Als man nach dem Tod von Bruder Klaus daran ging, Aussagen seiner Verwandten und Bekannten zu sammeln und sie im «Kirchenbuch von Sachseln» festzuhalten,1 berichtete sein Jugendfreund Erni Anderhalden: Bruder Klaus hätte «mehr denn einmal gesagt, dass ihm Gott unter andern drei grosse Gnaden verliehen, nämlich des ersten, dass er die Zustimmung von Frau und Kindern zu seinem Einsiedlerleben erlangt, zum andern, dass er keinen Willen, Begierde oder Versuchung jemals gehabt, von solchem Leben wiederum zu Frau und Kindern zurückzukehren, und zum dritten, dass er ohne leibliche Speise und Trank zu leben vermochte».2 In diesem kurzen Bericht ist alles auf den Punkt gebracht, was nicht erst heute, sondern schon damals Menschen an Bruder Klaus zugleich anzog und befremdete: das Verlassen von Frau und Kindern, das zwanzigjährige Leben in der Abgeschiedenheit und das ebenso lange Fasten. Sein Leben übersteigt durchschnittliches Fassungsvermögen. Am meisten bekam dies jener Mensch zu spüren, der ihm am nächsten war, seine Frau Dorothee Wyss. Je weiter Klaus ins Geheimnis Gottes hineingezogen wurde, umso mehr entschwand er ihr. «Ganz nah und weit weg», so empfand sie ihn.3 Am eigenen Leib musste sie erfahren, was Karl Rahner einmal so formulierte: «Heiligkeit ist ein Geheimnis, das tödlich schreckt und lockend ruft zumal.»4
Kindheit und Jugend
Klaus von Flüe kam um 1417 als Sohn einer begüterten und politisch regsamen Bauernfamilie auf dem Sachsler Berg zur Welt.5 Sein Geburtsjahr ist urkundlich nicht verbürgt. Es lässt sich nur aus der Tatsache erschliessen, dass er am 21. März 1487 im 70. Altersjahr gestorben ist. Über seine Kinder- und Jugendzeit wissen wir wenig. Verlässliches berichten einzig seine beiden Jugendfreunde und Nachbarn Erni Anderhalden und Erni Rohrer. Letzterer bezeugte ein Jahr nach Klausens Tod, dieser «sei immer ein eingezogener, guter, tugendhafter, frommer und wahrhafter Mensch gewesen, der niemanden erzürnte. Und wenn sie vom Acker oder anderen Arbeiten heimkamen, so entfernte sich Bruder Klaus stets allein hinter einen Stall oder sonst einen einsamen Ort. Da betete er und liess ihn und die andern Knaben laufen, wohin sie wollten (...). Als er noch ein ganz junger Knabe war, fing er an und fastete lange Zeit alle Freitage, hernach alle Wochen vier Tage und die ganze Fasten hindurch, so dass er nichts ass als täglich ein kleines Stücklein Brot oder ein wenig dürrer Birnen. Und das tat er heimlich, um nicht damit zu prahlen. Und wenn er deshalb befragt oder von etlichen, die glaubten, er möchte es nicht erleiden, getadelt wurde, so sprach er immer, Gott wolle es so haben.»6
Bauer, Ratsherr, Richter
Wenn auch kein Grund besteht, den Kern dieses Zeugnisses anzuzweifeln, dürfte es doch durch die Erinnerung an das spätere ungewöhnliche Leben Klaus von Flües verklärt sein. Dieses Leben war in Wirklichkeit keineswegs von Anfang an auf ein Eremitendasein hin angelegt. «Nikolaus von Flüe war Bauer, dem Boden verhaftet; er brauchte lange Zeit, bis er sich von dessen Eigen- und Schwergewicht gelöst hatte (...). Der Betrieb verlangte ganzen Einsatz auf dem Feld, in den Obstbergen und in den Ställen. Früh begann die Einübung ins Mittragen politischer Entscheidungen. So nahm er als Sechzehnjähriger mit dem Vater im Ring an der Landsgemeinde teil, wurde als Neunzehnjähriger Ratsherr, später Richter und Träger hoher politischer Ämter.»7 Mit Sicherheit nahm Klaus in seinen jungen Jahren auch an verschiedenen Kriegszügen teil. In Frage kommen etwa der Alte Zürichkrieg (1439 – 1446) und der Thurgauer Feldzug (1460). Er tat dies allerdings nie ohne