Wer kennt Stanislaw Petrow? Der vielleicht grösste Held des 20. Jahrhunderts starb vor fünf Jahren einsam in einer Plattenbauwohnung bei Moskau. Am 26. September 1983 hatte er als diensthabender Offizier trotz einer Serie von Fehlalarmen, die anzeigten, dass amerikanische Kontinentalraketen unterwegs seien, die Nerven behalten und keinen Nuklearschlag ausgelöst, sondern die Lage richtig eingeschätzt. Gegenüber einer Journalistin antwortete er auf die Frage, ob er ein Held sei: «Nein, ich bin kein Held. Ich habe einfach nur meinen Job richtig gemacht.» Diese Antwort bewegt sich ganz auf biblischer Linie.
Abraham, Jakob & der Klub der Antihelden
Da gibt es zwar dumpfe Erinnerungen an heldenhafte Giganten der Vorzeit, als die Götter noch mit den Menschentöchtern verkehrten (Gen 6,4), aber die Stars der biblischen Manege sind nicht aus Holz für Helden geschnitzt. Die Ereignisse im Paradies enden im Rauswurf. Mit einem Brudermord geht es weiter und so wundert es kaum noch, dass die Fortsetzungsgeschichte in eine Sintflut mündet.
Mit Abraham startet Gott einen Neuanfang. Auch er kein Held. In Ägypten gibt er seine Frau als Schwester aus, um nicht um ihretwillen getötet zu werden, und auf göttliches Geheiss hin ist er bereit, seinen Sohn zu schlachten. In Woody Allens Fortschreibung dieser unerträglichen Geschichte stellt Gott Abraham zur Rede und hält ihm vor, dass er offenbar keinen Humor verstehe. Natürlich sei die Aufforderung, den einzigen Sohn zu opfern, nicht ernst gemeint gewesen. «Aber beweist das nicht, dass ich dich liebe, dass ich bereit war, meinen einzigen Sohn aus deiner Laune heraus zu opfern?», rechtfertigt sich der Allen’sche Abraham, worauf Gott antwortet: «Es beweist, dass manche Menschen jeden noch so unsinnigen Befehl befolgen, solange er von einer wohlklingenden, gut modulierten Stimme kommt.»
Auch nach Abraham wird es nicht wirklich besser mit Jakob, dem Lügner, und seinen Söhnen, die ihren Bruder Josef in die Sklaverei verkaufen. Was uns vorgeführt wird, ist ein menschlich, allzu menschlicher Klub von Antihelden und damit ein Spiegel der Realität.
Mose: Arm Gottes, Vermittler – kein Held
Auch Mose avanciert nicht zum Helden. Seine Vita beginnt zwar verheissungsvoll, wird er doch dank einer wunderbaren interkulturellen Frauenallianz von Hebammen, Mutter, Schwester und Prinzessin als Säugling vor der Ermordung gerettet und am ägyptischen Königshof aufgezogen. Ähnliches erzählte man im Land von Euphrat und Tigris vom heldenhaften König Sargon. Doch dann nimmt die Geschichte eine ganz andere Wendung. Mose wird zum Totschläger eines Ägypters (Ex 2,13–14), muss ins Exil fliehen, wo er als Hirte sein Brot verdient und dabei eine Gottesoffenbarung erlebt, die sein Leben verändert. Er wird mit dem Stab in der Hand buchstäblich zum verlängerten Arm Gottes und vor allem zum unermüdlichen Fürsprecher seines Volkes. Doch Gott verwehrt ihm ein heldenhaftes Finale mit Einzug ins Gelobte Land. Grund: Er hatte sich und Aaron ein gottgewirktes Wunder selbst zugeschrieben (Num 20,1–13). Das Grab Moses jenseits des Jordans auf dem Nebo im heutigen Jordanien ist ein Symbol menschlicher Demut angesichts Gottes.
David: Lebemann und Diplomat – kein Held
Typischerweise wird auch in der Erzählung vom Sieg über Goliat nicht vom Helden David gesprochen, vielmehr heisst es: «Und die Philister sahen, dass ihr Held tot war, und sie flohen» (1 Sam 17,51). Um jeglichen Kult um David im Keim zu ersticken, wird schonungslos erzählt, wie skrupellos er vorging, um an die Jerusalemerin Batseba heranzukommen. Er schickte deren Mann kurzerhand an die Kriegsfront, wo er umkam.
