Nicht mehr Opium des Volkes

Aus Sicht des chinesischen Staates tragen die Religionen zur Moral der Gesellschaft bei, weshalb sie in deren Aufbau eingebunden werden.
Die Kirche sucht einen Weg zwischen Anpassung und Unterdrückung.

Die christliche Mission hat in China1 eine sehr lange Geschichte und durchlebte mehrere Phasen. Das heute in China existierende Christentum geht auf die Mission im 19. und 20. Jahrhundert zurück. Unter dem Schutz der sogenannten Imperialmächte kam das Christentum im 19. Jahrhundert erneut nach China, dieses Mal aber als geteilte Kirche in katholischer und protestantischer Form. Auch heute noch zählen Katholizismus und Protestantismus in China aufgrund dieser missionsgeschichtlichen Entwicklung als zwei getrennte Religionen.

Diese letzte Phase der China-Mission endete 1949, als die Kommunisten die Volksrepublik China gründeten: Die neue kommunistische Regierung verwies Anfang der 50er-Jahre alle ausländischen Missionare des Landes (darunter ca. 6000 kath. Missionare), um jeden ausländischen Einfluss auszuschalten. Die chinesischen christlichen Kirchen waren somit plötzlich auf sich selbst gestellt. Dies war eine sehr schwierige Situation. Dazu kam die zunehmende Unterdrückung, dann die völlige Zerschlagung allen reli- giösen Lebens in der Kulturrevolution (1966–1976).

Die Öffnung und Liberalisierung Chinas Anfang der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts brachte auch für die Religionen eine politisch entspannte Atmosphäre. Kirchliches Leben war wieder möglich, kirchliches Eigentum wurde nach und nach zurückerstattet, der Wiederaufbau konnte beginnen − dies übrigens nicht nur bei den Christen, sondern bei allen Religionen. Seither gibt es wieder offen sichtbares religiöses Leben in China.

Enormes Wachstum

Nach kirchlichen Schätzungen des Holy Spirit Study Centre hat sich die Zahl der Katholiken im Jahr 2017 gegenüber 1949 (3,2 Mio.) auf rund 10 Mio. verdreifacht. Die evangelischen Christen in China erleben ein noch viel intensiveres Wachstum als die katholischen. Schätzungen zufolge hat sich ihre Zahl seit 1949 (1 Mio.) mindestens verzwanzigfacht (20 Mio. ist die offizielle Zahl), wenn nicht gar verfünfzigfacht oder verhundertfacht (50–100 Mio.). Die evangelische chinesische Kirche gehört zu den am schnellsten wachsenden Kirchen weltweit.2

Veränderte Religionspolitik

Allerdings will die Regierung die Kontrolle über die Religionen und verlangt von diesen eine «Anpassung an den Sozialismus», d.h., sie sollen im Dienst des Landes stehen. Auch die staatlich anerkannten Religionen geniessen nicht Religionsfreiheit in unserem Sinn, sondern diese wird sehr eingeschränkt verstanden: z.B. Beschränkung des Kultus auf Kirchenraum oder Tempel; keine Einmischung seitens der Religionen in das Erziehungswesen – kein Religionsunterricht an den Schulen; Überwachung der Auslandskontakte – alle Telefone und Mails werden abgehört bzw. gelesen; keine Reisefreiheit.

Doch gibt es bei allen Religionen einen grossen inoffiziellen Sektor, also Gruppen, die nicht staatlich registriert und zugelassen sind, die nicht mit dem Staat zusammenarbeiten wollen oder können und deshalb als «illegal» gelten. Man soll sich aber keine Kirche in Katakomben vorstellen, dies ist vielmehr ein politisches Problem. Es ist der Teil der Kirche, der, wie gesagt, nicht vom Staat anerkannt ist. Die Treffen dieser Untergrundgruppen werden teilweise von den Behörden toleriert, es kommt aber immer wieder auch zu gewaltsamen Auflösungen von Versammlungen, zu Verhaftungen von Priestern, Pastoren und Gemeindeleitern, zur Zerstörung «illegaler» Kirchen und Versammlungsorte. Doch es gibt trotz aller politischen Beschränkungen in beiden Teilen der Kirchen Freiräume, die nach Kräften genutzt werden.

