Christliche Werte - Ambivalenz eines politisierten Begriffs

Europas Staaten und Gesellschaften ringen um ihre Identitäten. Die Rede von Werten hat darin seit einigen Jahren nicht zufällig Hochkonjunktur. In Gegenwart einer hohen Flüchtlingsmigration aus überwiegend muslimisch geprägten Ländern in die deutschsprachigen Länder werden christliche Werte und die Besinnung auf die christlichen Wurzeln mit zunehmendem Pathos beschworen.

Eine Art Leitkulturdebatte ist entfacht, und das Sprechen vom Christlichen ist ein fester Bestandteil dessen geworden. Was christliche Werte sein sollen, wird von den politischen Protagonisten selten überzeugend beantwortet. Bleibt demnach die Frage, was christliche Werte sind oder sein sollen? Womöglich auch ob es so etwas wie christliche Werte überhaupt gibt? Die aktuelle Diskussion soll als Anlass dienen, darüber nachzudenken.

Der Wertebegriff

Was sind Werte? In der Ethik ist der Wertebegriff höchst umstritten und wird im deutschen Sprachraum überwiegend gemieden.1 Im Folgenden wird die Position Ludwig Sieps sowie Hans Joas’ geteilt, wonach jeder auf Vernunft basierten Universalisierung ethischer Normen bereits ein Prozess erfahrungsbasierter Wertungen vorausgeht.2 So sind Werte grob zusammengefasst Eigenschaften, Haltungen, Strebungen, nicht materielle Ziele und Zustände, die von Personen als positiv gewertet werden. Aus den Werthaltungen heraus ergeben sich Handlungspräferenzen. Kurzum: Aus einer Menge an Handlungsmöglichkeiten wird durch Abwägung die wertvollste vorgezogen.

Gegenwärtige Instrumentalisierung christlicher Werte

In Deutschland schreiben sich seit nun zwei Jahren Aufmerksamkeit erregende Gruppierungen die Verteidigung des christlichen Abendlandes ausgerechnet dort auf die Fahne, wo drei von vier Bürgern konfessionslos sind. Sogenannte bürgerliche Politiker entdecken länderübergreifend ihre Verantwortung für das christliche Erbe ihrer Länder, verbitten aber im nächsten Atemzug den Kirchen eine allzu intensive Einmischung in aktuelle politische Fragen. Insbesondere wenn es um die Themen Migration, Ökologie und globale Verantwortung geht, werden die Differenzen zwischen kirchlicher Verkündigung und einer Politik deklariert christlichen Anspruchs sichtbar. Christentum als Bekenntnis, als Glaubensgemeinschaft, zu deren Kern die Nachfolge Jesu mit all ihren ethischen Implikationen gehört, und die Definitionshoheit über das Christliche fallen hier schlichtweg auseinander.

Diesen Zustand beschrieb der Theologe Søren Kierkegaard im Jahre 1850 in Auseinandersetzung mit dem seiner Ansicht nach verbürgerlichten dänischen Staatskirchentum pointiert folgendermassen: «Die Christenheit hat das Christentum abgeschafft, ohne es selbst richtig zu entdecken (…).»3 Man rede über «Gottes Beistand im Tun des Richtigen, Edlen, Erhabenen und Wahren», ohne eigentlich zu wissen, worin dieses bestehe, so Kierkegaard.4

Der methodische Fehler liegt darin, zu tun, als könne ein bestimmter historischer Zustand mit dem Prädikat christlich charakterisiert werden. Karl Rahner forderte in den 1950er-Jahren, sich von dem Mythos zu verabschieden, es gäbe so etwas wie die eine «christliche Politik in Wirtschaft, Staatsleben und Kultur». Aus einem zutiefst christlichen Glaubens- und Geschichtsverständnis heraus mahnt Rahner, das Christentum als solches mit einer «bestimmten, gewesenen Konkretion dieses Christentums» nicht zu verwechseln.5

