Christlich-spirituelles Design von Beratungsprozessen (3)

awakening

Für mich ist Beratung eine spirituelle Handlung. Sie kann z. B. Versöhnung sein.» «Ich achte das Göttliche in mir.» «Ich bin immer Pfarrer, auch als Berater. Spiritualität ist für mich eine Frage der Haltung, ob ich mir vorher Zeit nehme für eine persönliche Übung, für eine Einstimmung als Vorbereitung.» «Meine Spiritualität kann ich nicht ablegen. Von daher kann ich Klienten ein Angebot machen mit der Offenheit, dass die Klienten auch ablehnen. Dies spreche ich im Kontaktgespräch an.» «Je spiritueller ich werde, desto erfolgreicher werde ich als Supervisor.» Soweit eine kleine Auswahl der Aussagen von Kolleginnen und Kollegen einer Supervisionsgruppe der Gemeindeberatungsarbeitsgemeinschaft der Erzdiözese Freiburg. Ich hatte lediglich eine kurze Rückfrage nach der eigenen Erfahrung mit Spiritualität in Prozessen der Gemeindeberatung gestartet und war erstaunt, welch dichte Atmosphäre der Selbstreflexion entstand.

Spiritualität ist lernbar

Im bisherigen Text wurde Spiritualität als «Ressource» bezeichnet, als «Energie», als «Technik im Führen und Beraten». Inhaltlich bleibt Spiritualität grundsätzlich nicht festgelegt, sondern offen für deren Füllung durch das konkrete Klienten- bzw. Beratungssystem: «Es ist hilfreich, die Antennen auszufahren. Das Verarbeiten des Feedbacks der Gefühle ist ein zentraler Aspekt der Spiritualität und ist lernbar. Wege und Methoden gibt es so viele wie Menschen: Meditieren, ZEN, Achtsam sein, rationale und emotionale Situationsanalyse.»1

Doch ist das alles? Im christlich-kirchlichen Kontext bringen viele Beratende spirituelles Know-how mit, sei es durch die eigene spirituelle Praxis oder durch theologische Kompetenz. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für Klientensysteme. Gleichzeitig stehen wir im Kontext reicher Tradition, seien es visionäre biblische Bilder unserer Hoffnung oder spirituelle Kompetenzen der Achtsamkeit in Kontemplation und Gebet. Organisationsberatung ist gut beraten, diese Kontexte ernst zu nehmen und ihre positive Kraft in Beratungsprozessen entfalten zu lassen. Wichtig erscheint dabei, sich als Berater bzw. Beraterin ausdrücklich im Kontrakt die Genehmigung vom Klientensystem zu holen, einen Beratungsprozess spirituell zu gestalten.

Der Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln

Eine kostbare Möglichkeit des Designs eines Beratungsprozesses aus christlicher Spiritualität besteht im methodischen Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln. Als pastoraler Mitarbeiter der Südandenkirche in Peru durfte ich an einer kirchlichen Praxis teilhaben, die über Jahrzehnte mit Hilfe dieser Methode einen kollektiven Prozess der permanenten Evaluation und des Suchens nach den Zeichen der Zeit lebte.2 Zentrale Begriffe einer Theologie, die auf der Basis der Reflexion solcher Praxis entstanden ist, sind Erfahrung, Kontext, Inkulturation und Befreiung.3 Sehen – Urteilen – Handeln stellt auch in Beratungsprozessen in europäischer Kirche ein fruchtbares Design dar.

Der methodische Dreischritt lässt sich als Gemeinde stiftende Methode der «Revisión de vida» («Überprüfung des Lebens»)4 bezeichnen, deren Ursprung in der Christlichen Arbeiterjugend Frankreichs des 19. Jahrhunderts liegt. Als solche hat sie in Teilen der lateinamerikanischen Kirche Bedeutung,

in verschiedenen apostolischen Bewegungen bzw. Jugend- und Erwachsenenverbänden und in den vom einfachen Volk gebildeten Basisgemeinden und Reflexionsgruppen. «Revisión de vida» (Überprüfung des Lebens) ist die zentrale Methode jeder Zusammenkunft, in der reihum alle Einzelne ihr Leben zur Diskussion stellt. Das konkrete Leben der Menschen in seinen persönlichen, psychischen, sozialen, ökonomischen und politischen Verflechtungen wird von der christlichen Gemeinde wahrgenommen (sehen), im Lichte des Wortes Gottes angeschaut (urteilen) und im Handeln verändert (handeln). Im lateinamerikanischen Kontext wird die Methode zu einem Fünfschritt ergänzt: Sehen – Urteilen – Handeln – Auswerten – Feiern.

