Aus Hoffnung Orientierung bieten

Der 80. Geburtstag von Hans Halter bietet Anlass, einen Blick auf die Entwicklung der Sozialethik seit 1891 bis heute zu werfen.

 

Als 1891 die erste Sozialenzyklika Rerum novarum von Papst Leo XIII. erschien, war die «soziale Frage» schon länger ein Thema. Für heutige Verhältnisse kam die offizielle kirchliche Reaktion spät. Doch die damaligen Kernaussagen bleiben bis heute aktuell.

«Die Wirtschaft ist für den Menschen da – nicht umgekehrt.» So lässt sich das von Rerum novarum postulierte Personalitätsprinzip zusammenfassen. Es wurde im Laufe der Zeit durch die Prinzipien des Gemeinwohls, der Subsidiarität, der Solidarität und Nachhaltigkeit ergänzt. Dabei zeigt die Entwicklungsgeschichte der Katholischen Soziallehre mehrere interessante Aspekte.

Leben im Jetzt

Durch das Aufgreifen aktueller Fragen verbreiterte sich der Fokus ständig. Von der Arbeiterfrage weitete er sich bis zum Konzil zu allen «Freuden, Hoffnungen, Trauer und Ängsten» der Menschen (Gaudium et Spes 1) aus. Mit «Populorum progressio» bringt Papst Paul VI. 1967 zum Ausdruck, was uns heute bei «Laudato si’» von Papst Franziskus, nach wie vor topmodern erscheint. Paul VI. sieht, wie sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert. Aus Sorge um den Menschen fordert er eine Entwicklung, die wirtschaftliche, persönliche wie auch spirituell-religiöse Bereiche einbeziehen muss. Dies klingt wie die Grundmelodie von Laudato si’, wenn Papst Franziskus in Bezug auf Franz von Assisi sagt, dass «die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesellschaft und der innere Friede untrennbar miteinander verbunden sind» (Laudato si’ 10). So ist es nur folgerichtig, dass die Herausforderungen von heute mehr sind als ein technisches Problem –wir alle sind auch persönlich in unserer Spiritualität, Lebenseinstellung und Glauben betroffen. Dabei erstaunt, ganz im Gegenteil etwa zu Fragen der Sexualmoral, wie in den Enzykliken Lösungen aufgezeigt werden, diese aber «vergessen» wurden, wenn sie sich als wenig realistisch oder undurchführbar erwiesen. Ganz allgemein legen die Päpste Wert darauf, dass die Texte der Soziallehre nicht fachliche Lösungen für Probleme liefern, sondern ethische Orientierungshilfen!

Lokal verbunden

Die Kirche machte zudem schon bald nach dem II. Vatikanischen Konzil die wertvolle Erfahrung, dass sich die Grundaussagen der Soziallehre lokal weiterentwickeln und «anwenden» lassen. Die Texte der südamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellín (1968) und Puebla (1979), der US-amerikanischen Bischöfe zur Wirtschaft (1986) und die Sozialworte – ökumenisch! – der Kirchen in Deutschland (1997), der Schweiz (Wort der Kirchen 2001) und Österreich (2003) zeigen, wie sich die Kirche aktuellen Fragen stellt und gleichzeitig ihrer Tradition treu bleibt.

Die Fragen von heute

Wenn wir heute hinhören, welche Freuden, Hoffnungen und Sorgen die Menschen bewegen, dann gibt es einen riesigen Strauss an Fragen. Da finden sich die Themen der Arbeitswelt und Wirtschaft. Sie betreffen die Regelung von Arbeitszeiten, das Ausgeliefert-sein an Prozesse und Überwachungsmechanismen, die internationale Verflechtung bis zu den Fragen der Denkansätze hinter dem Wirtschaften. Eng verbunden sind diese Fragen heute mit jenen der Umwelt, dem Umgang mit Ressourcen, der Entsorgung von (auch radioaktiven) Abfällen und der Bevölkerungsentwicklung sowie den Fragen von Arm und Reich. Weiter fordern die Entwicklungen der Bioethik heraus. Gerade in Verbindung mit den Möglichkeiten der Digitalisierung und Technik stellen sich in der Gentechnologie oder ganz allgemein in der Medizin von Fortpflanzung bis Heilung neue Fragen. Auch die Digitalisierung selber ruft mit all ihren Wirkungen (Rechenleistung, Künstliche Intelligenz, Algorithmen usw.), aber vor allem auch mit ihren Versprechungen, nach der Klärung ethischer Fragen. Diese zeigen sich dann auch für die Kirche in ganz handfester Form, etwa wenn es darum geht, ob in einem Kirchturm eine 5G-Antenne installiert werden soll.