Das normativ Christliche kann und darf nicht mit seiner deskriptiven Konkretion zu einem geschichtlichen Zeitpunkt unter geschichtlich kontingenten Umständen verwechselt werden. Die Erfahrung einer gänzlich sakralisierten Wirklichkeit, deren Verirrungen von Christen ihrer Zeit mitgetragen wurden, bleiben eine schmerzliche und demütigende Erinnerung für die Kirche. Dennoch gilt: Wer einst im Namen Gottes zur Barbarei aufrief, der hat die Verkündigung Jesu als einzige Norm des Christlichen genauso gegen sich wie Menschen, die heute im Namen christlicher Werte Ausgrenzung und Abschottung gegenüber an Leib und Leben bedrohten Menschen fordern.6 Es sind jene falsche Propheten, vor denen schon das Neue Testament warnt (Mt 24,4; 1. Joh 2,4). Als Antwort auf gesellschaftliche Ängste vor Auflösungserscheinungen in schwierigen und unsicheren Zeiten7 taugt die Berufung auf christliche Werte jedenfalls nicht.

Wie das Christliche in die Werte kommt

Was zeichnet die viel zitierten christlichen Werte aus? Wie lässt sich das Christliche in der Formulierung und Hierarchisierung von Werten artikulieren, ohne dabei in die Apologie zu verfallen? Im Zentrum der neutestamentlichen Offenbarung steht die Verkündigung der Heilsbotschaft. In politisch höchst explosiven Zeiten konkretisiert sich der Gott Israels als fleischgewordene, sprich sinnlich von allen wahrnehmbare Selbstaussage. Zur frohen Botschaft und der Hoffnung, die Jesus gibt, gehört nicht nur die Predigt vom Gottesreich, sondern auch die zahlreichen Wunderhandlungen.

Der Neutestamentler Gerhard Lohfink beschreibt die Einheit der geistlichen und leiblichen Integrität des Menschen in der Intention Jesu am Beispiel von Lk 6,21 folgendermassen: «Den Hungernden versprechen, dass sie satt werden – das kann und darf man nur, wenn man das Reich Gottes nicht erst im Jenseits und nicht erst in einer ungewissen Zukunft erwartet, sondern in einer Zukunft, die bereits beginnt.»8 Konkret heisst das: Das Evangelium ernst nehmen bedeutet ganzheitliche Nachfolge. Glaube und Handlungsauftrag, Gottes- und Nächstenliebe sind nicht voneinander zu trennen. Eine Kirche, die sich mit sich selbst beschäftigt und sich dabei «nur halbherzig am Aufbau der Welt beteiligt»,9 verbietet sich genauso wie eine einseitig politisierende Kirche, die ihren Weltauftrag dem Schein nach vom Glaubensfundament abkoppelt. Christliche Werte sind also immer auch so zu formulieren, dass sie den humanisierenden Auftrag für die Welt kenntlich machen.

Theoretisch stimmen Werten wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit nahezu alle zu, worin liegt dann der christliche Mehrwert? Der Christ ist dem Nichtgläubigen um die österliche Hoffnung voraus. Der Mensch, der im eschatologischen Bewusstsein lebt, sollte nicht nur so leben, dass er einmal vor Gottes Angesicht bestehen kann,10 sondern kann seine Beziehungen und die Welt befreit vom Druck der eigenen personalen Endlichkeit gestalten. Die Gewissheit im Letzten, die nach Romano Guardini Gelassenheit im Vorletzten gibt, ist keine Einladung zur Passivität, sondern die Lebensversicherung des Mutigen für die Sache Gottes und damit das Gegenteil der marxistischen Religionskritik. Hoffen zu können, ist ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen, «der als endliches Wesen existiert, das auf seine Erfüllung hin angelegt ist, die alle Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten übersteigt.»11 Der auf die transzendente Verheissung Gottes hoffende Mensch bleibt gegenüber der Immanenz nicht neutral, sondern hat kritisch-befreiend in jene gesellschaftlich-politische Wirklichkeit hineinzusprechen.12

In den wohlhabenden Staaten Europas ist es derzeit en vogue, Ängste und Sorgen (um den erreichten Status quo) zu artikulieren und Verlust-oder Identitätsängste zu kultivieren. So sind die humanitären Krisen der Welt unlängst zur Gretchenfrage an den christlichen Kontinent und seine Kirche geworden, die auch regelmässig und nachdrücklich von Papst Franziskus angesprochen wird.13