Befehl. Ab sechzehn konnte er zum Wehrdienst verpflichtet werden. Die Hauptgründe dieser Kriegszüge waren häufig Abenteuerlust und die Hoffnung auf reiche Beute. Vor diesem Hintergrund ist die Äusserung Erni Anderhaldens zu verstehen, Klaus «habe stets die Billigkeit liebgehabt, das Unrecht gestraft und in Kriegen seine Feinde wenig beschädigt, sondern sie nach seinem Vermögen beschirmt».8 Auch Erni Rohrer bezeugt, Klaus habe «im Kriege seine Feinde wenig geschädigt, sondern sich immer zur Seite begeben, gebetet und sie nach seinem Vermögen beschirmt».9 Beschirmt wovor? Vor der Niedermetzelung; «denn es ist bekannt, dass in den Kriegen der alten Eidgenossen keine Gefangenen gemacht, sondern alle überlebenden besiegten Gegner totgeschlagen wurden».10
Schwierige kirchliche Situation
Auch die kirchliche Situation seiner Zeit war wenig erfreulich.11 Die innerkirchlichen Streitigkeiten im Gefolge des grossen abendländischen Schismas mit drei Päpsten und die gegenseitigen Bannflüche von Päpsten und Bischöfen wirkten sich auch unmittelbar auf das Leben Klaus von Flües aus. Weil die Heimatpfarrei Sachseln zur Zeit seiner Geburt unter Interdikt stand, das heisst unter dem Verbot aller gottesdienstlichen Handlungen, konnte er nicht hier getauft, sondern musste dazu in die Nachbarpfarrei Kerns gebracht werden. Als Erwachsener wurde er zudem wiederholt in Streitigkeiten prozessierender Geistlicher hineingezogen. So führte er 1457 an der Spitze seiner Kirchgenossen erfolgreich einen Prozess gegen den Pfarrer von Sachseln. Dieser erhob unrechtmässig einen Anspruch auf den so genannten «nassen Zehnten», das heisst den Zehnten von Birn- und Apfelbäumen. In seinem Verhältnis zu den Priestern unterschied Klaus klar zwischen dem priesterlichen Amt, vor dem er stets grosse Ehrfurcht empfand, und seinen Trägern. Eigentlich waren nur zwei Priester seine Vertrauten: der mit ihm befreundete Heimo Amgrund, Pfarrer von Kriens und später von Stans, und sein Beichtvater Oswald Isner, Pfarrer von Kerns.
Glücklicher Ehemann und Vater
Um 1445/46 heiratete Klaus von Flüe Dorothee Wyss, die wahrscheinlich von der Schwendi ob Sarnen stammte. Während er selber damals bereits neunundzwanzigjährig war, zählte seine Braut erst etwa vierzehn Jahre. Die Heiratsfähigkeit der Mädchen war damals auf das vierzehnte Altersjahr festgesetzt. Der Ehe der beiden entsprossen zehn Kinder, fünf Knaben und fünf Mädchen. Über den Ehemann und Familienvater Klaus von Flüe berichtet Albrecht von Bonstetten, Dekan des Klosters Einsiedeln, 1478 kurz und bündig: «Er ist nie als ehebrüchig oder als Trinker vermerkt.»12 Die Tatsache, dass dies eigens hervorgehoben wird, weist darauf hin, dass solches bei den Eidgenossen des 15. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich war. Sie waren im Ausland vielmehr für ihren ausgiebigen Alkoholverbrauch bekannt. «Faire suisse» galt im damaligen Frankreich geradezu als Bezeichnung für das Saufen.13 Auch Ehebruch war ihnen wohl vertraut. So spricht es für die hohe Qualität der Ehe von Klaus und Dorothee, wenn der sächsische Junker Hans von Waldheim aus Halle, der 1474 auf dem Heimweg von einer Pilgerreise nach Südfrankreich den Ranft aufsuchte und dabei auch Dorothee und ihrem jüngsten Sohn Niklaus begegnete, diese wie folgt beschreibt: «Seine Frau ist noch eine hübsche junge Frau unter vierzig Jahren mit einem frischen Angesicht und glatter Haut. Der Junge ist aufrechter Haltung wie Bruder Klaus, er gleicht ihm, als wäre er ihm aus dem Gesicht geschnitten.»14 Waldheim schätzte Dorothee zu jung ein. In Wirklichkeit war sie damals bereits über vierzig.
