Auf Augenhöhe im Gespräch

Die politisierte Islamdebatte spricht mehr über den Islam als mit den Musliminnen und Muslimen. Die SKZ fragte Amira Hafner-Al-Jabaji und Doris Strahm, die Gründerinnen des «Interreligiösen Think-Tank», nach Orten der Begegnung und Zusammenarbeit.

Amira Hafner-Al-Jabaji (Jg. 1971, links) studierte Islamwissenschaften, Neue Vorderorientalische Philologie und Medienwissenschaften an der Universität Bern. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Integration, christlich-muslimischer Dialog und Interkulturalität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Kolumnistin. Seit 2015 ist sie Moderatorin von «Sternstunde Religion» im Schweizer Fernsehen (Bild: Laurent Burst). Dr. theol. Doris Strahm (Jg. 1953) studierte Evangelische Theologie, Psychologie und Pädagogik in Zürich und Katholische Theologie in Luzern und Freiburg i. Ü. Sie war Mitgründerin und Mitherausgeberin der feministisch-theologischen Zeitschrift FAMA. Sie ist freiberuflich tätig als Referentin, Lehrbeauftragte und Publizistin.

 


Die Anfänge des institutionellen christlich-islamischen Dialogs in der Schweiz liegen in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Einzelne Repräsentanten muslimischer Vereine traten in Kontakt mit Vertretern von Kirchen und Behörden. Die Musliminnen und Muslime suchten Ansprechpersonen für ihre religionspraktischen Anliegen. Die Kirchenvertreter waren interessiert am Gemeinsamen und Trennenden zwischen Christentum und Islam. Mit der zunehmenden Politisierung des Islams und den drängenden Integrationsfragen traten Christen und Muslime ab den 90er-Jahren gemeinsam auf und organisierten sich national. Es entstanden interreligiöse Vereine und Institutionen und der Dialog fokussierte sich mehr und mehr auf politische und gesellschaftliche Themen.

 

SKZ: Wo steht der christlich-islamische Dialog heute?
Amira Hafner-Al-Jabaji (AH): Auf akademischer Ebene hinken wir anderen Ländern wie Deutschland und Grossbritannien weit hinterher. Dort gibt es an zahlreichen Universitäten Lehrstühle für islamische Theologie. Die sind einerseits wichtig, um überhaupt einen theologischen Dialog auf Augenhöhe zu ermöglichen, und andererseits für die jungen Generationen von Musliminnen und Muslimen, für die es nicht mehr ausreicht, sich mit ihrer Religion nur praxisbezogen und oberflächlich zu beschäftigen. Sie wollen sich mit ihrer Tradition, Geschichte und der Theologie auf intellektuell anspruchsvolle Weise, kritisch und selbstbestimmt auseinandersetzen. Die Gründung des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Universität Freiburg i. Ü. ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Die Universität Luzern unternimmt in diesem Jahr einen erneuten Versuch, islamische Theologie zu etablieren. Die Assistenzprofessur hat ab August Dr. Erdal Toprakyaran inne, der zurzeit Direktor am Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen ist. Und die Universität Zürich bietet seit 2015 jeweils im Herbstsemester eine Gastprofessur in islamischer Theologie an. Alles in allem ist das noch ein kleines akademisches Angebot. Ein Vollstudium in islamischer Theologie ist in der Schweiz nach wie vor nicht möglich. Anders als in Deutschland, wo in Politik und Gesellschaft stark von den Institutionen her gedacht und lanciert wird, gilt in der Schweiz das Grassroot-Prinzip. Die Aktivitäten an der Basis sind massgebend. Über die Jahrzehnte hat sich der christlich-islamische Dialog verändert, was viel mit der sich wandelnden Gesellschaft zu tun hat. Die Säkularisierung ist stark vorangeschritten und zwingt die Kirchen, ihre Rolle in der Gesellschaft immer wieder neu zu denken. Das entzieht ihnen auch Ressourcen für den interreligiösen Dialog. Auf muslimischer Seite stelle ich unter der jungen Generation einen gewissen Rückzug aus dem Dialoggeschehen fest. Dafür sehe ich verschiedene Gründe. Interreligiöser Dialog war das «Ding» ihrer Eltern und Grosseltern. Im Sinne einer Emanzipation wollen das die Jungen nicht fortführen, weil sie sich gesellschaftlich an einem anderen Punkt befinden und sich bevorzugt mit anderen Themen, Menschen und Institutionen beschäftigen. Die Erfahrungen der Ausgrenzung, Abwertung und der permanenten Selbstrechtfertigung und Selbsterklärung haben bei ihnen Spuren hinterlassen. Die Bereitschaft, sich in einen Dialog zu begeben, in dem ein Risiko herrscht, weiterhin solche Erfahrungen zu machen, wollen viele nicht eingehen. Bei manchen ist das Interesse an der eigenen Religion gewachsen. Man möchte einen Dialog aus einer Position der Selbstdefinition, Selbstbestimmung und Selbstermächtigung führen und nicht nur auf Fragen von aussen reagieren müssen. Bei anderen haben die verschiedenen desaströsen Entwicklungen in der arabischen Welt und in den islamischen Gesellschaften dazu geführt, sich nicht mit Religion zu beschäftigen. Die Verunsicherung, über den Islam als persönlichen Lebensweg in der (Halb-)Öffentlichkeit zu sprechen, ist gestiegen und wird nach Möglichkeit vermieden. Auch unter der jungen Generation Musliminnen und Muslimen ist ein säkularer Trend erkennbar. Für sie ist Religion zunehmend Privatsache. Es gibt aber Themen, die einen religiösen Bezug haben und die dennoch nicht als eigentliche religiöse Praxis im engeren Sinn gelten, für die die junge Generation empfänglich wäre und auch Potenzial für Dialog bietet.