Der Wert des Christlichen in heutiger Zeit

Der technische, medizinische und ökonomische Fortschritt sowie die komplexer werdenden Konflikte auf der Welt konfrontieren die Gesellschaft mit immer neuen Anfragen. Der Mensch kann jeden Tag mehr und komplexere Sachverhalte berechnen, vorhersagen, erklären und entsprechend modifizieren. Dadurch partizipieren entgegen gegenteiligen Meinungen immer mehr Menschen auf der Welt an materiellem Wohlstand, die Kinder- und Säuglingssterblichkeit sinkt und der Ressourcenverbrauch gestaltet sich zunehmend effizienter. Zu beobachten ist allerdings auch, dass jene Rationalisierung und Ökonomisierung zunehmend Beziehungen von Menschen und Staaten untereinander sowie den Blick auf das Leben an sich bestimmt. Und doch erkennen immer mehr Menschen die Grenzen des Machbaren und dass ein würdiges Leben «für alle Menschen sich nicht mit den Mitteln der Planung und Organisation»14 herbeiführen lässt.

Man ist geneigt zu glauben, Frieden und Gerechtigkeit formelhaft herbeiorganisieren zu können. Politische Resolutionen, Deklarationen oder Sanktionen tragen gegenwärtig nur begrenzt nachhaltig dazu bei, dass sich Menschen und Völker versöhnen oder die Natur und das Klima der Erde geschont werden. Dabei werden die organische Dimension des Zwischenmenschlichen und die Tugenden, die wachsen müssen und sich nicht aufdrängen lassen, verkannt. Es ist eine ununterbrochene Aufgabe der Christenheit, aus biblischer und historischer Erfahrung Wege des Vertrauens und der Versöhnung mit den Menschen guten Willens zu gehen. Der erste Ort des Christlichen, seiner Sichtbarkeit und der Weitergabe christlicher Werte ist nicht der Staat, sondern die Kirche in ihren Vollzügen als Gemeinde und auch als Familie.15 Die Gefahr einer «Selbstprivatisierung des Christentums»16 stellt sich erst, wenn es seinen Sendungsauftrag für die Welt nicht annimmt oder annehmen will. Die Gemeinschaft ist der Ort der notwendigen Selbstvergewisserung im Christlichen und nicht dessen Selbstbeschränkung. Wo die Selbstvergewisserung nämlich ausfällt, da entsteht Kulturchristentum, wo Menschen sich nicht über die Passivität gegenüber vermeidbarem Leid empören, sondern christliche Werte durch Lebkuchen und Spekulatius in den Spätsommermonaten gefährdet sehen.

 

1 Zu den unterschiedlichen Positionen und ihrer Begründungen vgl. Ludwig Siep, Konkrete Ethik, Frankfurt a. M. 2004, S. 124–159.

2 Vgl. Ludwig Siep, a.a.O., S. 173–195; Hans Joas, Die Sakralität der Person, Berlin 2005.

3 Søren Kierkegaard, Einübung im Christentum, München 42014, S. 74.

4 Ebd.

5 Karl Rahner, Sendung und Gnade, Innsbruck 1959, S. 21 (Hervorhebungen D.W.).

6 Daniel Kosch, Christliche Werte, NZZ vom 9. August 2016, S. 11.

7 Vgl. Gerhard Lohfink, Die Verharmlosung Jesu, Freiburg 2013, 398.

8 Ebd., S. 65.

9 Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg 2005, S. 139.

10 Ebd., S. 139.

11 Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, Freiburg 2014, S. 267.

12 Johann Baptist Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz- München 1968, 143.

13 Vgl. z. B. Ansprache von Papst Franziskus an das Europaparlament vom 25. November 2015: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/november/documents/papa-francesco_20141125_strasburgo-parlamento-europeo.html sowie die Ansprache von Papst Franziskus an die polnische Regierung anlässlich des Besuches beim Weltjugendtag in Krakau vom 27. Juli 2016: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2016/july/documents/papa-francesco_20160727_polonia-autorita-cd.html

14 Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen, Freiburg- München, 2012, S. 9.

15 Vgl. Papst Franziskus, Amoris Laetitia, 87.

16 Johann Baptist Metz, Memoria passionis, Freiburg 2006, S. 203f.

Dorian Winter | zVg

Dorian Winter

Dorian Winter ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Theologische Ethik und Sozialethik an der Universität Luzern.