Sein und Sollen

Ostern am Tag: 1 Kor 5,6b-8 (Apg 10,34a. 37-43; Joh 20,1-9 oder Lk 24,1-12)

Die Stadt Korinth hatte keinen wirklich guten Ruf. Das Leben dort beschreiben antike Autoren als oberflächlich und lasterhaft. Zwei grosse Hafenanlagen mit den dazugehörigen einschlägigen Vierteln werden den Eindruck noch verstärkt haben. Es war eine Frage der Zeit, bis auch die christliche Gemeinde mit Problemen konfrontiert sein würde, die die moralischen Standards und den Wertekanon des neuen Glaubens tangieren. Paulus weiss darum. Sein erster Brief an die Christinnen und Christen in Korinth zeigt, dass die Stunde zur Reaktion gekommen war. D as fünfte und das sechste Kapitel des 1 Kor widmen sich Fragen der Sexualmoral. Die Gedanken des Apostels wirken hier kaum wie moralinsaure Unterlassungsklagen eines verklemmten Finsterlings. Vielmehr ist ihm daran gelegen, jesuanische Standards in eine Debatte einzubringen, die auch die Leiblichkeit des Menschen umfasst. Die antike Gesellschaft gab sich in Fragen der Sexualität äusserst liberal. Alles schien erlaubt, nichts war verboten. Doch wo verläuft die Grenze zwischen Freiheit und Masslosigkeit, wo die Linien zwischen zeitgemässer Liberalität und unverbindlicher Beliebigkeit? Paulus begreift sich als Verkünder des Evangeliums, einer Botschaft, die Menschen zu einem Leben in Fülle führen soll. Dazu sind die Glaubenden von Gott her berufen. Das ist der Grund seiner liebevollen Zuwendung zu den Menschen. Wer in den Machtbereich Gottes gehört, ist frei. Frei auch, zu lieben. Doch Freiheit heisst für Paulus nicht, alle erdenklichen Optionen offen zu halten. Freiheit ist für ihn in erster Linie eine Grundhaltung, die niemals abstrahiert von der Frage, was zum Leben gerade auch des Anderen als förderlich und gut erscheint. In diesem Sinn begreift Paulus die Kirche als einen Ort gelebter Freiheit.

Aber dieser Ort ist nicht ein für allemal gewonnen. Vielmehr kommt es für die Glaubenden darauf an, ihn zu schützen und zu bewahren, indem sie je neu sicherstellen, dass sie sich noch auf den breiten Bahnen der Nachfolge Jesu bewegen. Dieser Weg, davon ist Paulus zutiefst überzeugt, führt in die Freiheit und so zum Leben. Nun kommt es darauf an, den Glaubenden diese Zusammenhänge in möglichst eingängiger Sprache zu vermitteln. Paulus wählt ein alltagstaugliches Bild. Er vergleicht die korinthische Gemeinde mit einem guten Stück Teig zum Backen von Brot. Der darf geschmacklich nicht verderben. Folglich muss es darum gehen, Obacht auf die beigemischten Zutaten zu geben.

Dass «ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert» (1 Kor 5,6), ist eine sprichwörtlich bekannte Erfahrungstatsache. «Sauerteig» meint für Paulus das Verlassen des Weges der Nachfolge, also das Tun oder Dulden von Unrecht – auch sittlichmoralischer Art. Hinter der Formulierung steht ein Ansporn: Die Christinnen und Christen sind zur Freiheit in Christus berufen. Also sollen sie ein Leben führen, das dieser Berufung gerecht wird. Wie schon eine kleine Menge Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert, so verdirbt auch einzelnes unsittliches Handeln – solange die Gemeinschaft der Glaubenden es duldend hinnimmt – die ganze Ekklesia (1 Kor 5,6b). Deshalb soll sie den Sauerteig wegschaffen (1 Kor 5,7a), d. h. unsittliches Verhalten in ihrer Mitte nicht gutheissen oder schweigend akzeptieren. Dass der Sauerteig jetzt als «alter Sauerteig» bezeichnet wird, ist eine von Paulus in Kauf genommene Verschiebung auf der Bildebene. Das grundlegende Paradigma des Wechsels von Nicht-Glauben zu Glauben bzw. Unfreiheit – Freiheit bzw. alter und neuer Existenz überlagert die Präzision des Bildes (vgl. Röm 6,6; 7,6; Kol 3,9; Eph 4,22). Das Fernhalten des Unmoralischen hat zum Ziel, dass die Gemeinde neuer Teig ist. Doch dieses Ziel ist nicht einfach das Ergebnis des sittlichen Wohlverhaltens der Glaubenden. Vielmehr sollen sie mit ihrem Tun einholen, was sie von Gott her schon längst sind: «ungesäuert», das heisst: neu und frei.

Paulus im jüdischen Kontext

Die Bilder, mit denen Paulus seinen Appell in Szene setzt, sind der Paschathematik entnommen. «Fegt den alten Sauerteig hinaus» (V7a) rekurriert auf Ex 12, 14–20 (Ex 13,3–10; 23,15; Dtn 16,3). In Erinnerung an den Exodus soll aller Sauerteig vor dem Passafest beseitigt und während der ganzen Woche nur ungesäuertes Brot gegessen werden. Die Formulierung, den Sauerteig «auszufegen» (ekkathairo) wird sonst nicht für das Wegschaffen von Sauerteig gebraucht, ist aber möglicherweise eine Übersetzung des rabbinischen Terminus technicus cêr hâmê s. Die in der Freiheit des Evangeliums lebenden Glaubenden werden bildlich als das ungesäuerte Brot des Passafestes skizziert. Vermutlich beginnt hier der Übergang von einer allegorischen zur typologischen Schriftauslegung. Paulus will die Aussagen der Schrift nicht nur ethisch-moralisch interpretieren, sondern er sieht im Geschehen des Pascha bzw. des Exodus ein Urbild der Befreiung, die in Christus eschatologisch verwirklicht ist. Die Befreiung aus der Knechtschaft ist für Paulus die Befreiung aus der lebensfeindlichen Knechtschaft von Sünde und Tod.

Heute mit Paulus im Gespräch

In einer globalen und zugleich pluralen Welt von ethischen Werten und Normen zu sprechen, ist sicher schwierig. Doch kann der soziologische Befund die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden nicht aus der Verantwortung lösen, auf der Grundlage und im Geist des Evangeliums Stellung zu beziehen und positiv aufzuzeigen, was Nachfolge Jesu im Hier und im Jetzt heissen kann und heissen muss. Das verlangt Dialogbereitschaft und nicht Abschottung. Es verlangt aber auch den Mut zum eigenen Profil und die Erkenntnis, dass weder Rigorismus noch Ausverkauf Antworten sein können auf die Frage, was der Glaube glaubt.

 

Robert Vorholt

Robert Vorholt

Prof. Dr. Robert Vorholt (Jg. 1970) wurde in Münster/Westfalen (D) geboren, studierte in Münster und Paris, ist Priester, seit 2012 ordentlicher Professor für Exegese des Neuen Testaments und seit 2017 Dekan der Theologischen Fakultät an der Universität Luzern.