 

Welche Themen müssten in Zukunft unbedingt angegangen werden?
Doris Strahm (DS): In der aktuellen Situation sollten die Religionsgemeinschaften gemeinsam darauf hinarbeiten, den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Solidarität und Zusammengehörigkeit zu stärken und ein neues Wir zu schaffen, zu dem alle Menschen, die in der Schweiz leben, gleicherweise dazugehören – unabhängig von ihrer religiösen oder kulturellen Herkunft. Ein wichtiges Thema für die Zukunft ist daher die rechtliche Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften in unserem Land. Gerade Kirchenvertreter und christliche Kreise sollten sich für eine rechtliche Gleichstellung und Anerkennung des Islams als Glaubensgemeinschaft einsetzen, wenn es ihnen ernst ist mit einem christlich-islamischen Dialog auf Augenhöhe. Sie könnten damit ein Zeichen setzen gegen jene politischen Kräfte, die den Islam und die muslimischen Mitbürgerinnen und -bürger diffamieren und versuchen, ihren Glauben als fremd und unvereinbar mit sog. christlichen Werten erscheinen zu lassen. Ansonsten bleibt es bei einem theologischen Dialog, der zwar für die Beteiligten gegenseitige Einsichten in den Glauben der anderen eröffnet, aber in einem inneren Zirkel verbleibt und kaum positive Auswirkungen auf die politischen Debatten hat. Ein anderes wichtiges Thema, das im interreligiösen bzw. christlich-muslimischen Dialog in Zukunft mehr Gewicht bekommen sollte, ist die Ökologie. Die Klimakrise und ihre Auswirkungen verbindet alle Menschen. Judentum, Christentum und der Islam könnten mit ihrem Schöpfungsverständnis, das die Verantwortung der Menschen als Bild und Stellvertreter Gottes (Christentum) oder als Statthalter Gottes (Islam) für Gottes Schöpfung betont, einen wichtigen Beitrag zu den gesellschaftlichen Debatten leisten. Der «Interreligiöse Think-Tank» verfasste dazu eine Studie.1 Sowohl in den christlichen wie in den muslimischen Gemeinschaften gibt es an der Basis bereits viele ökologische Projekte. Wichtig wäre aber auch ein grösseres öffentliches Engagement der offiziellen Gremien und Vertretenden der Religionsgemeinschaften, und dass sich diese in den Debatten deutlicher zu Wort melden. Beim Thema Ökologie könnte so ein christlich-muslimischer Dialog entstehen, der – genährt aus den jeweiligen religiösen Quellen – zu einem gemeinsamen gesellschaftlichen Handeln führt.
 