Verändert hat sich auch die Sicht des Staates auf die Religionen. Neuerdings werden die Religionen in den Aufbau einer «harmonischen Gesellschaft eingebunden». Wurde Religion früher als Opium des Volkes angesehen, haben Wissenschaftler jetzt aufgrund von pragmatischen Studien erkannt, dass die Religionen zur Moral einer Gesellschaft beitragen und dass sie ein Kulturfaktor auch in einer chinesischen sozialistischen Gesellschaft sind und bleiben würden.

Katholische Kirche in China in Zahlen

Seit den 1980er-Jahren sind viele in der Kulturrevolution beschlagnahmte Kirchen zurückgegeben und renoviert worden, viele neue wurden gebaut. Kirchenbauten sind wichtig in China, sie sind sichtbares Zeichen dafür, dass es die Christen gibt. In China gibt es 112 Diözesen und 32 andere administrative Gebiete mit 101 Bischöfen, ca. 3900 Priestern und ca. 4600 Schwestern. In den 14 Priesterseminaren gibt es ca. 500 Priesterkandidaten (das Studium dauert normalerweise sieben Jahre: zwei Jahre Philosophie, vier Jahre Theologie und ein Jahr Pastoralpraktikum) und daneben gibt es noch ca. 300 kleine Seminaristen in den kleinen Priesterseminaren.3

Gründe für das Interesse am Christentum

Trotz aller Schwierigkeiten wächst die katholische Kirche in China rasend. Nach Angabe des Faith Institute for Cultural Studies gab es im Jahr 2018 48'556 Taufen, und zwar am meisten Erwachsenentaufen.4 Die Gründe sind folgende:

  1. Das geistige Vakuum in der Gesellschaft: Die Menschen haben die vielen Kampagnen der vergangenen Jahre satt und sind auf der Suche nach Sinn. Zudem ist das Leben pluraler, vielfältiger geworden. Bei vielen Nichtchristen ist eine grosse Offenheit da für neue Lebens- und Glaubensmodelle, so auch für das Christentum, insbesondere in den Städten.
  2. Gross ist das Interesse am Christentum auch unter Studenten. An den Universitäten haben sich viele – vor allem protestantische – unabhängige Bibelkreise gebildet. Laut einer Umfrage an der Renmin-Universität in Peking äusserten 61,5 Prozent der Studierenden Interesse am Christentum. 3,6 Prozent von ihnen erklärten sich offen zum Christentum.
  3. Ein ganz wesentlicher Faktor für das Wachstum der Kirchen ist jedoch der Missionseifer der Gläubigen. Die Christen gehen zu ihren Freunden und Nachbarn und suchen alle Gelegenheiten, über ihren Glauben zu sprechen und Zeugnis abzulegen.
  4. Ein weiteres Motiv geht vom persönlichen Nutzwert der Religion aus: Viele Bekehrungen gehen auf physische Heilungserfahrungen durch Gebet zurück. Ausserdem erwartet man Trost in den zunehmenden Un- sicherheiten des Lebens sowie materiellen Erfolg im Kampf ums Dasein.
  5. Es gibt ein grosses akademisches Interesse an christlicher Religion und Geistesgeschichte unter säkularen Wissenschaftlern. Öfters wächst sich das Interesse zur Sympathie und zur inneren Identifikation aus. Diese sogenannten Kulturchristen distanzieren sich jedoch von den Erscheinungsformen der christlichen Basis sowie der Staatsfrömmigkeit der Leitungsfiguren in der Kirche und der patriotischen Vereinigung.

