Vom einst Gottgleichen zum nun Erhöhten

Ist Jesus ein Held? Aber ja, und wie. Sein Leben bietet den Stoff für eine andere als übliche Heldenerzählung. Der Philipperhymnus deutet die grosse Diskrepanz zwischen dem Gott- und Gekreuzigtsein Jesu.

Was ist ein Held? Die Definition der Online-Enzyklopädie Wikipedia fällt ebenso knapp wie markant aus: «Ein Held bzw. eine Heldin ist eine Person, die eine Heldentat, also eine besondere, außeralltägliche Leistung vollbracht hat.» Gemessen daran war Jesus sicher ein Held. Das Markus-Evangelium notiert beinahe lapidar: «Viele Menschen aus Galiläa folgten Jesus nach; auch aus Judäa und Jerusalem, aus Idumäa und von jenseits des Jordans und aus der Umgebung von Tyrus und Sidon kamen Scharen von Menschen zu ihm, als sie hörten, was er tat. […] Er heilte viele, sodass alle, die ein Leiden hatten, sich an ihn herandrängten» (Mk 3,7 ff). Den Hype kann man sich vorstellen. Spektakuläre Szenen prägen das öffentliche Heldenimage des Gottessohnes aus Nazareth (vgl. nur Mk 2,1 ff). Noch beim Einzug in Jerusalem wird er wie ein Rockstar gefeiert. Fragt sich nur, ob das alles auch dem Selbstverständnis Jesu entspricht.

Kann ein Gekreuzigter ein Held sein?

Zur Mitte des Evangeliums berichtet Markus von einer denkwürdigen Szene. Lokalisiert wird sie in Caesarea Philippi, ganz im Norden Galiläas. Es ist der Anfang des Weges Jesu. Und gleich zu Beginn schafft Jesus Klarheit. «Für wen halten mich die Menschen?», fragt er (Mk 8,27) – und erhält beachtliche Antworten: «Einige für Johannes, den Täufer, andere für Elija, wieder andere für sonst einen der Propheten.» Das ist nicht Nichts! Johannes galt vielen Zeitgenossen Jesu als die grösste religiöse Erweckungsgestalt ihrer Zeit, nur knapp hinter Elija, dem Repräsentanten endzeitlicher Vollendung. Aber dabei bleibt es nicht. Nach seiner Einschätzung gefragt, ist es Simon Petrus, das Oberhaupt des Zwölferkreises, der alles toppt und überbietet: «Du bist der Christus!» (Mk 8,29). Das petrinische Glaubensbekenntnis trifft ins Schwarze und lotet zugleich die Massstäbe aus: Jesus ist Gottes Gesalbter, der Messias Israels. Das ist Champions League, mehr geht nicht. Üblicherweise würde man nach dieser Episode einiges an Aufwand vermuten, den der Evangelist zur erzählenden Ausschmückung der christologischen Klärung betreibt. Gemessen an antiken Massstäben wäre nach feierlicher Proklamation im Mindesten ein festlicher Triumphzug für den Helden zu erwarten mit Trommelwirbel und Fanfarenschall. Doch nichts von alledem. Der Gottessohn Jesus geht seinen Weg hinauf nach Jerusalem. Doch dieser Weg verdichtet sich Schritt für Schritt zur Via Dolorosa. Am Ende steht das Kreuz. Und daran hängt er dann, der gekreuzigte Christus. Das ist nicht der Stoff, aus dem sich Heldenepen stricken lassen. Im Gegenteil! Ist die Anbetung eines am Kreuz Hingerichteten nicht unglaubwürdig und lächerlich? Der Einwand wurde schon früh erhoben. Für Ausleger der jüdischen Tora war die Sache jedenfalls klar: Verflucht ist, der so endet, nicht nur von den Menschen, sondern sogar von Gott (vgl. Dtn 21,23). Doch auch antike Gebildete, wie der Philosoph Celsus, oder Satiriker, wie Lukian von Samosata, spotteten darüber, dass die Christen einen Gekreuzigten als göttlich verehrten, denn der Kontrast dieses Bekenntnisses zur gängigen Vorstellung darüber, was einen gottgleichen Helden auszeichnet und ihn von sterblichen Menschen unterscheidet, könnte grösser kaum sein.