«Reinigende Feile und antreibender Sporn»
Trotz seines familiären Glücks, seines wirtschaftlichen Erfolgs und seines gesellschaftlichen Aufstiegs – er wurde inzwischen in höchste politische Ämter gewählt und man sah in ihm einen kommenden Landammann – geriet Klaus von Flüe zwischen 1462 und 1465 in eine radikale Sinn- und Lebenskrise. Er wurde der weltlichen Geschäfte überdrüssig und verfiel in tiefe Schwermut und Depression. In seiner Not suchte er das Gespräch mit einem befreundeten Priester, wahrscheinlich Heimo Amgrund. Wie schwierig diese Zeit für ihn war, lässt sich erahnen, wenn er im Rückblick auf sie einem namentlich nicht bekannten Dominikaner, der ihn 1469 im Ranft besuchte, bekannte: Als es Gott «gefiel, um mich zurückzukaufen, seine Barmherzigkeit gegen mich vollzumachen, wandte er die reinigende Feile und den antreibenden Sporn an, d. h. eine schwere Versuchung, so dass er weder Tags noch Nachts duldete, dass ich ruhig war, sondern ich war so tief niedergedrückt, dass mir selbst die liebe Frau und die Gesellschaft der Kinder lästig ward. Während ich in diesem Zustand verharrte, kam jener sogenannt innig Vertraute und Freund (...) zu mir zu besonderer Aussprache. Wie wir über allerlei redeten, enthüllte ich ihm meine Beängstigung und Beschwernis. Er brachte darauf verschiedene heilsame Ratschläge und Mittel vor, durch welche er meine Versuchung zu heben hoffte, aber ich erwiderte ihm: Dies und Ähnliches hätte ich versucht und keinen Trost gefunden, und es hätte nicht im geringsten genützt.»15
«Andächtige Betrachtung des Leidens Christi»
Da empfahl ihm der befreundete Priester schliesslich das «beste und heilkräftigste Mittel»: «Es bleibe noch die andächtige Betrachtung des Leidens Jesu Christi. Ganz erheitert erwiderte ich, das sei mir unbekannt, und ich wisse nicht die Art und Weise, das Leiden Jesu Christi zu betrachten. Da lehrte er mich die Abschnitte des Leidens unterscheiden durch die sieben kanonischen Stunden nach der Tageseinteilung des kirchlichen Stundengebetes. Darauf hielt ich Einkehr in mich und begann, die Übung täglich zu erfüllen, in welcher ich aus Barmherzigkeit des Erlösers für meine Armut Fortschritte machte, und weil ich in viele Geschäfte und weltliche Beamtungen verstrickt war, sah ich, dass ich in der Gesellschaft der Menschen dies weniger andächtig vollbringen könne. Darum zog ich mich häufig an diesen heimlichen und nahen Ort meiner Leidensbetrachtung zurück (nämlich den Ranft), so dass niemand es wusste als meine Frau und dies jeweilen nur aus einfallenden Ursachen. Und so