AH: Ich sehe eine Fülle von Fragen und Themen für den interreligiösen Dialog, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind: Etwa die zunehmende spirituelle Entwurzelung in unserer Gesellschaft, die neue Probleme und Herausforderungen sowohl für die Individuen wie auch für das gesellschaftliche und gemeinschaftliche Kollektiv schafft. Ein weiteres Thema ist die Weitergabe religiösen Wissens und religiöser Tradition insbesondere an Kinder. Es müsste allen klar sein, dass der veränderte gesellschaftliche Kontext bei dieser Frage nicht ignoriert werden kann und viel stärker als bisher einbezogen werden muss. Hier können Religionsgemeinschaften im Dialog voneinander lernen und sich gegenseitig befruchten, denn die Erfahrungen werden bei allen in etwa die ähnlichen sein. Zur Weitergabe gehört meines Erachtens auch die Weiterentwicklung und Vertiefung religiösen Denkens. Wie soll religiöse Tradition bewahrt werden, damit sie sinnstiftend bleibt und nicht als menschen- und modernitätsfeindlich betrachtet wird? Müssen Orte des religiösen Lernens unbedingt religiöse Orte sein? Oder sollte religiöses Lernen und Denken in spiritueller Tiefe viel stärker mit alltäglichen «säkularen» und wissenschaftlichen Themen verbunden werden? Das hiesse nicht nur verstärkt einen christlich-islamischen Dialog zu führen, sondern auch einen religiös-säkularen, religiös-wissenschaftlichen und sogar einen religiös-atheistischen Dialog zu führen. Als wichtig erachte ich auch, heisse Themen anzugehen. Die finden sich etwa in der Aufarbeitung historischer Ereignisse. Alle Religionen als Herrschaftsentitäten haben Dreck am Stecken und Idealisierungen führen nicht zu mehr, sondern zu weniger Wahrhaftigkeit. Alle haben in der Geschichte unterdrückt und selbst Unterdrückung erlebt. Es ist Zeit, solches anzuerkennen und sich dabei auch mit den wenig rühmlichen Seiten in der Geschichte und der Gegenwart der eigenen Gemeinschaft zu befassen. Dass etwa «muslimische Gesellschaften» Sklaverei wieder einführen oder sklavenähnliche Zustände tolerieren und fördern, ist ein grundlegender Verstoss gegen die Menschenrechte sowie auch gegen das islamische Menschenbild, das der Koran vermittelt. Es ist mir unverständlich, dass aus muslimischen Kreisen da so wenig hörbare Opposition kommt. Generell sollten Antisemitismus, Christenverfolgung und Islamfeindlichkeit stärker zusammen diskutiert werden. Alle tragen ähnliche Züge, auch wenn sie im historischen Kontext unterschiedlich erscheinen.
Vor gut zehn Jahren fand die eidgenössische Abstimmung zur Minarettinitiative statt.

 

Aktuell läuft in Bundesbern die Burkaverbotsinitiative. Wie kann sich der christlich-muslimische Dialog konstruktiv in die politische und gesellschaftliche Debatte einbringen?
AH: Eine schwierige Frage! Denn eigentlich möchte die Mehrheit ja eben gerade möglichst keine Einmischung der Religion in die Politik. Hier aber wird seitens der Initianten mit der Religion Politik betrieben. Und man tut gut daran, zu überlegen, ob es nicht geradezu kontraproduktiv ist, sich von (inter-)religiöser Seite allzu sehr einzubringen und damit der Politisierung der Religion und der Religionisierung der Politik Vorschub zu leisten. Wir haben vom «Interreligiösen Think-Tank» schon 2013 als Christinnen, Musliminnen und Jüdinnen und als Frauen eine erste Stellungnahme zur Verhüllungsinitiative formuliert und auf die problematischen Aspekte verwiesen. 2016 haben wir ein Argumentarium gegen die Initiative verfasst.2 Ich warne aber davor, das Thema noch weiter religiös aufzuladen. Es gibt weitaus grössere und relevantere Themen, zu denen Religion per se beitragen kann und muss, etwa zur ökologischen Frage, wie Doris Strahm sie vorhin ansprach, oder zur Generationensolidarität, Armutsbekämpfung und zu unserem globalen Finanzsystem. Ich denke nicht, dass Religionen bzw. ihre Vertretenden sich als politische Akteure oder Lobbyisten in die Debatten einbringen sollten. Vielmehr betrachte ich eine religiöse Haltung als einen geistigen Rahmen und eine Wertegrundlage, auf deren Basis konstruktive Beiträge zur Gestaltung der Gesellschaft geleistet werden können. Die politisierte Islamdiskussion ist eine Identitätsdebatte, bei der es weniger darum geht, mit den Musliminnen und Muslimen gemeinsam über den Islam zu diskutieren, als vielmehr anhand von symbolischen und sichtbaren Elementen oberflächlich eine Grenzziehung zwischen einem Wir und einem Ihr zu ziehen. Auch die aktuelle Rassismusdebatte und besonders die Diskussion um Schokoküsse funktioniert auf diese Weise. Die emotional hoch aufgeladene Debatte ist ein Kampf um Hegemonie der Deutungs- und Definitionsmacht in dieser Gesellschaft, über Begriffe und Perspektiven auf die Geschichte.

