Ausserhalb von Beziehung kein Heil

5. Fastensonntag: Phil 3,8–14 (Jes 43,16–21; Joh 8,1–11)

«Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?» Der Vers aus der Jesaja-Lesung (43,19) lässt sich als Hoffnungstext für die Papstwahl lesen. Er lässt sich noch viel grundsätzlicher lesen: als Ausdruck des Vertrauens darauf, dass das, was ist, noch längst nicht alles ist und dass in Beziehung dem Heil keine Grenzen gesetzt sind. Als Einübung in die Erkenntnis des Messias.

Paulus im frühjüdischen Kontext

«Den Messias will ich erkennen», schreibt Paulus in Phil 3,10. Von der Erkenntnis des Messias Jesus ist auch schon in 3,8 die Rede. Um Gnosis geht es hier. Aber nicht um eine Auseinandersetzung mit der hellenististischen Weltanschauung der Gnosis, die das Sinnliche und Körperliche abwertet und allein die Erkenntnis der jenseitigen abstrakten Ideen für wesentlich hält. Der Kontext des Briefes an die Gemeinde in Philippi zeigt eindeutig, dass Paulus in einem innerjüdischen Konflikt steht. Die Erkenntnis, um die es in Phil 3 geht, heisst hebräisch daath, abgeleitet von der Wurzel jada. Im jüdischen Kontext geht es dabei in erster Linie um die Erkenntnis der Tora. Diese Erkenntnis wird erworben durch die lebenslange Beschäftigung mit der Tora und ihrer Auslegung, durch das Hören und Lernen und Tun. Die Erkenntnis der Tora ist ein zutiefst diesseitiges und soziales Tun. Toralernen ist Tun in Beziehung und Gemeinschaft, Praxis des Volkes Gottes, wie es ganz verdichtet im Ruf des Volkes am Berg Sinai zum Ausdruck kommt: «Alles, was JHWH gesagt hat, wollen wir tun» (Ex 19,8). Im Zentrum der Erkenntnis steht die Gestaltung des Zusammenlebens im Volk Gottes als einer solidarischen Gemeinschaft. Erkenntnis ist wie alle zentralen biblischen Begriffe ein Beziehungswort. A uf dieser Grundlage steht Paulus. Dieses Verständnis von Erkenntnis nimmt er auf und führt er weiter, auch indem er neue Akzente setzt. Denn die Erkenntnis des Messias Jesus «übertrifft alles» (3,8). Was früher ein Gewinn für ihn war, das hat er «um des Messias willen als Verlust erkannt» (3,7). Was ist dieses «alles», das vom Gewinn zum Verlust geworden ist? Paulus zählt es auf: «Am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach der Tora, verfolgte voll Eifer die Ekklesia und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie die Tora vorschreibt» (3,5–6). Was er hier aufzählt, ist nicht an sich schlecht, im Gegenteil. Es umschreibt das Hören und Lernen und Tun der Tora. Aber es wird für Paulus zum Verlust, wenn es zum Kriterium wird, das andere ausschliesst bzw. ihnen den Zugang zum Volk Gottes erschwert. Offenbar sieht Paulus in den Positionen seiner innerjüdischen Gegner diese Gefahr. In der mit viel Emotion geführten Debatte verdichtet sich der Streit offenbar in der Forderung nach Beschneidung für die männlichen Mitglieder der Gemeinde in Philippi. Paulus legt sich im Kampf gegen diese Position keine Grenzen auf. «Es wird mir nicht lästig» – genauer: «Es ist mir nicht peinlich, euch immer das gleiche zu schreiben (…). Gebt acht auf diese Hunde, gebt acht auf die falschen Lehrer, gebt acht auf die Zerschneidung» (3,1–2). Die Rede von Hunden ist im innerjüdischen Kontext eine massive Beschimpfung und Grenzüberschreitung. Wenn schon nicht Paulus, mir ist sie peinlich. Ich will sie nicht rechtfertigen, aber ich kann sie verstehen, weil ich weiss, wie wichtig die Gemeinde in Philippi dem Paulus war. In ihr ist seine messianische Vision vom Volk Gottes aus Juden und Heiden Wirklichkeit geworden. Wer hier die Beschneidung fordert, der übt für Paulus «Zerschneidung». Das ist seine eigene Wortschöpfung. Dass er selbst mit seinen Beleidigungen zerschneidend auftritt, entgeht ihm offenbar, genau wie es den wohl überwiegend männlichen Kontrahenten insgesamt entgeht, dass sie mit der Konzentration auf die Beschneidung die Hälfte der Betroffenen in der Gemeinde ausgrenzen. In diesem Streit ist offenbar noch viel mehr solidarische Beziehung zu lernen. Das realisiert Paulus durchaus: «Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich vom Messias Jesus ergriffen worden bin» (3,12). Das Ziel steht noch aus, wenn es auch in der Gemeinde in Philippi schon vor Augen liegt: «die himmlische Berufung, die Gott uns im Messias Jesus schenkt» (3,14), die solidarische Gemeinschaft von Menschen, für die die Verschiedenheit als Juden und Heiden, als Beschnittene und Unbeschnittene, als Toraerfahrene und Toraneulinge, als Frauen und Männer (…) kein Ausschlusskriterium ist, sondern je eigene Zugangsweise zum Gemeinsamem, «der Berufung, die uns Gott im Messias Jesus schenkt» (3,14). Die Gegner des Paulus vertreten eine andere Position als er, wenn es um das Verhältnis des Volkes Gottes zu den Menschen aus den Völkern geht. Sie erkennen in stärkerer Abgrenzung mehr Chancen für das Bewahren und Leben der Tora im Volk. Sie vertreten damit auch eine andere Position, wenn es um das Verständnis des Messias geht. Die messianische Zeit, in der die Völker zum Zion wallfahren, steht noch aus. Das christliche Credo, in dem von der Gegenwart des Messias die Rede ist und vom Warten auf die Wiederkunft, lässt Raum, beides miteinander in Beziehung zu bringen, statt Verbindungen zu zerschneiden.

