Weg zu globalem Universalismus

Ich glaube, sie wäre eine gute Idee» – antwortete Mahatma Gandhi bekanntlich mit einem unverkennbaren ironischen Unterton auf die Frage eines Reporters nach seiner Meinung über die «Zivilisation des Westens» angesichts der Kluft zwischen Theorie und Praxis. Auf das Recht zur globalen Verbreitung bzw. Durchsetzung der so genannten westlich-christlichen Zivilisation bezog sich das kolonial-imperialistische britische Projekt in Indien im 19. Jahrhundert wie die spanische Eroberung und Evangelisation der Neuen Welt Amerika in der Frühen Neuzeit. Nicht zuletzt aufgrund der uns heute klar gewordenen Schattenseiten der kolonialen Europäisierung der Welt ist das Selbstbewusstsein früherer Zeiten bei vielen Europäern eher einer Nachdenklichkeit gewichen. Nicht selten neigen sie dann zur Selbstzerfleischung und zweifeln daran, ob es wirklich «europäische» Werte gibt, die der Universalisierung würdig wären. Andere scheinen wiederum angesichts der Migration zu militant von «christlichen» Werten zu sprechen, deren bedingungslose Annahme sie von den Neueuropäern zumindest bei uns verlangen.

Unterscheidungen in der Migrationsdebatte

Wie bei allen Debatten um wichtige Dinge täten wir auch in der Migrationsdebatte gut daran, jene Teilnehmer mit einer eher defensiven, ängstlichen Haltung in Sachen Migration nicht allzu schnell mit der Moralkeule zu disqualifizieren. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie angesichts des grossen kulturellen Wandels unserer Zeit um die Zukunft des eigenen Landes, ihrer vertrauten kulturellen Welt berechtigterweise besorgt sind, aber für gute Argumente und Taten empfänglich wären – etwa wenn sie sähen, dass sich die Einwanderer quantitativ in Grenzen halten und nicht nur um die Pflege der eigenen kulturell-religiösen Identität bemühen, sondern auch um Inkulturation in die herkömmliche Werteordnung des Aufnahmelandes.

Die Migration ist ein Faktum, das politisch gestaltet werden muss. Die Frage ist nur wie. Die einen sind mit dem amerikanischen Rechtsphilosophen Bruce A. Ackerman der Meinung, «dass der Staat nicht wie ein privater Klub aufzufassen sei und dass er kein Recht habe, Ausländern zu verbieten einzuwandern: der blosse Umstand, schon früher dagewesen zu sein, sei ebenso wenig wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder Nation ein moralischer Grund, anderen Zugang und Teilhabe zu verweigern».1 Das dachte tendenziell bereits der Salamanca-Theologe Francisco de Vitoria (&#134 1546) im Entdeckungszeitalter, um die europäische Expansion mit einem universalen «Migrationsrecht» zu legitimieren. Aber er machte immer wieder diese heute noch bedenkenswerte Einschränkung der freien Einwanderung: «sofern den Einheimischen dadurch keine Nachteile oder Schaden erwachsen».2 Die Frage ist nicht nur, wer darüber entscheidet, sondern ob wir in einer globalisierten Welt «Nachteile und Schaden» nur im Sinne des partikularen nationalen Gemeinwohls verstehen dürfen, oder ob dies vielmehr – vor allem im Falle von Flucht aus Kriegsregionen oder menschenunwürdigen Lebensbedingungen – nicht auch im Sinne des Weltgemeinwohls der ganzen Menschheitsfamilie abzuwägen wäre, wie die katholische Kirche immer wieder ermahnt. Dieser Kontroverse muss man sich heute in der Migrationsdebatte ernsthaft stellen.