Es ist bezeichnenderweise der schlechte Ratgeber Huschai, der gegenüber Davids Sohn Absalom die schmeichlerischen Worte verwendet, dass ja doch ganz Israel wisse, dass sein Vater ein Held sei und dass die um ihn herum tüchtig seien (2 Sam 17,10). Die unglaublich facettenreichen Davidgeschichten führen uns aber gerade keinen strahlenden Helden vor, sondern zeichnen das Bild eines gefühlvollen Mannes. Er liebt und beweint seinen Freund Jonatan, er hört auf den Rat Abigails, die ihn von einem Blutbad abhält, er verschont Saul, der ihn verfolgt, er liebt seinen Sohn Absalom, obwohl ihn dieser vom Thron stürzen wollte, und er vergibt denen, die bereit waren, ihn zu verraten.
Selbst Gott: Ein gescheiterter Held?
Aber natürlich sehnten sich auch die Israeliten nach Helden. Anlässlich einer militärischen Bedrohung ruft der Prophet Joel: «Schmiedet eure Pflugscharen zu Schwertern und eure Winzermesser zu Speeren! Selbst der Schwächling sage: Ich bin ein Held!» (4,10). Dem König wurde zugerufen: «Gürte dein Schwert um die Hüfte, du Held, deine Hoheit und deine Pracht!» (Ps 45,4). Und einen Prinzen, von dem man sich eine starke Regierung und Friedenszeit erhoffte, konnte man gar «Heldengott» nennen (Jes 9,5).
Viel lauter ist in der Bibel aber die Stimme, die auf Kriegsgewalt abgestütztes Heldentum verwirft: «Keine Hilfe ist dem König das grösste Heer, der Held wird nicht gerettet durch grösste Kraft» (Ps 33,16). «Was rühmst du dich der Bosheit, du Held?», fragt ein anderer Psalm, um zu antworten: «Gottes Güte währt allezeit» (Ps 52,3). Diesem Gott, dem wahren König, wird das Heldentum zugesprochen: «JHWH, der Starke und Held, JHWH, der Held im Kampf» (Ps 24,8). Ähnlich tönt es bei den Propheten, die JHWH als einen schildern, der auszieht, «wie ein Held, wie ein Kriegsmann» (Jes 42,13), der in Volkes Mitte ist als «rettender Held» (Zef 3,17), als «mächtiger Held» (Jer 20,11). Aber angesichts der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier wendet sich Jeremia verzweifelt an seinen Heldengott mit den Worten: «Warum bist du wie ein Hilfloser, wie ein Held, der nicht helfen kann? Du bist doch in unserer Mitte, JHWH, und dein Name ist ausgerufen über uns! Verlass uns nicht!» (Jer 14,9).
Weisheit statt Heldentum
Das einzige biblische Buch, das von A bis Z eine Heldengeschichte erzählt, handelt von der Jüdin Judit, der es dank Gebet, Mut und List zusammen mit ihrer Dienerin gelingt, dem Tyrannen Holofernes den Kopf abzuschlagen und so einen Krieg zu verhindern. Die fromme Fiktion ist ein grotesker Abgesang auf männliches Heldentum und ein Loblied auf die Kraft der Weisheit und Gottesfurcht. Judit hat eine ganze Reihe von Vorgängerinnen, die durch Witz und Mut Katastrophen zu verhindern halfen und dem Tod das Leben abtrotzten. Zu nennen wäre etwa Abigail, die mit beladenen Eseln David entgegenzieht, um ein Blutbad in ihrem Dorf zu verhindern (1 Sam 25), oder die weise Frau von Abel-bet-Maacha, die in Verhandlungen mit dem Feldherrn Joab ihre Stadt vor der Vernichtung rettet (2 Sam 20,14–22). Rut und Ester, nach denen ganze biblische Bücher benannt sind, setzen sich mit Leib und Seele für ihre Nächsten ein und schaffen so die Grundlage für eine Zukunft.
Judit und ihre Vorläuferinnen können als Verkörperung der Weisheit (hebr. «Chokmah», gr. «Sophia», lat. «Sapientia») verstanden werden. Diese in der Bibel weiblich personifizierte Qualität des «Homo sapiens» ist die in Natur und Geschichte geheimnisvoll wirkende «Heldenkraft», an der sich die Menschen orientieren sollen, ganz besonders die noch unbedarften jungen Männer (Spr 1,1–7).
Paulus sah in Christus, dem gekreuzigten Lamm Gottes, eine Verkörperung dieser Weisheit, die einer auf Heldentum erpichten Welt, in der es von Heldenstatuen nur so wimmelte, allerdings als vollkommen absurd erschien (1 Kor 1,21.30).
Thomas Staubli