«Christen sind Ausländer»

Für viele Inder ist das Christentum eine Religion des Westens. Nationalistische Kräfte erstarken und zielen auf einen hinduistischen Staat. Br. Suhas Pereira berichtet von seinen Beobachtungen vor Ort.

Mit etwa 28 Mio. Gläubigen ist das Christentum nach dem Hinduismus und dem Islam die drittgrösste Religion in Indien. Dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von 2,3 Prozent. Die christliche Bevölkerung ist dabei ungleichmässig über das Land verteilt: Christliche Konzentrationen finden sich vor allem in Südindien sowie im Nord- osten. Es gibt vor Ort über 200 christliche Konfes- sionen, unter ihnen ist die katholische Kirche die grösste.

SKZ: In letzter Zeit ist von Gewalt gegenüber Christen in Indien in hiesigen Medien zu lesen. Welche Kräfte stecken hinter den Gewalthandlungen und welches sind ihre Beweggründe?
Br. Suhas Pereira: Ich kann Ihnen verschiedene Gründe nennen. Erstens ist für viele Inder (Hindus) das Christentum eine Religion des Westens. Deshalb sind Christen in ihren Augen Ausländer. Die Geschichte des Christentums war in Indien – wie an anderen Orten der Welt – auch eine Geschichte der Gewalt. Die Missionierung geschah oft durch Zwang. Das indische Volk litt auch unter dem Kolonialismus. Viele Inder assoziieren diesen Teil ihrer Geschichte mit dem Christentum. Zweitens gibt es in Indien fundamentale hinduistische Gruppierungen, die das Motto «Indien für Hindus» vertreten. Aus ihrer Sicht gehört jeder, der nicht Hindu ist, nicht Indien an. Das ist religiös motivierter Nationalismus. Gemäss dieser Vorstellung müssen sich Christen und Muslime zum Hinduismus bekehren. Der ausschlaggebende Grund ist aber die Regierung selbst. Die Situation für religiöse Minderheiten in Indien verschärfte sich in den letzten fünf Jahren. Seitdem die nationalistische politische Partei BJP (Bhartiya Janata Party – Indische Volkspartei) 2014 die Wahlen gewann und die Regierung bilden konnte, nahm die Gewalt nicht nur gegenüber indischen Christen, sondern auch gegenüber indischen Muslimen zu. Das heisst nicht, dass es vor 2014 keine Gewalt gegenüber Christen gab. Aber seit 2014 sind fundamentale hinduistische Gruppen mächtiger geworden.

Sind angesichts der zunehmenden Gewalt Bemühungen für interreligiöse Gespräche und Verständigung vonseiten des Staates oder der Religionen im Gange?
Ich zweifle, ob sich der Staat wirklich bemüht, das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Religionen durch interreligiöse Gespräche und Verständigung zu verbessern. Ich habe eher das Gefühl, dass die Regierung eine Vormachtstellung der religiösen Prinzipien und Werte des Hinduismus anstrebt und dabei die Verfassung ausser Acht lässt. Aber es gibt auch Menschen guten Willens, die um das Wohl des Volkes und aller Religionen besorgt sind. Viele Hindupriester, Gurus, Imams, katholische Priester und Bischöfe sowie Priester und Theologen anderer christlicher Konfessionen und Gelehrte anderer indischer Religionen bemühen sich zusammen mit den Gläubigen um Frieden und Geschwisterlichkeit unter den Religionen. Es werden von Zeit zu Zeit interreligiöse Treffen organisiert, wo nicht nur miteinander und füreinander gebetet, sondern auch gemeinsam darüber diskutiert wird, wie Indien trotz der Vielfalt der Religionen eine harmonische Einheit, ein Land der Toleranz gegenüber anderen Religionen bleiben kann.

Wie werden Christen allgemein in der Gesellschaft wahrgenommen?
Einerseits ist in Indien Gewalt gegen Christen eine alltägliche Realität. Andererseits sind in vielen Teilen Indiens Christen hoch angesehen und respektiert. Ihr Engagement in der indischen Gesellschaft, vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Arbeit, hat ihnen enormen Respekt und Anerkennung gebracht.

Wir haben jetzt von Verfolgung und Unterdrückung gesprochen. Ich möchte den Blick auf die Pfarreien lenken. Wo machen Sie blühendes Gemeindeleben aus?
Überall, wo sich Christen zusammen mit ihren Hirten darum bemühen, den Glauben nicht nur liturgisch zu feiern, sondern ihn zu leben, wo das Evangelium nicht nur mit Worten verkündigt, sondern in das Leben umgesetzt wird und wo die Früchte eines solchen christlichen Lebens sichtbar und spürbar sind, da ist meiner Meinung nach das Gemeindeleben am Blühen. Da hat sich der Kern des Evangeliums hundert- und tausendfach entfaltet.

Wo liegen die pastoralen Herausforderungen?
Eine erste Herausforderung besteht darin, den christlichen Glauben auf einfache und verständliche Weise den Gläubigen zu vermitteln. Das fordert von Priestern, Bischöfen, Ordensfrauen und -männern entsprechende Ausbildung und Weiterbildung. Eine zweite Herausforderung besteht darin, die Beteiligung der Laien nicht nur in der Liturgie, sondern auch in der Organisation der Gemeinde zu fördern. Im Gegensatz zur Kirche in der Schweiz ist es in Indien ungewöhnlich, dass Laien kirchlich tätig sind. Meiner Ansicht nach muss sich die Kirche in Indien mit der Frage der Laien befassen und Lösungen finden. Eine weitere Herausforderung ist die Ausmerzung des Kastensystems innerhalb der Kirche.