Als auf das Handeln ausgerichtete pastorale Methode hat sich der Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln in verschiedenen Ortskirchen Lateinamerikas etabliert. Dies spiegelte sich in den Schlussdokumenten der Vollversammlung des lateinamerikanischen Episkopates in Medellín/Kolumbien 1968, in Puebla/Mexiko 1979 oder in Aparecída (Brasilien) 2007. An letzterem Dokument hat auch der damalige Kardinal Jorge Mario Bergoglio mitgearbeitet. Eine Rezeption dieses pastoralen Vorgehens in Europa zeigt sich z. B. im Arbeitsinstrument für pastorales Handeln im Bistum Basel (1993): «Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit».

Methode der lateinamerikanischen Theologie

Sehen – Urteilen – Handeln stellt als induktive theologische Methode der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung eine Reflexion auf drei Ebenen dar: Die sozialanalytische Vermittlung blickt in die Richtung der Welt des Unterdrückten. Sie sucht zu verstehen, warum der Unterdrückte unterdrückt ist. Die hermeneutische Vermittlung blickt in die Richtung der Welt Gottes. Sie bemüht sich, zu entdecken, welches der göttliche Plan hinsichtlich der Armen ist. Die praktische Vermittlung ihrerseits blickt in die Richtung des Tätigwerdens und sucht die Richtlinien des Handelns zu entdecken, durch das in Übereinstimmung mit dem Plan Gottes die Unterdrückung überwunden werden soll.5

Die Option Jesu

Zentraler Massstab im Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln ist die Option Jesu. Sie lässt sich als Option für die Armen und die Menschen am Rande verstehen, deren Leben bedroht oder gar im Horizont des Reiches Gottes (Mt 6, 33) beeinträchtigt ist. Dies fragt an die eigene Option zurück, gleichgültig, ob wir bewusst eine solche getroffen haben oder unbewusst einer solchen nachgehen – im Schritt Sehen: Welches ist unser eigener sozialer Ort? Wessen Interessen/Perspektiven sind leitend in der Auseinandersetzung? Im Schritt Urteilen: Beurteilen wir die heutigen Verhältnisse aus der Optik Jesu? Im Schritt Handeln: Wem dient unser Handeln? Auf wessen Seite stehen wir?

Die Ignatianische Unterscheidung der Geister

Ein weiteres Design für einen Beratungsprozess, der aus dem Reichtum christlicher Spiritualität schöpft, lässt sich in der sog. Unterscheidung der Geister nach Ignatius von Loyola finden. Verschiedene Veröffentlichungen jesuitisch geprägter Denker und Praktiker versuchen die «Geistlichen Übungen» bzw. «Exerzitien»6 des Ignatius für die heutige Theorie und Praxis der Kommunikation fruchtbar zu machen.7 Kurz seien hier einige Überlegungen von Bernhard Waldmüller referiert, die aus seiner Mitarbeit in der Fachgruppe «Spirituelle Leitungskultur» entstanden sind, die versucht, Anliegen und Ansätze geistlicher Begleitung und Unterscheidung mit denen der Organisationsberatung und Supervision zusammenzuführen.8

