«Begleitung, Erinnerung und Prophezeiung»

Die Kommission «Sapientia Christiana» der Schweizer Bischofskonferenz SBK ist für die akademische theologische Ausbildung zuständig. Wie sieht sie den aktuellen Zustand der Theologischen Fakultäten? Die SKZ hat nachgefragt.

Bischof Valerio Lazzeri (Jg. 1963), Bischof von Lugano, ist Präsident der Kommission «Sapientia Christiana» der Schweizer Bischofskonferenz SBK. (Bild: Bistum Lugano)

 

SKZ: Wie beurteilen Sie allgemein die akademische theologische Ausbildung in der Schweiz?
Valerio Lazzeri: Die akademische theologische Ausbildung in der Schweiz hat ein gutes Niveau und ist vielfältig. Die Mehrsprachigkeit, die sie auszeichnet, ist nur ein Aspekt dieses Reichtums. Das Vorhandensein unterschiedlicher kultureller und kirchlicher Ansätze und Sensibilitäten stellt zwar immer wieder neue Herausforderungen bei der Suche nach Koordinierung und fruchtbaren Synergien auf nationaler Ebene dar, bietet aber auch viele Möglichkeiten für Vergleiche und Entwicklung. Wir können von einem wichtigen Laboratorium sprechen, auch wenn es an Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den tiefgreifenden Veränderungen in Kirche und Gesellschaft nicht mangelt.

Viele Studierende bringen keine religiöse Sozialisierung mehr mit. Ist Ihnen bekannt, wie die Theologischen Fakultäten auf dieses Problem reagieren?
Die Studentenschaft unserer akademischen Zentren besteht schon lange nicht mehr ausschliesslich aus Seminaristen, Ordensleuten oder Menschen, die sich auf einen bestimmten Dienst in der Kirche vorbereiten. Ich sehe darin kein Problem. Dies ist eine Tatsache, die meines Erachtens von den Theologischen Fakultäten weitgehend zur Kenntnis genommen wird. Vielleicht ist der Punkt, in dem wir konstruktiver werden sollten, eine grössere Überzeugung der akademischen Zentren bei der Förderung lebendiger Beziehungen zur lokalen Kirche und, allgemeiner, mit der konkreten Umgebung, insbesondere auf sozialer und kultureller Ebene.

Zwischen Theorie und Praxis besteht bekanntlich ein grosser Unterschied. Wäre es nicht sinnvoll, mehr Praxis in das Theologiestudium einzubauen? Oder gar zwei verschiedene Studiengänge für Theologie anzubieten: Ein Studium mit dem Ziel einer wissenschaftlichen Tätigkeit und ein Studium für den kirchlichen Dienst?
Die Spannung zwischen Reflexion und Leben, zwischen kritischem Denken, pastoraler Arbeit und geistlicher Nahrung sollte nicht als Problem angesehen werden. Diese Spannung liegt in der Natur der Theologie selbst. Die Theologie ist in der Tat eine Suche nach der Vernünftigkeit des Glaubens. Die Theologie ist immer wieder aufgerufen, sich in einem gegebenen historischen und kulturellen Kontext so auszudrücken, dass sie für die Männer und Frauen, die in ihm leben und sich bewegen, von Bedeutung ist. Der übliche Gegensatz zwischen Theorie und Praxis bringt die spezifische Dynamik der theologischen Arbeit nicht angemessen zum Ausdruck. Aus diesem Grund erscheint auch die Aufteilung der theologischen Ausbildung in einen eher akademischen und einen für die Ausbildung von Seelsorgenden bestimmten Studiengang nicht wünschenswert.

Die Ausbildungslandschaft ändert sich: Religionspädagoginnen RPI übernehmen immer mehr Aufgabenbereiche, die bisher Pastoralassistenten vorbehalten waren. Das «Institut im Reusshaus» bietet eine Ausbildung an, die neue Aufgabenfelder eröffnet. Im Bistum Chur erlaubt ein «Bischöfliches Sonderprogramm» ein Theologiestudium in zwei Jahren. Hat die klassische akademische Ausbildung bald ausgedient? Und wie reagiert man auf diese Veränderungen?
Man reagiert in unterschiedlicher Weise, je nach der besonderen Situation in den Diözesen und Kantonen. Es stimmt, dass das klassische Modell der Theologischen Fakultäten in vielerlei Hinsicht nicht allen Bildungsbedürfnissen gerecht wird, die im kirchlichen und gesellschaftlichen Bereich entstehen. In einigen Fällen war es möglich, das Angebot der akademischen Zentren so zu ändern, dass neue, kürzere oder besser geeignete Kurse zur Vorbereitung bestimmter pastoraler oder beruflicher Profile integriert wurden. In anderen Fällen wurde beschlossen, etwas anderes zu unternehmen. Es handelt sich sicherlich um eine offene Baustelle, die Aufmerksamkeit und Engagement erfordert, um keine Gegensätze oder Ungleichgewichte zu schaffen, die für niemanden von Nutzen wären.

