Friedrich Schiller (1759–1805) erlebte einen fulminanten Erfolgsstart ins Autorenleben: Die Uraufführung seiner «Räuber» (1781) führte fast zu einem Volksaufstand, sodass ihm der Herzog zu Stuttgart verbot, weitere Werke zu schreiben. Genützt hat das Verbot Gott sei Dank nichts, Schiller flüchtete nach Mannheim und schrieb dort weiter. Historische Stoffe, gewürzt mit einer rechten Prise Kritik an der Politik und vor allem der Moral der gesellschaftlich Mächtigen, dies war über grosse Strecken – bis hin zum für uns Schweizerinnen und Schweizer geradezu staatsformenden «Wilhelm Tell» von 1804 – sein Beitrag zur deutschen Weltliteratur. Vielleicht gerade deshalb kommt er uns Heutigen einiges lebendiger und auch aktueller vor als der alte Geheimrat zu Weimar.
Menschenwürde gegen Dogmen
In einer ersten glücklichen Epoche seines Lebens ohne materielle Nöte schuf Schiller in Leipzig nebst dem uns wohlbekannten Lied «An die Freude» sein erstes in Versen (den fünffüssigen Jamben des Blankverses) gehaltenes Werk, das er «dramatisches Gedicht» nannte, den «Don Carlos» (1787). Unsere Vorstellungen dieses Stückes sind bis heute wesentlich dadurch umnebelt und auch verzerrt, dass Giuseppe Verdis gleichnamige Erfolgsoper von 1867, basierend auf einem Textbuch der Franzosen Joseph Méry und Camille du Locle, de facto Schillers Handlung folgt, das Werk aber emotionalisierend verfremdet.
Nebst der (für einen italienischen Komponisten attraktiven) unglücklichen Liebesgeschichte zwischen Carlos und seiner Stiefmutter Elisabeth steht bei Schiller höher gewichtet der Konflikt zwischen den Idealen von Freiheit und Menschenwürde, wie sie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und bald in der Französischen Revolution formuliert wurden, und den starren Dogmen der spanischen Monarchie und ihrer katholischen Inquisition. Sind der einsam-verbitterte König Philipp II. und der (bei Verdi erblindete) Grossinquisitor Vertreter der Vergangenheit, so versucht der stürmisch-idealistische Marquis von Posa als Alter Ego Schillers den König und seinen verlorenen Sohn Carlos zu einer neuen Sicht zu bewegen. Doch Religion und Macht setzen sich durch: Posa wird exekutiert und Carlos der Inquisition übergeben.
Ein eigenartiger Bruch
So stehen im eigentlichen Zentrum des Werkes die Dialoge zwischen Posa und den Monarchen; insbesondere die zehnte Szene des dritten Aufzugs hat sich dem geistigen Gedächtnis der Menschheit als Einzelstück eingeprägt. Philipp II. stellt überrascht fest, dass sein Gesprächspartner kein Schmeichler und Nachbeter wie seine übrigen Höflinge, sondern ein eigenständig denkender und fordernder Mensch ist. Auf sein Argument, dass er der Welt den Frieden bringe, erwidert ihm Posa, dass er nichts als die Ruhe der Friedhöfe schaffe, dass er für die Ewigkeit pflanzen wolle, aber nichts als Tod säe. Es gelingt ihm, zum Herzen des Königs vorzudringen, und so wagt er es, ihn aufzufordern, die Welt «neu zu erschaffen», indem er in seinem Reich Gedankenfreiheit zulasse. Philipp stellt erschüttert fest, dass er hier dem neuen Menschen begegnet und gesteht dem Marquis zu fortzufahren, «unter meinen Augen Mensch zu sein». Ein eigenartiger Bruch im Denken über absolute Herrschaft, der nicht lange anhält, wie die kirchliche Macht den König zur Raison ruft:
«Danken Sie der Kirche, die sich begnügt, als Mutter Sie zu strafen. Die Wahl, die man Sie blindlings treffen lassen, war Ihre Züchtigung. Sie sind belehrt. Jetzt kehren Sie zu uns zurück – Stünd ich nicht jetzt vor Ihnen – beim lebendgen Gott! Sie wären morgen so vor mir gestanden.»
(Gespräch König-Grossinquisitor im 10. Bild des 5. Aufzugs).1
Und so siegt ein letztes Mal die alte Ordnung. Doch: Tempus fugit.
Heinz Angehrn