verblieb ich zwei Jahre.»16 Die Betrachtung des Leidens Christi war eine im späten Mittelalter sehr beliebte und weit verbreitete Andacht. Das anspruchsvolle Betrachtungsprogramm, das den sieben liturgischen Gebetszeiten zugeordnet war, konnte in einem Kloster gut bewältigt werden, es bestimmte ja dort den Tagesablauf.17 Für einen in der Welt lebenden und tätigen Menschen wie Klaus war es jedoch schwer zu erfüllen. Er nutzte dazu jede sich bietende Gelegenheit, auch manche Stunden der Nacht, wenn die anderen schliefen. Sein ältester Sohn Hans berichtet: «Jede Nacht, wann immer er erwachte, so hörte er, dass sein Vater wieder aufgestanden war und in der Stube bei dem Ofen betete.»18 Die Passionsbetrachtung half Klaus, «seine um sich selbst kreisenden Gedanken von sich zu lösen und Trost im Leiden Christi zu finden (...). Gemessen an dessen Leiden wurden seine Sorgen und Kümmernisse klein und bedeutungslos.»19 Er machte, wie er es dem unbekannten Dominikaner gegenüber formulierte, «für seine Armut Fortschritte », das heisst, er wurde innerlich «arm», frei von sich selber und offen für Gott und seinen Willen.
Rückzug von allen Ämtern
Die erste nach aussen sichtbare Folge bestand darin, dass Klaus von allen politischen und richterlichen Ämtern zurücktrat. Dieser Entschluss wurde ihm dadurch erleichtert, dass die Obwaldner Regierung in den Sechzigerjahren des 15. Jahrhunderts zu mancherlei unsauberen Geschäften Hand bot, die er nicht mitzutragen bereit war. Doch auch nach seinem Rückzug von den weltlichen Geschäften fand er nicht zur inneren Ruhe. Unerklärbare Visionen und weitere Begebenheiten, wie etwa ein gewaltsamer Sturz im steilen Hang, den er dem Wirken des Teufels zuschrieb, bedrängten ihn. Sein Beichtvater Oswald Isner berichtet, Klaus habe «ihm mehr als einmal geklagt, dass er viel und mancherlei Anfechtung vom Bösen Geist gehabt hätte, und besonders wäre der Teufel, wie ihn dünkte, einst in eines Edelmanns Gestalt zu ihm gekommen in köstlichen, beschlagenen Kleidern, wohlberitten, und nach langem Reden riet dieser ihm, er solle von seinem Unternehmen lassen und tun wie andere Leute, denn er möchte das ewige Leben nicht so verdienen».20 Diese Begebenheiten waren Ausdruck des dramatischen inneren Ringens von Klaus. Er war bereit, Gott mit Leib und Seele zu dienen, aber er wusste noch nicht, was dieser mit ihm vorhatte. «Was er suchte, fand er nicht, und was er fand, das suchte er nicht.»21 In einem schmerzlichen Prozess musste er lernen, sich von eigenen Vorstellungen zu lösen und sich ganz Gott zu überlassen.