Waldmüller geht von der Analyse der «Beratung der ersten Väter» aus, d. h. vom historisch dokumentierten Entscheidungsprozess der Zehnergruppe um Ignatius von Loyola im Frühjahr 1539, der zur Gründung des Jesuitenordens führte.9 Aus diesem exemplarisch-spirituellen Entscheidungsprozess entwickelt er sein Modell des Entscheidens als spiritueller Prozess in Glaubensgemeinschaften.10 Dabei weist er ausdrücklich darauf hin, dass die Entscheidung für einen spirituell gestalteten Prozess nicht von der handwerklichen Professionalität der Prozessbegleitung entbindet: «Das Vertrauen darauf, dass Gott in der Kraft seines Heiligen Geistes in einer Glaubensgemeinschaft am Wirken ist, ersetzt die menschliche Qualität des Prozesses nicht, sondern im Gegenteil: Es setzt sie voraus! Die Sitzung wird klar geleitet und die Sachlage präzise umschrieben, die Alternativen sind offengelegt, und die Einzelnen bemühen sich eigenverantwortlich, möglichst vorurteilsfrei hinzuhören: Das sind die Bedingungen, die dem Heiligen Geist das Wirken erleichtern, ja ermöglichen.»11 Ein Entscheidungsprozesses nach der ignatianischen Spiritualität ist von folgenden Haltungen getragen: Bei der Entscheidung sollen Herz und Verstand gleichwertig eine Rolle spielen, sollen Sach- und Gefühlsebene miteinander integriert werden, denn der Mensch ist nicht nur ein Vernunftwesen, und der Zugang zu den Emotionen setzt die nötige Handlungsenergie frei. Als Schlüsselmoment des spirituellen Entscheidens betrachtet Waldmüller eine Grundhaltung des Hörens auf Gott, auf mich selbst und auf die anderen: «Ein wichtiger Schritt ist also, alle anzuhören – und nicht sofort ins Diskutieren zu geraten. In jedem Entscheidungsprozess braucht es eine Phase, in der Argumente und Beweggründe einfach gesammelt und zur Kenntnis genommen werden und nur Verständnisfragen erlaubt sind … Man soll versuchen, alles anzuhören und zu prüfen, ob nicht doch Wahres und Wichtiges darin ist; zugleich soll man sich Rechenschaft darüber geben, warum etwas verletzt oder bedroht, wütend macht oder traurig.»12

Nach Waldmüller bedarf es einer weiteren wichtigen Grundhaltung im spirituellen Entscheidungsprozess: Indifferenz bzw. das Bemühen um innere Freiheit. Mit Indifferenz ist «nicht Gleichgültigkeit gegenüber Situationen des Entscheidens (gemeint), sondern eine möglichst grosse Freiheit gegenüber inneren Festlegungen. Diese Freiheit ermöglicht mir, mich auf Neues und Ungewohntes einzulassen».13 Hilfreiche Fragen zur Überprüfung der Haltung der Indifferenz sind nach Ignatius von Loyola folgende: «Würde ich ebenso entscheiden, wenn ich bei diesem Projekt nicht selbst beteiligt wäre, sondern nur von aussen der Gruppe Rat gäbe? Wenn ich mir vorstelle, ich blicke in 20 oder mehr Jahren auf die heutige Situation zurück: Wie würde ich gerne entschieden haben? Wenn ich einem Freund raten müsste, der vor meiner Entscheidung steht: Was würde ich ihm sagen?»14 Damit eine nachhaltige, von allen getragene Entscheidung getroffen werden kann, braucht es Zeit. Es ist Aufgabe der Leitung, für den nötigen Zeitrahmen zu sorgen und eine Kultur des gemeinsamen Entscheidens wachsen zu lassen.15

Ein spiritueller Entscheidungsprozess in einer Organisation bedarf nach Waldmüller einer ausdrücklichen und bewussten Entscheidung: «Für gemeinsames Entscheiden, das zugleich ein spiritueller Prozess sein soll, ist … ein Konsens darüber unabdingbar, dass man sich als Gemeinschaft im Glauben versteht und den Weg des Entscheidens vor Gott und mit Gott gehen will.»16

Schlussfolgerungen für die Organisationsberatung

Mit Hilfe von Begriff und Konzept Spiritualität lässt sich in Organisationen etwas Zentrales in den Blick nehmen: das Verbindende der verschiedenen Aspekte, den «Schmierstoff» zwischen den Subsystemen einer Organisation, den gemeinsamen Geist, die organisatorische Mentalität, sinnstiftend, verbindend und gleichzeitig das Hier und Jetzt transzendierend.

Eine Organisation kann «ihre Spiritualität» bewusst formulieren («formelle Spiritualität») oder dies nicht tun («informelle Spiritualität»). Existieren tut sie ohnehin.