 

Was kann bis anhin gelingende Begegnungen torpedieren und die interreligiösen Gespräche und die Zusammenarbeit in ihrer Entwicklung zurückwerfen?
DS: Die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass wir eine Weltgemeinschaft sind, wie verletzlich und wie sehr wir als Menschen in unseren elementarsten Bedürfnissen und Ängsten gleich sind – zutiefst miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Ich wünschte mir sehr, dass unsere Gesellschaft etwas daraus lernen könnte, gerade im Blick auf identitätspolitische Debatten und Konstruktionen von Fremdheit, die einen gelingenden interreligiösen Dialog auf gesellschaftlicher Ebene behindern. So könnte die Pandemie uns lehren, wie relativ und veränderbar scheinbar unveränderbare kulturelle und sog. identitätsstiftende Gepflogenheiten sind. So galten bis vor Kurzem das Verweigern des Händeschüttelns und das Verhüllen des Gesichts als unvereinbar mit der schweizerischen Kultur. Seit März dieses Jahres ist genau dies Teil unseres Alltagsverhaltens geworden: Das schweizerische Kulturgut des Händeschüttelns sollen wir tunlichst vermeiden und die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum ist dringend geboten. Erschwert wurde der christlich-islamische Dialog immer schon von weltpolitischen Ereignissen, von gesellschaftlichen Debatten um die Zugehörigkeit des Islams zur Schweiz sowie von der strukturellen Asymmetrie von Mehrheits- und Minderheitenreligion. Der interreligiöse Dialog findet ja nicht im luftleeren Raum statt, sondern im Kontext gesellschaftlicher Debatten. Je mehr diese von einem Ausgrenzungsdiskurs des «Wir und die Anderen», von Vorurteilen, Nichtwissen und einseitigen Informationen über den Islam geprägt sind, desto schwieriger wird es, den gewonnenen Erkenntnissen und bereichernden Erfahrungen im christlich-muslimischen Dialog in der Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Ich befürchte, dass angesichts der wirtschaftlichen Krisen und gesellschaftlichen Verwerfungen im Gefolge der Pandemie Sündenbocktheorien und Ausgrenzungsprozesse verstärkt werden und der christlich-muslimische bzw. der interreligiöse Dialog dadurch erschwert wird. Dieser will ja nicht nur zum besseren Verständnis anderer Religionen beitragen, sondern hat ebenso das Ziel, die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung von Menschen anderer religiöser oder kultureller Zugehörigkeit zu fördern und ein gutes Zusammenleben in unserer pluralistischen Gesellschaft zu stärken.

Interview: Maria Hässig

 

 

 

1 Interreligiöser Think-Tank: Unsere Erde – Gottes Erde? Eine interreligiöse Betrachtung zu Schöpfung und Ökologie, Dezember 2018, www.interrelthinktank.ch

2 Interreligiöser Think-Tank, 8 Gründe für ein NEIN zum Burka-Verbot, September 2016, www.interrelthinktank.ch

 

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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