Das Kastensystem scheint nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche einen grossen Einfluss zu haben.
Ich muss gestehen, dass trotz der Bemühungen der Kirche, das Kastensystem in der Gesellschaft und innerhalb der Kirche auszurotten, dieses System bislang nicht aus der Welt geschafft werden konnte. Es gibt Orte, wo Christen aufgrund des immer noch existierenden Kastensystems voneinander getrennt und einander fremd sind. Es gibt christliche Gemeinden, in denen auch heute eine Kluft zwischen den Gläubigen der höheren Kasten und den Gläubigen der niedrigen Kasten oder Dalits1 existiert. Der Einfluss des Kastensystems machte sich bis in die Hierarchie der Kirche bemerkbar. Bis vor wenigen Jahren waren es meistens Kandidaten aus den höheren Kasten, die zum Priester oder Bischof geweiht wurden. Das Kastensystem ist wie ein Krebs, der in die Kirche eingedrungen ist und hier seine Wirkung entfaltet – auch heute noch.

Was motiviert Menschen anderer Religionen, zum Christentum zu konvertieren?
Soviel ich weiss, gibt es in Indien heute sehr wenige Menschen, die zum Christentum konvertieren. Einige sind vom Evangelium und von der christlichen Gebets- und Lebensweise so sehr berührt, dass sie ein Teil dieses Volkes Gottes sein möchten. Es gibt noch einen anderen Grund zur Konversion: Es sind meistens Menschen aus den niedrigsten Kasten, die sich taufen lassen mit der Hoffnung, dass sich durch ihre Konversion sowohl ihre Lebenslage als auch ihr gesellschaftlicher Status verbessern wird. Die Bekehrung zum Christentum aber verändert ihr Schicksal kaum. Im Gegenteil: Diese Christen sind dann dreifach diskriminiert: Erstens werden sie von den höheren Kasten weiterhin finanziell, sozial und politisch ausgenutzt, zweitens werden sie auch von ihren Mitchristen der höheren Kasten schlecht behandelt und drittens bekommen sie von der Regierung keine Unterstützung mehr, weil sie Christen geworden sind.

Sie haben von 2013 bis 2018 in Luzern studiert und waren teilzeitlich in der Pastoral tätig. Wo sehen Sie die grössten Unterschiede zwischen der Kirche in der Schweiz und jener in Indien?
Als Erstes möchte ich erwähnen, dass die Gottesdienste in Indien sonntags sehr gut besucht sind. Die Christen betrachten die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst als ihre heilige Pflicht. In manchen Pfarreien gibt es jedes Wochenende fünf bis sechs Gottesdienste, die von Christen aller Altersgruppen besucht werden. Einen zweiten grossen Unterschied sehe ich in der Organisation. Die Kirche in der Schweiz ist sehr gut organisiert. Hier gibt es Jahresplanungen. Die gute Organisation sorgt auch für Transparenz und Disziplin. Diesbezüglich könnte die Kirche in Indien einiges von der Kirche in der Schweiz lernen. Drittens ist es interessant, zu sehen, dass in Indien alle kirchlichen Dienste, ausser die priesterlichen, ehrenamtliche Dienste sind. Weder der Organist noch der Katechet erwarten einen Lohn für ihre Arbeit, sondern betrachten diese als Dienst gegenüber Gott und den Mitmenschen.

Im Mai stehen Wahlen an. Was erwarten Sie für einen Ausgang?
Die meisten Inder – nicht nur ich – erwarten eine neue, gute und säkulare Regierung, die sich mit keiner der Religionen Indiens identifiziert, sondern alle Religionen mit Respekt und Toleranz behandelt; eine Regierung, die um das Wohl des ganzen Landes besorgt ist und nicht nur um das Wohl der Wohlhabenden; eine Regierung, der die Sicherheit und die Freiheit der Leute wichtiger ist als ihre eigenen Interessen; eine Regierung, die die Frauen respektiert und sich bemüht, alle Menschen gleichzustellen, ohne Diskriminierung, Rassismus und Ansehen der Kaste. Für die Christen und die anderen Minderheiten würde eine solche Regierung ein Leben ohne Bedrohung, ein Leben mit Religionsfreiheit und ein Leben in Frieden bedeuten.

Interview: Maria Hässig

 

1 Dalits ist heute die gängige Bezeichnung für die Nachfahren der indischen Ureinwohner. Sie gelten als Unberührbare, weil sie ausserhalb oder auf der untersten Stufe des Kastensystems angesiedelt werden. Die hinduistischen, muslimischen, buddhistischen und christlichen Dalits zusammen machen rund einen Fünftel der indischen Bevölkerung aus. Sie sind Diskriminierungen, Verfolgungen und Gewalt ausgesetzt.


Interviewpartner Suhas Pereira

* Br. Suhas Pereira OFMCap (Jg. 1981) wuchs in Vasai im Bundesstaat Maharashtra im Westen von Indien auf. Er promovierte 2018 an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und wird ab August als Dozent für Theologie am ordenseigenen Ausbildungsinstitut in Indien tätig sein.

 

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