Es gibt freilich auch Positionen, die in der globalisierten Welt wenig Aussicht auf Plausibilität haben dürften. Etwa wenn man mit Luis de Molina (&#134 1600) die Meinung vertritt, «dass ein souveräner Staat berechtigt sei, jede Einwanderung und jeden Handel der Ausländer zu verbieten, ohne Rücksicht darauf, ob die Zulassung der Ausländer Schaden oder Nutzen gebracht hätte».3 Oder wenn man mit den xenophoben Ethnopluralisten der neuen Rechte, die sich seit den 1980er-Jahren u. a. durch die Werke von Alain Benoist4 bemerkbar machen und das universalistische christliche Menschenbild in Frage stellen, die Migrationen als grosses Übel betrachtet, da sie zur «Unterwanderung» beziehungsweise «Überfremdung» führen.

In den modernen Gesellschaften ist die Begegnung mit den Fremden mehr denn je eine alltägliche Herausforderung geworden, die wir grundsätzlich als Chance zur Bereicherung wahrnehmen sollten. Der jüdische Religionsphilosoph Elie Wiesel hat dies auf den Punkt gebracht: «Wer ohne Kontakt mit einem Fremden lebt, führt ein ärmeres Leben, und wer durch die Gegenwart eines Fremden nicht immer wieder angestachelt wird, über Sinn und Ziel von Existenz und Koexistenz nachzudenken, erlebt nur eine Art verkürzter Existenz.»5 Hier klingt eine biblische Tradition durch, die in der Wahrnehmung des Fremden als Sakrament der Christusbegegnung (vgl. Mt 25,35) eine christliche Wende findet.

Globaler Universalismus

Die Migrationsdebatte ist ein Epiphänomen der philosophisch grundlegenderen Debatte um den Werte- Universalismus. Der amerikanische Historiker und Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein tritt für einen «wahrhaft globalen, universellen Universalismus» anstelle des «europäischen Universalismus» ein. Nach dem Letzteren habe nur die europäische Zivilisation mit ihren Wurzeln in Athen, Jerusalem und Rom die «Moderne» hervorgebracht, die per defitionem als Verkörperung der wahren universellen Werte, des Universalismus galt, während in den anderen Hochkulturen immer etwas existiere, «was mit dem allgemeinen Marsch in Richtung der Moderne und des wahren Universalismus» nicht vereinbart sei.6 Im Namen von Parolen wie «Menschenrechte», «Demokratie» oder «Kampf der Kulturen» treten heute viele in Wirklichkeit für die Durchsetzung des europäischen Universalismus ein, d. h. für die Verteidigung der Interessen «der herrschenden Schichten des modernen Weltsystems»,7 nicht aber für die Schaffung eines globalen Universalismus des Guten auf der Basis der gemeinsamen, egalitären Suche nach wahrhaft universellen Werten. Das Ringen um solche Werte ist für Wallerstein «das grosse moralische Unternehmen der Menschheit».8

Damit und mit der Warnung vor der Partikularismus/Relativismus-Gefahr in diesem Prozess steht Wallerstein nicht allein da, wie die Debatte über die Universalisierung der Menschrechte zeigt – aber auch die Diskussion von Hans Küngs Weltethos-Projekt. Und der spätere Papst Joseph Ratzinger sprach von der «notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen».9 Ohne falschen Eurozentrismus ging er davon aus, dass der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität die wichtigsten Hauptpartner in dieser Korrelationalität sind, denn beide bestimmen die Weltsituation in einem Mass wie keine andere der kulturellen Kräfte: «Aber das bedeutet doch nicht, dass man die anderen Kulturen als eine Art ‹quantité négligeable› beiseite schieben dürfte. Dies wäre nun doch eine westliche Hybris, die wir teuer bezahlen würden und zum Teil schon bezahlen. Es ist für die beiden grossen Komponenten der westlichen Kultur wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Korrelationalität auch mit diesen Kulturen einzulassen. Es ist wichtig, sie in den Versuch einer polyphonen Korrelation hineinzunehmen, in der sie sich selbst der wesentlichen Komplementarität von Vernunft und Glaube öffnen, so dass ein universaler Prozess der Reinigungen wachsen kann, in dem letztlich die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können, (...), was die Welt zusammenhält.»10

Die Kirche als Hüterin der Menschheitsfamilie

Auf der Suche nach dieser polyphonen Korrelation hat die katholische Kirche seit dem Konzil universalistische Akzente gesetzt, indem sie sich als Hüterin der Menschheitsfamilie versteht. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (Nr. 84) spricht das Konzil von der «wachsenden gegenseitigen engen Abhängigkeit aller Menschen und aller Völker auf dem ganzen Erdkreis», die die Suche nach dem «weltweiten Gemeinwohl» dringend nötig mache.

