, korrespondierendes Mitglied der Päpstlichen Theologischen Akademie und seit Dezember 2011 Mitglied des Grazer Domkapitels.