Hier präsentieren sich Fragen immer in einer doppelten Weise: Zum einen zeigt sich das Problem als individualethische Frage, die das Handeln einzelner Menschen (oder auch z. B. Kirchgemeinden) innerhalb gegebener Organisationen betreffen. Die individuelle Freiheit tendiert hier dazu, im Einzelfall sehr vieles nachvollziehbar zu sehen und damit auch ethisch zu legitimieren. Dabei wird häufig zu schnell vom Einzelfall auf das Allgemeine geschlossen. Konkrete Fragen haben aber andererseits auch eine sozialethische Dimension. Dann geht es um das Nachdenken über Gerechtigkeit und die Gestaltung der Strukturen (Kommunikation, Wirtschaftlichkeit, Umwelt). Was im Einzelfall legitimiert sein mag, muss strukturell, z. B. als grundsätzliche Regel oder im Gesetz, nicht zwingend richtig sein – und umgekehrt.

Orientierung gefragt

Angesichts der enormen Vielfalt von Fragestellungen tut die Sozialethik wie auch die Soziallehre – wenn die Kirche offiziell spricht – gut daran, weniger Lösungen zu bieten, als vielmehr Fragen zu klären. Wichtig ist, welche Wegweiser beachtet oder welche Leitplanken aufgestellt werden müssen. Dies setzt voraus, die Fragen, Sorgen wie Freuden der Menschen zu hören, zu analysieren und sich so zu äussern, dass sozialethische Gedanken aus christlicher Perspektive auch gehört werden.

Dabei darf sich die Kirche in Erinnerung rufen, dass sie nicht nur aus Hierarchie besteht, sondern gerade auch durch ihre Mitglieder wirkt. Orientierungsarbeit leisten auch einzelne Frauen und Männer, Verbände und Institutionen der Kirche. Einer, der dies zeitlebens mutig und theologisch vorbildlich gemacht hat, ist Hans Halter, der Anfang November seinen 80. Geburtstag feiert. Er hat in seiner beruflichen Tätigkeit als Priester und Professor für Ethik unzählige Fragen aufgegriffen und dabei sowohl praktisch-anwendungsorientiert wie auch auf die Grundlagen christlich-ethischen Arbeitens verweisend gearbeitet. Gerade durch seine kritische Loyalität und sein grosses und profundes Wissen biblischer, theologischer wie auch praktischer Themen war er zwar von den Machtzentren der Kirche wenig geliebt, dafür hat er «möglichst erdnah, klar und lebbar»1 der sozialethischen Stimme eben dieser Kirche zu grosser Glaubwürdigkeit verholfen.

Ausblick

Angesichts der vielen Herausforderungen in unserer Welt darf sich die Kirche mit Freude und Vertrauen auf die Fragen der Menschen einlassen. Hinhören – Nachdenken – Klären. Dafür schafft die Soziallehre Raum. Die Menschen von heute brauchen nicht so sehr Antworten sondern Orientierungshilfen. Wertfragen müssen nicht allein beantwortet werden – gemeinsam lassen sich inspiriert durch die Grundsätze der christlichen Sozialethik und getragen vom Geist der Hoffnung Perspektiven für die Zukunft erarbeiten.

Thomas Wallimann-Sasaki

 

1 Vgl. Halter, Hans, ... Möglichst erdnah, klar und lebbar, in: Hilpert, Konrad (Hg.), Theologische Ethik autobiographisch, Paderborn 2009, Bd 2, 99–127. Wunderbar zu lesen, wie Hans Halter seinen Werdegang und die Schwerpunkte wie auch seine seelsorgerischen und theologischen Anliegen beschreibt.

Wertvoll ist in diesem Zusammenhang auch der Artikel von Markus Zimmermann über Hans Halter: Hans Halter – Ermächtigung zu einer christonomen Existenz, in: Berlis, Angela / Leimgruber, Stephan / Sallmann, Martin (Hg.), Aufbruch und Widerspruch. Schweizer Theologinnen und Theologen im 20. und 21. Jahrhundert, Zürich 2019, 326–340.


Thomas Wallimann-Sasaki

Dr. Thomas Wallimann-Sasaki (Jg. 1965) studierte Theologie in Chur, Paris, Berkeley (USA) und Luzern, wo er bei Hans Halter promovierte. Seit 1999 leitet er ethik22: Institut für Sozialethik (vormals Sozialinstitut der KAB). Er ist Präsident ad interim von Justitia et Pax.