Spiritualität spielt in der Organisationsberatung auf drei Ebenen eine Rolle: als Spiritualität des Beraters bzw. der Beraterin, als Spiritualität der Klienten bzw. Klientinnen und als Spiritualität des Klientensystems.

Als Berater/in von Organisationen gilt es immer wieder, sich selbst Rechenschaft über die eigene Spiritualität zu geben, aber auch aufmerksam bezüglich der Spiritualität des Klientensystems und seiner Subsysteme zu sein.

Organisationsberatung lässt sich an Hand ihres zugrundeliegenden Menschenbildes als einen «spirituellen Prozess» verstehen, der dialogisch, wertschätzend, die Autonomie der Beteiligten achtend und wahrend, die Ressourcen des Klientensystem freisetzt – optimistisch und zukunftsoffen, den jeweiligen Menschen zutrauend – konstruktiv und kreativ Lösungen sucht und damit Prozesse der Veränderung gestaltet.

Als Berater/in in Veränderungsprozessen gilt es, den Menschen Möglichkeiten zu eröffnen, Zugang zu eigenen Ressourcen zu finden. Spiritualität als ganz persönliche Quelle der beteiligten Menschen, aber auch als das sinnstiftende Verbindende einer Organisation stellt eine Ressource ersten Ranges mit hoher Energie dar. Der Beratungsprozess wird umso energievoller, je mehr es ihm gelingt, an diesen spirituellen Ressourcen anzudocken.

Im Erstkontakt einer Beratung gilt es grundsätzlich, die spirituelle Perspektive auf das Geschehen als eine Möglichkeit der Wahrnehmung und als ein Angebot der beratenden Person zu benennen und die Erlaubnis zu einem ausdrücklich spirituellen Vorgehen im christlichen Sinne im Kontrakt zu holen. Diese kann auch verweigert werden.

Im christlich-kirchlichen Kontext lassen sich Prozesse der Organisationsentwicklung bewusst als einen gemeinschaftsstiftenden Glaubensweg gestalten, offen auf das Wirken des Hl. Geistes hin.

 

1 w ww.change.ch/aktuell/management/spiritualitt.html (13.1.2011)

2 Vgl. Bernhard Lindner: «Somos Pueblo – Somos Iglesia»: Die Erfahrung der Südandenkirche Perus. Zürich-Berlin 2010, 102–108.

3 Vgl. ebd., 51–55.

4 Vgl. Luis Fernando Crespo: Revisión de vida y seguimiento de Jesús. Lima 1991.

5 Vgl. Clodovis Boff: Wissenschaftstheorie und Methode der Theologie der Befreiung: ELLACURÍA, Ignacio Ellacuría / Jon Sobrino (Hrsg.): Mysterium Liberationis Bd 1. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung. Luzern 1995, 63–97, hier 84ff.

6 Vgl. Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Freiburg 1999.

7 Vgl. Willi Lambert: Die Kunst der Kommunikation. Entdeckungen mit Ignatius von Loyola. Freiburg 1999; Stefan Kiechle: Sich entscheiden. Würzburg 2008, Stefan Kiechle: Macht ausüben. Würzburg 2006, Bernhard Waldmüller: Gemeinsam entscheiden. Würzburg 2008.

8 Vgl. Waldmüller (wie Anm. 39), 4.

9 Vgl. ebd., 13–17.

10 Vgl. ebd., 37–41.

11 Ebd., 37.

12 Ebd., 24–25.

13 Ebd., 30–31.

14 Ebd., 32–33.

15 Ebd., 34–36.

16 Ebd., 38.

Bernhard Lindner

Bernhard Lindner

Dr. Bernhard Lindner ist Fachmitarbeiter bei der Fachstelle Bildung und Propstei der Römisch-katholischen Kirche im Kanton Aargau. Er ist Theologe, Pädagoge, Supervisor und Organisationsberater BSO. Lindner sieht sich als kirchlicher Mitarbeiter selber «als spiritueller Mensch mit der Aufgabe von Organisationsberatung und Supervision in einem von Spiritualität geprägten Kontext».