Heute mit Paulus im Gespräch

Ich übersetze das, was Paulus vom Gewinn zum Verlust geworden ist, weil es Beziehung erschwerte oder gar verhinderte, in meine Situation: katholisch getauft und aufgewachsen, in der Gemeinde engagiert, Theologie studiert, mich mit der Bibel exegetisch und existentiell auseinandergesetzt, hauptamtlich in der Kirche tätig. Welche Beziehungen kann das erschweren und verhindern? Es kann dazu beitragen, dass Menschen ihren Glauben an Hauptamtliche delegieren. Es kann dazu beitragen, dass Menschen nicht erzählen, was ein Bibeltext bei ihnen auslöst, sondern warten, bis der Experte sagt, wie man ihn zu verstehen hat. Es kann dazu beitragen, dass Menschen ihre gebrochenen und widersprüchlichen Lebens- und Glaubenswege für defizitär halten, gegenüber scheinbar bruchlosen kirchlichen Biografien. Es kann dazu beitragen, dass Menschen ausgeschlossen werden oder sich ausgeschlossen fühlen von ihrer himmlischen Berufung. Es gibt viele «Zerschneidungen»: «das ist nicht mehr katholisch», sie hat das «falsche Geschlecht», er die «falsche» sexuelle Orientierung … Letztlich hält ein solches Denken mich davon ab, immer wieder neu in die unverfügbare Beziehung zu Gott und den Menschen zu gehen, immer wieder neu Vertrauen zu wagen und alle scheinbaren Sicherheiten hinter mir zu lassen. Handelt davon nicht die Erzählung aus dem Johannesevangelium? «Den Messias will ich erkennen.» Will ich das? Messianisch leben? Im Vertrauen darauf, dass das, was ist, noch längst nicht alles ist. Dass in Beziehung dem Heil keine Grenzen gesetzt sind.

 

Peter Zürn

Peter Zürn

Peter Zürn ist Präsident des Vereins Bibliodrama und Seelsorge.