Gegenwärtige Herausforderungen

Bis heute gibt es immer noch keine normale diplomatische Beziehung zwischen China und dem Vatikan. Im letzten Jahr versuchte der Vatikan in einem Abkommen mit China diese Situation zu klären. Es ist aber kein Staatsvertrag und sein genauerer Inhalt ist nicht bekannt. Klar ist: Die sieben von Rom bisher nicht anerkannten Bischöfe sind nun vom Papst anerkannt. Aber von den etwa 30 Bischöfen in Einheit mit Rom, die der Staat ablehnt, erfahren wir aus dem Abkommen nichts. Natürlich versucht der Papst den Dialog mit der kommunistischen Regierung zu führen. Aber m.E. ist dieses Abkommen nicht gut. Wir müssen hier im Land klug sein wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben, wie es bei Matthäus 10,16 heisst. Tatsächlich verschlechterte sich die Situation für die Kirche nach dem Abkommen: Kirchen wurden zerstört, Kreuze an öffentlichen Plätzen entfernt und vor den Gotteshäusern müssen wir die chinesische Fahne aufziehen. Ein «Höhepunkt» war im Dezember, als in Nanking Regierung und Bischöfe der offiziellen Kirche gemeinsam «60 Jahre Bischofsweihen ohne päpstliche Zustimmung» feierten. Papst Benedikt XVI. fuhr eine klarere Linie: Er sagte, die patriotische Vereinigung entspreche nicht unserem Glauben. Der emeritierte Kardinal Josef Zen von Hongkong hat nicht unrecht, wenn er dieses Abkommen scharf kritisiert.

Das chinesische Volk schreit nach Jesus

Seit ein paar Jahren treten in der Osternacht 1000 Chinesen in die Kirche ein. Das geschieht nicht nur in dieser Nacht, sondern bei jedem grossen Fest der Kirche: an Weihnachten, an Mariä Himmelfahrt usw. Nach einem Bericht der Na- tional Catholic Reporter sind in China jeden Tag 10 000 Menschen getauft worden.5 Selbstverständlich ist dies eine ermutigende Nachricht. Aber wenn man die Zahl der chinesischen Bevölkerung betrachtet, würde es mit diesem Wachstumstempo 400 Jahre dauern, bis alle Chinesen getauft sind. So müssen wir noch mehr arbeiten und fleissiger das Evangelium verkünden. Um das grosse Ziel zu erreichen, braucht die Kirche in China die solidarische Unterstützung der Weltkirche. Das beste Geschenk ist natürlich das «solidarische Gebet für uns».

Franz Feng

 

1 Ich beziehe mich in diesem Artikel teilweise auf den Vortrag von Katharina Feith, China-Zentrum, Deutschland, über die Kirche in China im Jahr 2008.

2 Siehe dazu Wenzel-Teuber Katharina, «Statistik zu Religionen und Kirchen in der Volksrepublik China. Ein Update für das Jahr 2017», in: China heute XXXVII/1 (2018), 37–43.

3 Siehe ebd., 40.

4 Siehe dazu https://mp.weixin.qq.com/s/udtoLIiM6vd7UDZ9DIC2iQ [Abrufdatum 22.03.2019].

5 Siehe dazu www.douban.com/group/topic/22494982/ [Abrufdatum 10.09.2018].

 

 


Franz Jinxue Feng

Dr. Franz Jinxue Feng (Jg. 1978) wuchs in der Provinz Hebei, China, auf. Von 2001 bis 2006 studierte er Philosophie und Theologie an der Theologischen Hochschule SVD St. Augustin (D), 2007 wurde er zum Priester geweiht und übernahm erste Lehrtätigkeiten am Priesterseminar von Shenyang, China. Ab 2010 absolvierte er ein Aufbaustudium an der Universität Luzern und promovierte von 2015 bis 2017 an der Hochschule St. Augustin. Seit 2018 ist er Dozent am Priesterseminar von Shenyang und Leiter der Förderung geistlicher Berufungen des Erzbistums Liaoning.

 

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