Abschied von Frau und Kindern
Was ihm in seinen Visionen aufgegangen war, das wollte Klaus nun auch in der Wirklichkeit umsetzen. Er war an einen Punkt gelangt, an dem «es nur noch ‹Gott› für ihn geben konnte».22 Am 16. Oktober 1467, dem Festtag des heiligen Gallus, nahm er Abschied von Frau und Kindern, «in der festen Meinung, sich ins Ausland zu begeben und als Pilger von einer heiligen Stätte zur andern zu wandern».23 Dieser Entschluss war für seine Familie, besonders für seine Frau Dorothee, eine schwer zu verkraftende Zumutung. Zwei Jahre rang sie mit Klaus und suchte ihn davon abzubringen. Schliesslich gab sie ihren Widerstand auf und liess ihn ziehen, aus Liebe; «es war ihr Ja zu Gottes Ruf, dem Nikolaus folgte».24 Welch grosses Opfer dieses Ja für Dorothee bedeutete, lässt sich aus dem kurzen Gespräch erahnen, das Hans Waldheim sieben Jahre später bei seinem Besuch im Ranft mit ihr führte. Es ist das einzige Mal in den zeitgenössischen Berichten, dass Dorothee selber zu Wort kommt, was diese Stelle umso kostbarer macht. Auf die Frage Waldheims, «Liebe Frau, wie lange ist Bruder Klaus fort von Euch?», antwortete sie: «Dieser gegenwärtige Knabe, mein Sohn, wird am Tage des Sankt Johann des Täufers sieben Jahre alt, und als der Knabe dreizehn Wochen alt war, es war am Sankt Gallustage, da schied Bruder Klaus von mir und ist seit der Zeit nie mehr bei mir gewesen.»25 Ohne das Ja Dorothees hätte Klaus nie wegziehen und zu dem werden können, als den wir ihn heute kennen und verehren.26 Klausens Absicht, in die Fremde zu gehen und auf diese Weise Gott als Pilger zu dienen, schloss sich an eine alte christliche Tradition an. Ihr zufolge war «das Pilgern und In-die-Fremde-Ziehen ein asketisches Tun (...), in dem man Jesus nachfolgte, der zeitlebens keine Stelle hatte, wohin er sein Haupt legen konnte (Mt 8,20; Lk 9,58)».27 Als Armer – ausgerüstet nur mit einem Pilgerrock, der «vielleicht ein Werk von Dorothee»28 war – brach er auf.
Die Lichterscheinung von Liestal
Sein Weg führte ihn zunächst Richtung Basel. Angezielt war letztlich wohl das Elsass, das als Land der Bewegung der Gottesfreunde für asketisch-mystisch suchende Menschen eine hohe Anziehungskraft besass. Doch so weit sollte er nicht kommen. Als er sich eines Tages im Spätherbst 1467 vor Liestal befand, wurde er von Erscheinungen heimgesucht, die ihm die Weiterreise versperrten. Erni Rohrer schildert das Ereignis folgendermassen: «Und als er damals gegen Liestal kam, dünkte ihn, wie selbe Stadt und alles darin ganz rot wäre, darob er erschrak. Deshalb sei er aus ihr weg auf einen Hof zu einem Bauern gegangen, dem er nach mancherlei Rede seinen Willen zu verstehen gegeben, woran der selige Bauer keinen Gefallen hatte, sondern ihm das widerriet und meinte, er sollte wieder heimgehen zu den Seinen und daselbst Gott dienen. Das würde Gott angenehmer sein, als wenn er andern, fremden Leuten zur Last falle; und er werde es ruhiger haben, aus der Ursache, dass er ein Eidgenosse, denen nicht alle gleich hold wären.»29 Die letzte Bemerkung wirft ein nicht gerade günstiges Licht auf das damalige Image unserer Vorfahren im Ausland. Erni Rohrer fährt in seinem Bericht dann weiter: «Darum ging er [Klaus] in derselben Nacht aus des Bauern Haus auf das Feld. Da lag er die Nacht bei einem Zaun, und als er entschlief, kam ein Glanz und ein Schein vom Himmel; der öffnete ihn am Bauche, wovon ihm solcher Schmerz geschah, als ob ihn einer mit einem Messer aufgeschnitten, und zeigte ihm, dass er wieder heim und in den Ranft gehen sollte, was er auch sofort am Morgen tat.»30
Heimliche Rückkehr in die Heimat
Die Rückkehr in die Heimat bedeutete für Klaus keine Rückkehr in sein früheres Leben. Er zeigte sich weder seiner Frau noch seinen Kindern, sondern verbrachte die erste Nacht in einem Kuhstall in der Nähe seines Hauses. Am nächsten Morgen zog er sich ins weiter entfernte Melchtal auf die Alp Klisterli zurück. Hier blieb er acht Tage unentdeckt, bis Jäger zufällig seinen Aufenthaltsort fanden. Die heimliche Rückkehr erregte Aufsehen und zog zahlreiche Besucher an, die Klaus in seiner Ruhe störten. Daher durchstreifte er die umliegenden Berge und Wälder, um eine geeignete Einsiedelei zu finden. Eine erneute Erscheinung – vier helle Lichter, die vom Himmel kamen – zeigte ihm schliesslich die Stelle, wo er fortan leben und wohnen sollte. Es war der Ranft, in den er sich schon früher gern zur Betrachtung zurückgezogen hatte. Hier baute sich Bruder Klaus, wie er sich nun nannte, eine einfache Hütte aus Ästen und Laub und verbrachte in ihr den Winter. Im darauffolgenden Jahr bauten ihm seine Landsleute – gegen den Widerstand seiner Verwandten – eine Kapelle mit anschliessender Zelle. So fand er, kaum zehn Minuten von seinem Heimwesen entfernt, die endgültige Stätte, wo er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbringen sollte.