Die Dozierenden an den Theologischen Fakultäten stammen überwiegend aus dem Ausland. Warum fehlt der Schweizer Nachwuchs?
Ich bin nicht in der Lage, eine erschöpfende Erklärung für dieses Phänomen zu geben. Es besteht kein Zweifel daran, dass es in der in mehrere Sprachregionen gegliederten Schweiz nicht einfach ist, neue Lehrkräfte darauf vorzubereiten, im ganzen Land zu unterrichten. Andererseits erfolgt die Einstellung neuer Professorinnen und Professoren durch Auswahlverfahren, die unsere Lehrstühle für ausländische Kandidatinnen und Kandidaten aus Ländern öffnen, die zweifellos grösser und gleichzeitig reich an theologischer Tradition sind wie Deutschland, Österreich, Frankreich oder Italien.

Gemäss Art. 39. § 1 der Apostolischen Konstitution «Sapientia Christiana» sollen die Fakultäten die nötige Freiheit für die Forschung besitzen. Diese Freiheit soll aber von einer Haltung der Ergebenheit gegenüber dem Lehramt der Kirche begleitet sein. Es äussern sich immer wieder Professorinnen resp. Professoren gegen die Lehre der Kirche. Wie gehen Sie damit um?
Die Apostolische Konstitution «Veritatis Gaudium», die nun an die Stelle von «Sapientia Christiana» getreten ist, beginnt mit einem ausführlichen Proömium, das meines Erachtens diese Frage aufgreift und der Arbeit der Fakultäten in Bezug auf die Lehre der Kirche neuen Raum gibt. Zwar wird gerade im deutschsprachigen Raum die unverzichtbare kritische Funktion des theologischen Denkens und der akademischen Forschung sehr stark betont. Ich glaube jedoch nicht, dass die völlige Entkopplung der Theologie von einer loyalen Auseinandersetzung mit dem Lehramt an sich zu einer höheren wissenschaftlichen Qualität beiträgt. Andere akademische Disziplinen wie beispielsweise die Medizin, die Architektur oder die Rechtswissenschaften müssen sich an Regeln und Richtlinien halten, die ausserhalb des rein akademischen Bereichs aufgestellt wurden, ohne dadurch ihr Recht auf Zugehörigkeit zur Universität zu verlieren.

Das Evangelium kommt je länger je weniger bei den Menschen an, und das in einer Zeit, in der die befreiende Kraft der Worte Jesu im Leben der Menschen umso nötiger wäre. Welche zusätzlichen Anstrengungen seitens der Theologie wären notwendig, um das Evangelium wieder vermehrt zu den Menschen zu bringen?
Die Theologie ist nicht die einzige Möglichkeit in der Kirche, das Evangelium für die Männer und Frauen unserer Zeit hörbar zu machen. Ihre Aufgabe ist es, eine Sprache des Glaubens zu entwickeln, die in der Lage ist, in einen echten, dialogischen und fruchtbaren Kontakt mit dem kulturellen Raum eines bestimmten Ortes und einer bestimmten Zeit zu treten. Die Theologie kann nur gewinnen, wenn sie die Würde aller anderen Formen der Glaubensvermittlung anerkennt und sich offen hält für die Anregungen und Provokationen, die aus allen Bereichen der menschlichen Erfahrung kommen können. Kurzum, eine Theologie als Begleitung, Erinnerung und Prophezeiung, wie jemand sagte. Lehre, Forschung und Studium, gewiss, aber im Herzen der Sendung der Kirche, eingetaucht in das Leben und die Geschichte, im Dienst der Verkündigung einer nie da gewesenen Hoffnung, die Christus in unseren Herzen entzündet.

Interview: Rosmarie Schärer

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