Berufen zur Freiheit der Tat: Das «Phänomen erlernter Hilflosigkeit»

Seit den 1960er-Jahren ist in der Verhaltenspsychologie das Phänomen der «erlernten Hilflosigkeit» bekannt. Erforscht wurde es von den US-amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligmann und Steven F. Maier. Auch wenn ihre Forschungsmethoden (Versuchsketten am Verhalten von Hunden) heute entschieden abzulehnen sind – mit der Erforschung des «Phänomens der erlernten Hilflosigkeit» haben sie den Blick dafür geschärft, dass Individuen aufgrund radikaler und ständiger Erfahrungen von Verletzung und Schmerz, von Hilflosigkeit und von Kontrollverlust in ihrem gesamten Denk- und Handlungsrepertoire langfristig eingeschränkt werden können. Vielmehr noch: Werden Individuen in der Verarbeitung solcher Erfahrungen alleine gelassen oder werden sie diesen gar bewusst und ständig ausgesetzt, ist eine Grundhaltung vorprogrammiert, die sie nicht nur emotional wie motivational lähmt und unter ständigen Stress stellt, sondern auch psychisch wie physisch zugrunde richtet. Denn der pathologische Zustand «erlernter Hilflosigkeit» versagt Menschen jedwede Möglichkeit, Lösungsstrategien für neue Situationen und Kontexte sowie für auftretende Probleme zu finden oder Lösungsstrategien von anderen positiv anzunehmen, weil es für sie sowieso keinen Ausweg gibt. Selbst wenn sie sich theoretisch über Lösungsstrategien bewusst sind, faktisch werden sie so von ihrem pathologischen Zustand bestimmt, dass sie ihn praktisch nicht überwinden können. Bildlich gesprochen: Es entsteht ein Teufelskreis der Hoffnungs- und Machtlosigkeit, bei dem die Angst Stück für Stück die Seele «aufisst». Wie nun umgehen mit dem Phänomen erlernter Hilflosigkeit?

Lösungsstrategie: Die Schaffung handlungsorientierter Räume

Von den unterschiedlichen Lösungsstrategien, die Auswege aus dem pathologischen Zustand «erlernter Hilflosigkeit» anzeigen, erweisen sich solche als zukunftsweisend, die handlungsorientierte Räume zu realisieren suchen. Solche befreienden Räume basieren auf Beziehungsprozessen, die von vorbehaltloser Wertschätzung, gegenseitigem Vertrauen und zweckfreier Verlässlichkeit geprägt sein sollen, dank derer Menschen das Vertrauen und die Überzeugung in die Wirksamkeit und Kontrollierbarkeit ihres eigenen Handelns zurückgewinnen können: Räume also, die eine Partizipation an solchen Beziehungsqualitäten ermöglichen, die das Gespür für die Positivität und Kreativität des je eigenen Möglichkeitspotenzials (wieder) vermitteln und die ein Vertrauen in die Ermöglichungsressourcen der eigenen Handlungsfähigkeiten «tatsächlich» (im Sinne von handlungsorientiert) (zurück-)gewinnen lassen.

Kirche im Angesicht «erlernter Hilflosigkeit»

Das Phänomen der erlernten Hilflosigkeit stellt gerade auch für die Kirche eine besondere Anfrage an ihr pastorales Selbstverständnis dar. Daran erinnert vor allem das Sprachspiel von Papst Franziskus, dem eine «verbeulte Kirche» lieber ist als eine sicherheitsverliebte, sich selbst lähmende Kirche (vgl. Evangelii gaudium 49). Angesichts der Radikalität spätmoderner Kontexte kann auch Kirche der Gefahr nicht entkommen, Beziehungsqualitäten Raum zu geben, die der Radikalität der Erfahrungen von Hilflosigkeit und Angst Vorschub leisten. Gerade das Freiheitsparadigma des christlichen Glaubens steht dem diametral entgegen. Es erinnert nicht nur an die Denk- und Handlungsfreiheit Jesu, sondern will Menschen an solchen Beziehungsqualitäten partizipieren lassen, die ihnen handlungsorientierte Auswege aus der selbstzerstörerischen Macht «erlernter Hilflosigkeit» anbieten.

Talente wider die «erlernte Hilflosigkeit»

Das matthäische Gleichnis von den Talenten erfährt nicht selten eine existenzielle Auslegung des Gnadencharakters der Gott-Mensch-Verbindung. Die Stossrichtungen dieser Auslegungstraditionen wollen Menschen dafür sensibilisieren und ermutigen, sich mit dem Möglichkeitspotenzial und Chancenreichtum je eigener Talente beschenkt und freigesetzt zu erfahren und so trotz möglicher (Versagens-)Ängste oder Heils(un)gewissheiten sich den Wagnissen des Lebens tatkräftig auszusetzen. Die radikale Pointe dieser Auslegungstraditionen mündet in der Tatsache, dass uns hierfür nur dieses eine und nicht wiederholbare Leben zur Verfügung steht. Was für die handlungsorientierten Massnahmen gegen die zerstörerische Kraft «erlernter Hilflosigkeit» gilt, wird theologierelevant für die pastorale Grundausrichtung der Kirche im Kontext dieses Gleichnisses. Die kirchliche Pastoral darf niemals solche Räume verantworten (wollen), deren Beziehungsqualitäten Menschen (wie in der Gestalt des dritten Knechtes) in den Teufelskreis der Hoffnungs- und Machtlosigkeit treibt und der dazu führt, dass Menschen – von Angst und willkürlicher Hilflosigkeit beherrscht – ihrem Möglichkeitspotenzial und den Ermöglichungsressourcen der eigenen Handlungsfähigkeiten nicht mehr trauen. Vielmehr sollte die kirchliche Pastoral Menschen die Beziehungsqualitäten von vorbehaltloser Wertschätzung, gegenseitigem Vertrauen und zweckfreien Verlässlichkeiten erfahrbar machen, die es ihnen ermöglicht, an der angstfreien Lebens- und Glaubenseinstellung der beiden anderen Knechte partizipieren zu können, die sich zur Freiheit der Tat berufen erfahren.

 

Salvatore Loiero

Salvatore Loiero

Dr. theol. habil. Salvatore Loiero ist Professor des deutschsprachigen Lehrstuhls für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.