Bildung und Genuss

Bibelatlas

Der «Neue Bibelatlas» ist ein «Fest des Schauens und Entdeckens»

Pflanzen, Tiere, Schifffahrtsrisiken und natürlich Landkarten: Dieser Atlas wartet mit einer Fülle von Inforationen auf.

Ein Fest bietet mehr an, als man derzeit essen und verdauen kann, aber man kann die Fülle und Qualität geniessen. Wer diesen so reich bebilderten und kommentierenden Bibelatlas aufschlägt, erlebt ein Fest des Schauens und des Entdeckens neuer Zusammenhänge. Ein 40seitiges Ortsnamenregister erschliesst das thematisch vielfältige Kartenmaterial, nennt Namensvarianten, verweist auf die kommentierenden Passagen im Atlas und gibt Koordinatenzahlen an, mit denen man einen Ort auch ausserhalb des Atlas – etwa bei Google-Earth und auf anderen Karten – finden kann.

Präzision kann Illusion sein

Was vermag ein Bibelatlas darüber hinaus sichtbar zu machen? Die zahlreichen Fotos sind meistens eher klein, aber ausreichend informativ, auch wenn sie ästhetisch nicht an Hochglanz-Fotobände heranreichen. Ortspläne werden grösser dargestellt, aber sind trotz ihrer Anschaulichkeit interpretationsbedürftig. Gewiss dient Anschaulichkeit dem Interesse des Laien, möglichst genau informiert zu werden; doch fördert dies zuweilen auch die Illusion einer nur scheinbaren Präzision: Bei den Karten sind die Grenzen jeweils farbig und fett eingezeichnet, obwohl deren Verlauf oft unsicher ist; zudem ist ein präziser Grenzverlauf ein modernes Phänomen, das wir nicht unkritisch auf alte Zeiten übertragen können. Ehrlicher ist es, wenn zum Beispiel die Karte der Wüstenwanderung Israels auf eine präzise Route verzichtet und sich stattdessen bemüht, die zahlreichen alten Strassen einzuzeichnen. Originell ist die Grafik der saisonal bedingten Schifffahrtsrisiken, welche die Reisen des Paulus veranschaulichen. Und die theologischen Positionen der Pharisäer, Sadduzäer, Essener und Zeloten werden in Form einer modernen «Meinungsumfrage» übersichtlich nebeneinandergestellt. Auch sonst finden sich zahlreiche Schautafeln und exkursartige Informationen, die grafisch geschickt in speziellen Kästchen gestaltet sind. Der Atlas beginnt mit einer knappen, aber sehr informativen Landeskunde, die auch Fragen nach dem Klima, nach Handel und Gewerbe sowie nach der Pflanzen und Tierwelt umfasst. Ausführlicher ist das Kapitel über den Vorderen Orient in vorbiblischer Zeit; es zeigt die kulturellen und religiösen Voraussetzungen für die nachherige biblische Zeit. Der umfangreichste Teil bringt geschichtliche Informationen von der Steinzeit bis zur Ausbreitung des Christentums, wobei stets die biblischen Texte in ihrem weltpolitischen Zusammenhang gesehen und mit archäologischen Funden und Beobachtungen konfrontiert werden. So zeigt zum Beispiel die Palaestina-Karte aller gefundenen nichtjüdischen Heiligümer aus römischer Zeit die multikulturelle Realität jener Epoche, in der auch das Neue Testament entstand. Ein Anhang informiert knapp zu wichtigsten methodischen Fragen: Mit welchen Problemen wird die Kartographie biblischer Orte seit zwei Jahrtausenden konfrontiert, mit welchen die Archäologie, die Chronologie, die Entzifferung von Inschriften, die Ikonographie (Deutung der Bilddokumente)? Und welche Konsequenzen ergeben sich aus dem spezifischen Charakter der biblischen Texte, die nicht als ein vergangenes Wort steril archiviert, sondern immer wieder neu aktualisiert und ergänzt wurden? Die dreiköpfige professorale Herausgeberschaft und acht weitere Autoren, unter ihnen zwei Frauen, bürgen für ein solides Niveau und für ökumenische Ausgewogenheit. Alle Beiträge wurden erstmals für diesen Atlas verfasst; insofern unterscheidet sich dieses Buch von andern Bibelatlanten, welche, wie zum Beispiel «Herders grosser Bibelatlas» von Othmar Keel und Max Küchler (erste Auflage 1989), einen bestehenden amerikanischen Atlas adaptiert haben.

Mit Vorwissen ist es einfacher

So ist dieser Bibelatlas ein festlicher Genuss. Die reichhaltige und geschickt kommentierende Hinführung für Laien ist bewundernswert. Allerdings vermag auch dieser Bibelatlas die grundsätzliche Realität des Bibelworts «Wer hat, dem wird gegeben . . .» (Mt 13,12) nicht aufzuheben. Die gebotene Informationsfülle kann trotz grafischem Geschick auch erdrückend wirken, anstatt Weiterbildung zu fördern. Die zahlreichen Karten und Statistiken müssen interpretiert werden, was mit Vorwissen leichter fallen wird. Manche Perle dieses Atlas wird deshalb bei vielen Benutzern leider unentdeckt bleiben (so verrät das Vorwort zwei Beobachtungen, die auch mir als versiertem Leser und Bibelkenner nicht aufgefallen wären). Doch solche Einwände sind ein «Jammern auf hohem Niveau». Dieser Atlas ist ein inhaltsreiches und benutzerfreundliches Werk für unterschiedliche Bildungsgrade, weist ein gutes Preis-Nutzen-Verhältnis auf und ist sehr zu empfehlen.

Wolfgang Zwickel, Renate Egger-Wenzel, Michael Ernst (Hg.): Herders neuer Bibelatlas. Herder-Verlag, Freiburg im Breisgau 2013. 400 Seiten, Fr. 75.–.

 

Edgar Kellenberger

Dr. theol. Edgar Kellenberger lebt als pensionierter Pfarrer in Oberwil BL.