Erniedrigt und erhöht

Just dieser Kontrast ist es aber schliesslich auch, mit dem es einem frühchristlichen Glaubenslied gelingt, die stechende Diskrepanz zu überwinden. Paulus zitiert diesen Hymnus in seinem Brief an die Christinnen und Christen von Philippi. Phil 2,6–11 zeichnet den Weg Jesu nach von der höchsten Herrlichkeit des Himmels bis tief hinab in das tiefste Elend menschlicher Existenz und dann wieder retour vom Tiefpunkt des Todes hinauf in die Höhe vollendeter Gemeinschaft mit keinem Geringeren als dem lebendigen Gott. Die besondere Herausforderung, vor der der Verfasser dieses Liedes steht, ist es, das wahre Menschsein Jesu zu besingen, ohne sein wahres Gottsein zu beschneiden, und – mehr noch – die göttliche Unerreichbarkeit des Sohnes zu behaupten, ohne seinen Kreuzestod zu relativieren. Dies gelingt vor allem deswegen so gut, weil sich der sogenannte Philipperhymnus auf den hellenistisch-philosophisch vorgeprägten Denkbahnen des Diasporajudentums bewegt. Seine Sprache ist einschlägig. Es fallen grosse Begriffe, die allesamt Topoi griechischer Weltanschauung sind, zum Beispiel die Vorstellung von Selbstentäusserung und Erniedrigung, unterirdischer, irdischer und himmlischer Macht, Emporstieg und Erhöhung. Der starke Kontrast zwischen Gottgleichheit und Sklavengestalt, mit dem der Hymnus arbeitet, schärft die Christologie. Das Lied nimmt dazu Himmel und Erde in den Blick. Er verfolgt die Linien von Gott, dem Vater, her und auf ihn hin. Die erste Strophe (Phil 2,6–8) weist geradezu brachial nach unten: Die skizzierte Abwärtsbewegung reicht von der äussersten Höhe göttlicher Seinsherrlichkeit bis hinab zum Kreuzestod einer Sklavenexistenz. Die zweite Strophe (Phil 2,9–11) beschreibt nicht weniger atemberaubend den umgekehrten Weg. Während in der ersten Strophe durchgehend Jesus das Subjekt der Handlung ist, konzentriert sich in der zweiten Strophe alles auf Gott als dem entscheidenden Handlungsträger. Beide Strophen stehen aber nicht unabhängig nebeneinander, sondern werden adverbisch mit «darum» kausal zueinander in Beziehung gesetzt. So wird besonders betont, dass die gehorsame Selbstentäusserung Jesu kein krachend scheiterndes Fallen aus dem Himmelbett meint, sondern eine bewusst in Kauf genommene Bewegung im Sinne liebender Hingabe zu Gott und den Menschen ist. Gerade deshalb folgt auf den Abstieg des Gottgleichen seine Erhöhung aufgrund des Willens Gottes. Ganz am Ende steht die feierliche Proklamation des Herr-, d. h. Gottseins Jesu Christi zur Ehre Gottes des Vaters.

Um den steilen Niedergang Jesu aus den himmlischen Höhen hinab in die harte Wirklichkeit menschlichen Lebens und Sterbens auszudrücken, thematisiert der Philipperhymnus die «Entäusserung» des Gottgleichen. Schon zu Beginn wurde mit einer Wendung, die ursprünglich dem Verbrechermilieu entstammt, zum Ausdruck gebracht, dass Jesus sich nicht an sein heldenhaftes Gottsein wie an eine Beute klammerte. Seine Entäusserung ist vielmehr Konsequenz seines freiwilligen Verzichts. Sie beschreibt die Dramatik der Menschwerdung. Jesus ist und bleibt der Sohn Gottes. Aber im Zuge der Inkarnation behält er nichts von seiner Hoheit zurück. Er verzichtet ganz und gar und folgt seiner Sendung zu den Menschen. Nur so bekommt sein Sterben erlösende Kraft. Der, der «wie Gott war», nimmt die «Gestalt eines Sklaven» an und wird «den Menschen gleich». Vorbehaltlos nimmt Jesus die Begrenztheit und Sterblichkeit menschlichen Lebens auf sich. Phil 2,7 spricht in diesem Zusammenhang von «Menschenähnlichkeit». Der Gottessohn, der er ist, bewegt sich auf die Menschen zu. Gerade deshalb wird er ihnen noch und noch «ähnlich». Aber diese Ähnlichkeit hebt das Gottsein Jesu nicht auf. Nur deshalb kann seine Menschwerdung rettende Kraft entfalten.

Der zweite Begriff, der den Abstieg kennzeichnet, ist der der «Erniedrigung». Aber es ist eine innere Stärke, aus der heraus Jesus sich, um den Menschen zur Gänze nahe sein zu können, kleinmachen will. Der Tod am Kreuz markiert den Tiefpunkt dieser Dynamik. Doch die gehorsame Selbsterniedrigung Jesu um der Menschen willen ist der Grund für seine Erhöhung durch Gott. Der Gedanke entspricht der Grundstruktur des vierten Liedes vom Gottesknecht (Jes 53) und weist doch weit darüber hinaus, denn es ist Gottes Sohn, der sich zugunsten vieler zum Knecht machen lässt und dafür vom Vater erhöht wird. Der Name, der ihm geschenkt wird, ist der Name Gottes selbst. Jesus ist Kyrios. Ihm wird der Titel verliehen, den die griechische Übersetzung der Bibel Israels zur Wiedergabe des Gottesnamens selbst reserviert. Der Unterschied zwischen dem einst «Gottgleichen» (Phil 2,6) und dem nunmehr «Erhöhten» (Phil 2,9) liegt dabei nicht in grösserer Würde oder Gottesunmittelbarkeit, sondern in der Integration von menschlichem Leben und Sterben in die Beziehung des Auferweckten zu Gott und den Menschen. Der erhöhte Kyrios Christus ist und bleibt der als Mensch Erfundene und am Kreuz Gestorbene, wie umgekehrt der irdische Jesus, der den Tod eines Menschen stirbt, der Gottgleiche ist und bleibt.

Robert Vorholt


Robert Vorholt

Prof. Dr. Robert Vorholt (Jg. 1970) wurde in Münster/Westfalen (D) geboren, studierte in Münster und Paris, ist Priester, seit 2012 ordentlicher Professor für Exegese des Neuen Testaments und seit 2017 Dekan der Theologischen Fakultät an der Universität Luzern.