Papst Franziskus sprach gleich zu Beginn seines Pontifikates von der «Berufung zum Hüten», die nicht nur die Christen angeht, sondern «alle betrifft». Dementsprechend versteht er das Papstamt nicht nur als ökumenischen Liebesdient in der Christenheit, sondern als universalen «Dienst zum Hüten» der Menschheitsfamilie. Der Papst soll die Arme ausbreiten, «um das ganze Volk Gottes zu hüten und mit Liebe und Zärtlichkeit die gesamte Menschheit anzunehmen, besonders die Ärmsten, die Schwächsten, die Geringsten, diejenigen, die Matthäus im Letzten Gericht über die Liebe beschreibt: die Hungernden, die Durstigen, die Fremden, die Nackten, die Kranken, die Gefangenen (vgl. Mt 25, 31–46)».11

Perspektivenwechsel

Darin klang schon der Beitrag von Christen auf der Suche nach einem wahrhaft globalen Universalismus der Werte durch. Es geht zunächst und vor allem um einen Perspektivenwechsel im Sinne der prophetisch-messianischen Tradition, die Jesus selbst (vgl. Lk 4,16–21) verkörpert. Der Perspektivenwechsel kann Christen zu wachrüttelnden Zeichen führen, zum Stellen von grundlegenden Fragen, wie sie etwa der Predigerbruder Antón Montesino 1511 zu Beginn des «europäischen Universalismus» als koloniales Projekt tat: «Mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indios in solch grausamer und entsetzlicher Knechtschaft? (…) Sind sie etwa keine Menschen? (…)»12

Aber «Moralpredigten» dürften in der säkularen Moderne wenig Gehör finden. Viel wichtiger wäre, dass sich Christen angesichts der Migration im Geiste der Bergpredigt (Mt 5,1–48) und der Gerichtsrede Jesu (Mt 25,31–46) um jene «Kultur der Barmherzigkeit» bemühen, der wir den Erfolg des Christentums in der Antike verdanken – und ohne die die abendländische Geschichte nicht denkbar wäre. Denn darin ist u. a. die «sittliche Gleichheit» aller Menschen begründet, die die Gleichheit vor dem Gesetz ermöglicht.13

Eine wirklich gute Idee

Ja, Mahatma Gandhi hatte Recht: Eine von der Bergpredigt und Gerichtsrede Jesu geprägte westliche Zivilisation wäre eine gute Idee. Sie war es auch, als Christen den Mut hatten, den europäisch-kolonialen Universalismus selbstkritisch in Frage zu stellen und ohne Ansehen der Person für die Leidenden jenseits der Schranken von Nation, Rasse, Klasse und Religion Partei zu ergreifen. Zu einem solchen Mut waren die antiken Weltreiche nicht fähig; und man vermisst ihn heute in anderen Kulturkreisen, sonst würden die – nicht nur muslimischen – Flüchtlinge in den reichen Golfstaaten mit offenen Armen empfangen werden. Man vermisst in der islamischen Welt, dass höchste religiöse Autoritäten sich ähnlich advokatorisch wie Johannes Paul II. äussern, der die Christen aufgefordert hat, Anwälte der Rechte der anderen zu sein: «Erhebt eure Stimme, wenn die Menschenrechte Einzelner, von Minderheiten und von Völkern verletzt werden, nicht zuletzt auch das Recht auf Religionsfreiheit (…), befasst euch nach Massgabe von Gerechtigkeit und Unparteilichkeit und im Geiste einer grossen Solidarität mit dem wachsenden Phänomen der Migration, damit sie eine neue Quelle für die europäische Zukunft werde.» (Ecclesia in Europa, Nr. 115) Die globale Werte-Asymmetrie dispensiert uns aber nicht vom Ringen um die Globalisierung wahrhaft universeller Werte – ebenso wenig von der Respektierung derselben in unseren Ländern.

