SKZ: Zunächst die Gretchenfrage: Wer ist Richard Wagner für Sie?
Andreas Homoki: Richard Wagner ist für mich ein ziemlich genialer Typ, ein Multitalent, das geradezu Übermenschliches geleistet hat. So hat er etwa hier in Zürich grosse Teile des «Rings» niedergeschrieben und sie auch auskomponiert. Er tat dies, ohne jede Möglichkeit, die vielen darin enthaltenen innovativen musiktheatralischen Ideen auch in der Praxis ausprobieren zu können. Dennoch ist alles absolut perfekt.
Der «Ring des Nibelungen» erzählt in 16 Stunden und in vier Teilen die ganze Weltgeschichte von der Schöpfung bis zur Apokalypse. Wie beginnt die Geschichte?
Am Anfang der Zeit. Auf der Bühne ist das ein Raum, der für einen vorbewussten Zustand steht, einer Art Innenwelt, einen ewigen Raum in uns selber, einen Raum zwischen Leben und Tod. In diese Welt dringt die Realität von draussen ein, das Paradies wird notwendigerweise gestört, da wir Menschen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse genossen haben. Wotan, der oberste Gott, steht für den kognitiven Menschen, er hat sich die Welt unterworfen und beherrscht sie durch Gesetze, an die er sich halten muss, wie alle anderen. Alberich, sein Gegenspieler, wurde durch verschmähte Liebe zum Machtmenschen. Wir erleben im ganzen Werk nun das uns heutigen Menschen wohl vertraute Problem der Unterwerfung der Natur und damit allen Seins, eine Entwicklung, für die das weiche Metall Gold zur Metapher wird.
Das Symbol des Rings hat später J. R. R. Tolkien zum Zentrum eines ähnlich monumentalen Werks gemacht. Sehen Sie Analogien?
Tolkien war sicher von Wagner inspiriert, was sich an der Analogie von Gollum und Fafner zeigt. Für mich aber ist «Lord of the Rings» eine eskapistische Geschichte ohne allegorische Ansprüche. Gemein ist allerdings beiden Geschichten, dass der «Ring» seine menschlichen Träger letztlich zerstört. Das versuche ich besonders an der Person Alberichs darzustellen. Aber auch Wotan zerbricht.
Können wir im «Ring» von Opfern und Tätern reden oder greift eine solche Sicht zu kurz?
Für mich ist ein solcher Ansatz nicht produktiv. Alle sind Getriebene, wie wir heute in der Weltgeschichte Getriebene sind. Es gibt wohl Opfer wie Freia, die Göttin, die verkauft werden soll, oder eben Siegfried. Und Hagen, das Kind der Nacht ohne Liebe, ist Täter und Opfer wie zuvor Hunding.
Im dritten Teil tritt der freie Mensch, der Held, der «Erlöser» auf. Wer ist Siegfried für Sie?
Ich möchte zunächst betonen, dass der dritte Teil der Tetralogie eine Komödie und als solche zu lesen ist. Siegfried tritt auf als das unbeschriebene Blatt, als die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, ein Typus, den auch unsere Zeit wieder sucht und erhofft. Und er begegnet kaputten Gestalten, die schon geprägt und desillusioniert sind. Etwa seinem Erzieher Mime, deformiert durch sein Sklavenleben. Oder in der zentralen Szene seinem Grossvater Wotan: Hier befreit sich der freie Mensch endgültig von seinem Gott. Und dieser Gott erkennt erschreckt: Ich wollte
den freien Menschen, und nun geht er seines Wegs.
Wo ist die Geschichte im Gegensatzpaar von Polytheismus und Monotheismus einzuordnen?
Der Mensch lebte immer in Welten, die er für sich nur bedingt und unzureichend erklären konnte. So entstand wohl auch der Polytheismus, wie wir ihn im «Ring» vorfinden. Im Verlauf der geistigen Entwicklung des Menschen war eine solches System zur Erklärung der Welt immer weniger ausreichend, so dass dann der Monotheismus zum erklärenden Ansatz wurde. Im Monotheismus ist die Gottheit nicht mehr für jedes einzelne unerklärbare Phänomen verantwortlich. Das öffnete die Tür zu umfassenderer wissenschaftlicher Erkenntnis.
Und was steht am Ende, was ist diese «Dämmerung» der Götter?
Sie erwarten sicher nicht, dass ich Ihnen schon jetzt den Ausgang der Erzählung, meiner Deutung, preisgeben werde? Sicher ist, dass wir den Untergang einer Epoche der Menschheitsgeschichte, nämlich der Walhalls und der Götter erleben werden. Die Natur bleibt ganz sicher erhalten, die Welt geht nicht unter. Bei unserer Zivilisation mache ich mir schon eher Sorgen.
Interview: Heinz Angehrn