Abstinenz von Speise und Trank
Nach der schmerzhaften Erscheinung bei Liestal stellte Bruder Klaus fest, dass er seit elf Tagen nichts mehr gegessen und getrunken hatte. Über diese Tatsache verunsichert zog er Pfarrer Oswald Isner, seinen Beichtvater, ins Vertrauen. Er wollte sich vergewissern, dass er mit seiner Abstinenz «weder Gott versuchte noch freventlich und mutwillig die dem Menschen gesetzte Grenze überschritt».31 Pfarrer Isner riet ihm nach eigener Bezeugung: «Weil Gott ihn so lange bis zum elften Tag ohne Speise erhalten hätte, sofern er das ohne Hungertod möchte erleiden, so soll er sich noch mehr darin versuchen, was auch Bruder Klaus getan und von da weg bei zwanzig und einem halben Jahr bis an sein Ende also verharrte, dass er keine leibliche Speise brauchte weder mit Essen noch mit Trinken.» Isner fährt in seinem Bericht dann fort: da «ihn gar sehr gewundert, was ihn denn am Leben erhalten hätte, so habe er Bruder Klaus öfters gefragt und des längeren in ihn gedrungen, dass er ihm einmal in seinem Häuschen in grossem Vertrauen gesagt habe, wenn er bei der Messe sei und der Priester das Sakrament geniesse, dann empfange er davon eine Stärkung, dass er ohne Essen und Trinken sein möge, sonst möchte er das nicht erleiden».32 Was als Wunderfasten des Bruder Klaus in die Geschichte einging, würde man treffender als «die Geschichte einer wunderbaren Nahrung» bezeichnen. 33 Denn nur durch die Teilnahme an der Feier der Eucharistie war es Klaus möglich, sein Fasten aufrechtzuerhalten. Die Kommunion im engeren Sinn, die er zunächst nur an den hohen Festen und später etwa einmal im Monat empfing,34 war umfangen von der Praxis der so genannten «geistlichen Kommunion ». Durch jenes der beiden Fenster seiner Zelle, das nach innen, auf den Altar der Kapelle hin gerichtet ist, konnte er auf geistliche Weise an der Kommunion des Priesters und durch sie an der Kommunion, der Vereinigung mit Christus, teilhaben.