Einheit von Politik und Moral

Man wird gewiss einwenden, dass sich mit der Bergpredigt oder der Gerichtsrede Jesu nicht regieren lässt – und das stimmt. Das Christentum enthält kein konkretes politisches Programm. Die Bergpredigt ist vielmehr ein Appell an die «grössere Gerechtigkeit» (Mt 5,30), zu der diejenigen berufen sind, die den Weg der «Vollkommenheit» gehen wollen (Mt 5,48). Die Politik ist aber nach einem bekannten Diktum Bismarcks die Kunst des Möglichen, nicht des Vollkommenen. Das kluge, kompromissbereite Abwägen angesichts der gegebenen Möglichkeiten gehört also wesentlich dazu. Nun, dass die Grenzen des Möglichen nicht nur durch dessen Machbarkeit (wie manche in den bioethischen Fragen meinen) oder durch den (populistischen) Willen zur Macht markiert sind, sondern auch durch Moral und Gewissen, ist das unterscheidend Christliche in der Politik.

Christlich geprägte Politiker wären gut beraten, in der Wertedebatte Farbe zu bekennen; denn die Bruchlinien heutiger Politik sind eher darin als in den Wirtschaftsfragen zu erkennen. Sie sollten die politische Tätigkeit nicht auf «bürgerliche Nutzanwendung» reduzieren, sondern den prophetischen Stachel des Christentums nicht vergessen, d. h. die vorrangige Sorge um die Schwächsten – auch im globalen Massstab.

Christliche Politiker sollten nach einem bekannten Bibelwort das Kunststück vollbringen, «klug wie die Schlangen» und zugleich «ohne falsch wie die Tauben» (Mt 10,16) zu sein. Immanuel Kant meinte bekanntlich, der erste Ratschlag komme von der Politik, der zweite «als einschränkende Bedingung» von der Moral.14 Beides zusammenzuhalten ist in der Wertedebatte angesichts der Migration auch nötig.

 

1 Vgl. B. A. Ackerman, Sozial Justice in the Liberal State, New Haven 1980, Paragr. 17ff. Hier zitiert nach E. Tugendhat, Asyl: Gnade oder Menschenrecht?, in: K. Barwig / D. Mieth (Hrsg.), Migration und Menschenwürde, Mainz 1987, 79.

2 F. de Vitoria, Relectio de Indis (Corpus hispanorum de pace 5), Madrid 1967, 77–84.

3 Hier zitiert nach J. Höffner, Christentum und Menschenwürde, 1947, 240.

4 Vgl. seine Hauptwerke: Aus rechter Sicht, Tübingen 1983/1984; Heide sein. Zu einem neuen Anfang. Die europäische Glaubensalternative, Tübingen 1982.

5 E. Wiesel, Macht Gebete aus meinen Geschichten. Essays eines Betroffenen, Freiburg 1986, 89.

6 I. Wallerstein, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2007, 43.

7 Ebd., 8.

8 Ebd., 38.

9 Vorpolitische moralische Grundlagen eines einheitlichen Staates. Stellungnahme Joseph Kardinal Ratzinger, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 34 (2004), Heft 1, V.

10 Ebd., Vf.

11 http://www.vatican.va/holy_father/francesco/homilies/2013/documents/papa-francesco_20130319_omelia-inizio-pontificato_ge.html (8.7.2016).

12 B. de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 2: Historische und ethnographische Schriften, hg. von M. Delgado, Paderborn 1995, 226.

13 Vgl. R. Stark, Le triomphe de la raison. Pourquoi la réussite du modèle occidental est le fruit du christianisme, Paris 2007, 119.

14 I. Kant, Über die Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden, in: ders., Werke in zwölf Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1977, 229.

Mariano Delgado

Mariano Delgado

Prof. Dr. Dr. Mariano Delgado ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Fribourg und leitet das Institut für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog.