Charismen - Gaben Gottes für die Welt

Ehrenamt und Engagement sind soziologische Kategorien, die vor der Anwendung im Bereich der Kirchenentwicklung theologisch eingeholt werden müssen.

Ehrenamt und Engagement sind populär. Sie werden politisch gefördert, gesellschaftlich mit Ehrungen und Preisen anerkannt und kirchlich mit dem Hinweis auf die Taufberufung aller Gläubigen und dem pastoralen Leitbild der Charismenorientierung als Partizipation und Laienengagement gefordert. Die Diözesen in Deutschland, Österreich und der Schweiz orientieren sich mehr oder weniger allesamt an diesem Trend. Meist wird dabei übersehen, dass es sich in der Rede von Ehrenamt und Engagement um soziologische Kategorien handelt, die theologisch eingeholt werden müssen, bevor sie für eine Kirchenentwicklung fruchtbar genutzt werden können.

Nüchtern betrachtet sind Ehrenamt und Engagement gesellschaftliche Phänomene und deshalb zuerst Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung. Sie haben elitäre Züge. Wer sich engagiert, hat Zeit, die er oder sie einsetzen kann. Wer sich engagiert, hat Geld. Das belegt die Engagementforschung. Alle Massnahmen, Menschen an der Armutsgrenze für Engagement zu gewinnen, scheitern mittelfristig. Wer sich engagiert, verfügt über ausreichend Gesundheit und Fähigkeiten, die im gesellschaftlichen Mainstream gefragt sind: Mobilität, geistige Wendigkeit, Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Geduld, Zuverlässigkeit, Eigenverantwortung, realistische Selbst- und Fremdwahrnehmung, physische und psychische Gesundheit usw. Ehrenamt und Engagement sind Wohlstandsphänomene. Nur, wer selbst genügend hat oder aus dem Engagement einen persönlichen Vorteil erwartet, wird sich auch für andere engagieren. Wer täglich – physisch oder psychisch – um das eigene Überleben kämpft und heute nicht weiss, ob er den morgigen Tag überlebt, wird sich in der Regel nicht freiwillig engagieren (können). 

Gemeinschaft, Gemeinwohl und Interesse

Ehrenamt und Engagement sind als gesellschaftliches Phänomen Einsatz über die Familienbande und die Nachbarschaft hinaus, wobei viele Formen gesellschaftlich anerkannten Engagements genau an den individualistischen Interessen ansetzen: Kindergarten- und Schulfördervereine, Musik-, Sport- und Heimatvereine, freiwillige Feuerwehren u. v. m. wollen die Eigeninteressen für die Kinder und Enkelkinder sowie die Gestaltung des persönlichen Lebensumfeldes in der Nachbarschaft fördern. Ehrenamt und Engagement sind und waren niemals ausschliesslich altruistisch. Die Engagementforschung kennt drei Muster und nennt diese Motivationsbündel:

1. Menschen suchen Gemeinschaft.
2. Menschen wollen das Gemeinwohl
(Solidarität, Nächstenliebe) fördern.
3. Menschen haben ein persönliches
Interesse an einer bestimmten Sache.

Die Motive für Ehrenamt und Engagement sind lebensbiografisch und in den Engagementbereichen unterschiedlich ausgeprägt. Junge Menschen wollen in Ehrenamt und Engagement vor allem etwas lernen, ihre Fähigkeiten ausprobieren und sich weiterentwickeln. Ältere Menschen wollen ihre erlernten Fähigkeiten weitergeben oder zur Verfügung stellen. Interesse an einer bestimmten Sache gehört zum dritten Motivbündel. Jemand interessiert sich für die Natur. Er oder sie wird wohl eher für einen Umwelt- oder Kleingartenverein ansprechbar sein als für die Telefonseelsorge. Eine Person, die gern zuhört, sich leicht in andere Menschen einfühlen kann, der es leicht fällt, zu unbekannten Menschen Beziehungen aufzubauen, die aber auch gern allein ist, könnte im freiwilligen Engagement in der Telefonseelsorge richtig sein. Die persönliche Motivation für Ehrenamt und Engagement von konkreten Menschen sind immer eine Mischung aus den drei Bereichen: Gemeinschaft, Gemeinwohl und Interesse. 
In der Wahl der Gratifikation (Belohnung, Anerkennung usw.) sollte die Motivation der freiwillig Engagierten im Blick sein und bedient werden. Wer Gemeinschaft sucht, freut sich auf ein gemeinsames Fest, bei dem er mit Menschen zusammenkommt. Wen das (Sach-)Interesse antreibt, der freut sich über eine Fortbildung zur Thematik. Strahlende Kinderaugen oder glückliche Menschen sind der grösste Dank für Menschen, denen die Förderung des Gemeinwohls am Herzen liegt.1

Dienst am Heil anderer 

Bisher standen Ehrenamt und Engagement als sozialwissenschaftliche Kategorien im Fokus. Was kann die Theologie zu diesen gesellschaftlichen Phänomenen beitragen? Was bedeuten Ehrenamt und Engagement für die Kirche und ihre Gemeinden? Eine theologische Spur lässt sich über die biblische Charismenlehre verfolgen.2 Paulus bietet in seinen Briefen weder eine Begriffsdefinition noch eine ausgefeilte Theorie der Charismen, sondern er beschreibt die in seiner Wahrnehmung vorgefundenen Phänomene in den christlichen Gemeinden der ersten Generationen in Charismenlisten (1 Kor 12,1–11; Röm 12,3–8 u. a.), setzt sie in Beziehung zu Gott und vermittelt zwischen den verschiedenen Charismen in den Gemeinden. Auffällig ist, dass er verschiedene Begriffe benutzt: Geistgaben, Gnadengaben, Dienste und Wirkkräfte. 
Systematisch und pastoralpraktisch tauglich hat Norbert Baumert eine Definition mit fünf Merkmalen herausgearbeitet: Charismen sind 

(1) von Gott frei gewährte, 
(2) individuell zugeteilte
(3) Befähigungen
(4) zum Dienst 
(5) am Heil anderer.3
 
Charismen sind keine (religiösen) Eigenleistungen oder göttlich gewährte und kirchlich verwaltete Auszeichnungen. Charismen sind Gnadengaben Gottes an Menschen zum Wachstum des Reiches Gottes auf Erden. Charismen sind individuell, wie die Menschen selbst, aber sie lassen sich in Gruppen (Leitung, Hilfsdienste, Lehre, Prophetie, Gebet usw.) einteilen. Charismen setzen natürliche Fähigkeiten und Begabungen voraus. Gott handelt am Menschen nicht gegen dessen Natur und dessen Willen, sondern ver-
edelt die biologischen, psychologischen, geistigen und seelischen Fähigkeiten von Menschen zum Dienst an anderen.4 Deshalb brauchen Ehrenamt und Engagement auch immer eine konkrete Willensentscheidung. Ehrenämter werden nicht vererbt und auch die Wahl für ein Ehrenamt muss durch den Gewählten angenommen werden. Charismen orientieren sich immer an der Nützlichkeit für das Wachstum des Reiches Gottes auf Erden. Beispielsweise kann das Talent, öffentlich vor Menschen zu sprechen, sie zu begeistern und zu führen, für den Lobbyismus in der Waffenindustrie, beruflich oder ehrenamtlich in der christlichen Verkündigung oder im Bürgermeisteramt einer Kleinstadt eingesetzt werden. Es gibt eine Kriteriologie für Charismen, die bereits Paulus als Orientierungs- und Unterscheidungshilfe anbot. Die Früchte des Geistes sind konkrete Lebenshaltungen, die erkennen lassen, ob etwas dem Wachstum des Reiches Gottes dienlich ist: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung. Ehrenamt und Engagement, welche diese Eigenschaften hervorbringen und fördern, orientieren sich am Massstab Gottes. Menschen, die in ihrem Ehrenamt und Engagement Freude haben und anderen Freude bereiten, können davon ausgehen, dass sich ihr Einsatz an ihren Charismen orientiert. Sich an den persönlichen Charismen in seinem Engagement zu orientieren, ist eine gute Gesundheitsprophylaxe. Was allerdings nicht bedeutet, dass ehrenamtlicher Einsatz keine Anstrengung birgt.

Wachstum des Reiches Gottes

Kirchliches Ehrenamt und Engagement beschreiben sich theologisch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht mehr aus der Beziehung zur Hierarchie (Klerus) oder den hauptberuflichen Laien, nicht aus der Beziehung des Einzelnen zu sich selbst, sondern aus der Heilszusage Gottes für alle Menschen. Sie dienen der Vereinigung der Menschen mit Gott und der Vereinigung der Menschen untereinander. Ehrenamt und Engagement von Getauften und «religiös Unberührten» (Michael Kaplanék) sind das pastorale Potenzial der Kirche, wenn es die Versammlung des Volkes Gottes an Orte führt, denen die Kirche um ihrer Botschaft Willen nicht ausweichen kann. Diese Orte werden vorrangig nicht auf dem Pfarrhof liegen und nicht in die Gemeinde führen, aber Gemeinde gründen.

Den Pfarrgemeinden kommt die Aufgabe zu, Menschen in geschützten Räumen und Beziehungen die Möglichkeiten zu geben, ihre Fähigkeiten und Talente zu kultivieren, und sie auch wieder gehen zu lassen. Darüber hinaus tut es Pfarrgemeinden gut, die persönliche Beziehung des Einzelnen mit Gott zu fördern, damit Menschen ausgehend von ihren Fähigkeiten und Talenten erkennen, welche Idee Gott mit der Welt und seinen Menschen hat und wie der Einzelne am Aufbau des Reiches Gottes mitwirken kann. 


Daniela Bethge

1 Vgl. Bethge, Daniela, Von der Logik der Not zur Logik der Fülle. Ehrenamt und Engagement aus christlicher Perspektive, Münster 2017, S. 24–36.
2 Die Rede von Charismen hat Hochkonjunktur. Eine kleine Begriffsgeschichte bietet Orientierung. Vgl. Bethge, Daniela, Von der Logik der Not zur Logik der Fülle, a.a.O., S. 199–207. 
3 Vgl. Baumert, Norbert, Charismen. Versuch einer Sprachregelung, in: ThPh 66 (1991), S. 21–48; ders., Charisma – Taufe – Geisttaufe. Entflech-
  tung einer semantischen Verwirrung, Würzburg 2001. 
4 Vgl. Bethge, Daniela, Von der Logik der Fülle zur Logik der Not, a.a.O., S. 207–224.