Politische und kirchliche Nachforschungen
Das Fasten von Bruder Klaus konnte nicht unentdeckt bleiben. Die Kunde davon verbreitete sich in Windeseile über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus. Die Obwaldner befürchteten, dem allgemeinen Gespöttt preisgegeben zu werden, falls sich dieses Fasten als Täuschung entlarven sollte. Sie liessen deshalb den Ranft Tag und Nacht bewachen, ohne aber feststellen zu können, dass Klaus heimlich Nahrung zugetragen wurde. Je länger diese Nahrungslosigkeit dauerte, desto mehr musste sie auch die Aufmerksamkeit der kirchlichen Oberen auf sich ziehen, denn sie brachte Bruder Klaus in den Ruf eines «lebendigen Heiligen»35 oder dann eines Teufels. Daher beauftragte Bischof Hermann von Konstanz, zu dessen Diözese damals grosse Teile der Eidgenossenschaft gehörten, seinen Weihbischof Thomas, sich «durch geheime Nachforschung und eifrige Verhörung (...) umständlich und genau zu informieren ».36 Als dieser am 27. April 1469 die Kapelle im Ranft einweihte, überprüfte er auch das Fasten von Bruder Klaus. Er führte mit ihm ein mehrstündiges Gespräch und stellte ihm, wie Heinrich Wölflin in seiner offiziellen, von der Obwaldner Regierung in Auftrag gegebenen Biografie von 1501 berichtet, die zunächst harmlos klingende «Frage, welches die grösste und Gott wohlgefälligste Tugend sei, und als Nikolaus antwortete: der Gehorsam, nahm Thomas sofort Brot und Wein, die er, um ihn zu versuchen, bei sich trug, brach das Brot in drei Bissen und befahl ihm, kraft Gehorsams, zu essen. Nikolaus wollte dem Befehl des Prälaten sich nicht widersetzen, aber die Schwierigkeit infolge der langen Entwöhnung fürchtend, erlangte er durch Bitten, dass jener ihm erlaubte, nur eines der Stücke, in drei kleine Teile zerteilt, essen zu müssen. Er konnte sie nur mit grösster Mühe geniessen, und auch das Schlücklein Wein konnte er kaum ohne Brechen schlürfen. Darüber bestürzt, erklärte der Prälat den Mann als völlig bewährt.»37 Von sich aus sprach Bruder Klaus nie über das Geheimnis seiner Nahrungslosigkeit. Auf die neugierige Frage Waldheims antwortete er nur: «Gott weiss»38 – vielleicht «der hintergründigste und abgründigste Satz, der von Klaus überliefert ist».39 Und auf die dreiste Behauptung eines Abtes: «Du bist also derjenige, der sich rühmt, in so vielen Jahren nichts gegessen zu haben?», erwiderte er: «Guter Vater, ich habe nie gesagt und sage nicht, dass ich nichts esse.»40 Bruder Klaus hütete sich zeitlebens davor, sich seiner Nahrungslosigkeit zu rühmen. Sie war für ihn «eine Gnade Gottes (...), die er weder hinterfragen noch deuten wollte».41 Zugleich war sie ein prophetisches Zeichen gegenüber einer Zeit und Gesellschaft, die sich durch eine bisher kaum gekannte «übermässige Esslust (...) nicht zuletzt des Klerus und der Mönche»42 auszeichnete. Heinrich von Gundelfingen, Universitätslehrer in Freiburg im Breisgau und späterer Chorherr von Beromünster, der erste Biograf von Bruder Klaus, brachte es auf den Punkt: «Während wir also essen, trinken und ausgelassen sind und durch den von vieler Speise aufgeblähten Bauch fast zerbersten, widmete sich Nikolaus dem Gebete.»43
Welche Ausmasse die Fresssucht jener Jahrzehnte annehmen konnte, zeigen die Akten der Landshuter Fürstenhochzeit, die 1475 – Bruder Klaus lebte nun schon seit acht Jahren ohne leibliche Speise im Ranft – mit grossem Pomp in Gegenwart des Kaisers und des Hochadels von halb Europa gefeiert wurde. Es genügt, einen einzigen Posten der erhaltenen Original-Kostenrechnung zu erwähnen, der die Abführmittel betrifft. «Bei den üppigen, stundenlang währenden Essen durch Tage hindurch musste immer wieder abführendes Konfekt gereicht werden, damit die hohen Gäste weiter tafeln konnten. Für Abführkonfekt (...) wurden fünfhundert Gulden bezahlt: Das entsprach ungefähr dem Wert von 200 000 DM.»44