Ars moriendi

Furcht und Hoffnung im Konflikt – Bachs Kantate «O Ewigkeit, du 
Donnerwort» ist ein Beispiel für die therapeutische Qualität von 
Musik im Umgang mit dem Sterben.

Für viele Menschen macht die Musik einen Teil ihres Lebens aus. Viele hören dabei Musik ganz auf dem «emotionalen Ohr». Schon für Martin Luther war sie «Herrin und Regiererin des menschlichen Herzen»1. Er verglich das Herz mit einem Schiff, das von vier Affekt-Winden bewegt wird: Trauer und Freude, Furcht und Hoffnung2. Diese Unterscheidung findet sich auch bei J. S. Bach. In seiner Kantate «O Ewigkeit, du Donnerwort» (BWV 60) begegnen sich Furcht und Hoffnung angesichts des Todes.

«O Ewigkeit, du Donnerwort»

Das 1723 entstandene Werk ist formal konzentrisch angelegt. Als äusserer Rahmen dienen zwei choralbezogene Sätze aus verschiedenen Kirchenliedern: Johann Rists Lied «O Ewigkeit, du Donnerwort» (1645) und «Es ist genung» von Franz Joachim Burmeister 1662. Zwei Rezitative umschliessen als innerer Rahmen die zentrale Arie. Drei allegorische Personen kommen dabei vor: die Furcht (Alt), die Hoffnung (Tenor) und eine göttliche Stimme vom Himmel, die man als vox Christi3 oder Stimme des Heiligen Geistes (Bass) begreifen kann. Bereits in der Überschrift auf der Titelseite vermerkt der Komponist: «Dialogus zwischen Furcht und Hoffnung»:

Furcht: O Ewigkeit, du Donnerwort. Hoffnung: Herr ich warte auf dein Heyl.

Der konzertante Kopfsatz der Kantate lebt von der Dialektik der beiden allegorischen Personen und besteht aus mehreren musikalischen Schichten: Die Altstimme singt die erste Strophe des Chorals. Begleitet wird sie vom konzertierenden Ritornell der Streicher und der Liebesoboen, die in Takt 5 ein sehnsüchtig-flehendes Motiv spielen, das zunehmend bestimmend wird. Sechzehnteltremoli in den Streichern unterstützen die Erregung der Furcht. Kurz vor dem Text «O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit» stellt sich die Stimme der Hoffnung ein: «Herr, ich warte auf dein Heil». Diese Einwürfe werden beinahe zwanzig Mal wiederholt. Auf dem Verb «warte» finden sich lange Liegenoten. Die beiden Liebesoboen bringen das sehnsüchtige Warten auf das Heil mit seufzenden Zweierbindungen in Sechzehntelbewegung zum Ausdruck. Es wird deutlich: Hoffnung ist mit Geduld und Beharrlichkeit gepaart. Angesichts der Schrecken des Todes kann sich die Hoffnung der Christen nur mit beharrlichem Vertrauen auf die Zusage von Gottes Heil halten. Im zweiten Satz verweist die Hoffnung zunächst auf den Trost des Heilands Jesus Christus:

Mein Beistand ist schon da,/ mein Heiland ist mir ja mit Trost zur Seite.

Doch dann bricht die Todesangst mit voller Wucht herein. Sie wird als letzter Schmerz verstanden, was an kleinen Sechzehntelpausen (in Takt 6) zu sehen ist. Sie lassen uns den Atem förmlich stocken. Die Furcht gestaltet sich als eine den Menschen beschleichende Marter, die dann in einem klagenden Arioso (s. Anm. d. Red.) besungen wird. Nochmals kehrt dann das deklamierende Secco-Rezitativ des Anfangs wieder. Am Ende setzt die Furcht giftig zum entscheidenden Schlag an: «Doch, nun wird sich der Sünden grosse Schuld vor mein Gesichte stellen». Darauf hält die Hoffnung tapfer dagegen:

Gott wird deswegen doch kein Todesurteil fällen,/ er gibt ein Ende den Versuchungsplagen,/ dass man sie kann ertragen.

Und wieder schlägt das Secco am Ende in ein gesangliches Arioso um. Diesmal schmückt eine Sechzehntelbewegung das sinntragende Verb «ertragen», welche Zuversicht und Gelassenheit der Hoffnung, ja beinahe Leichtigkeit vermittelt. War das Arioso der Furcht (martern, Takt 8–11) kleingliedrig, mit langsam fortschreitenden Achteln gleichsam statisch und ohne Instrumentalbegleitung, so klingt der instrumental begleitete Gesang der Hoffnung grosszügig und weiträumig, sicher vorwärtsschreitend (T. 21–25). Der Gegensatz der beiden Ariosi ist denkbar gross.

In der zentralen Arie (Satz 3) spitzt sich der Konflikt drastisch zu. Nun fallen sich Furcht und Hoffnung gegenseitig ins Wort. Stets beginnt es mit einer These der Furcht, der dann von der Hoffnung leidenschaftlich widersprochen wird:

Furcht: Mein letztes Lager will mich schrecken.
Hoffnung: Mich wird des Heilands Hand bedecken.
Furcht: Des Glaubens Schwachheit sinket fast.
Hoffnung: Mein Jesus trägt mir meine Last.
Furcht: Das offne Grab sieht greulich aus.
Hoffnung: Es wird mir doch ein Friedenshaus.

Interessant ist, wie Bach die Thematik der Hoffnung aus jener der Furcht entwickelt und dann jeweils variiert. An der vierfach wiederholten Stelle «Das offne Grab sieht greulich aus» (Takte 65–80) ändert sich die Artikulation der Achtelnoten zum Staccato, ein verminderter Septimsprung in der Altstimme unterstreicht den Affekt des Schreckens. Dem hält die Hoffnung eine beinahe endlos anmutende Koloratur auf dem Wort «Friedenshaus» entgegen. Bach lässt die ewige Weite des göttlichen Friedens fünf Takte lang Ereignis werden. Wieder behält (wie in Satz 2) die Hoffnung die Oberhand: Die Altstimme verstummt erschreckt bei «sieht greulich aus». Dann ändert sich die rhythmische und harmonische Situation. Die Erregung weicht einer wunderbaren Ruhe (Takte 77–80). Es entsteht ein musikalisches Friedenshaus, aus dem die Furcht vertrieben wird! Sie bekommt gleichsam Hausverbot.

Doch das reicht noch nicht. Das anrührende Rezitativ No. 4 bietet eine überraschende und zugleich nicht überbietbare Steigerung. Gott selbst schaltet sich ein: eine Stimme vom Himmel her4. Mit Worten aus dem letzten Buch der Bibel (Offb 14,13) wird in kurzen ariosen Teilen das von dissonanten Akkorden geprägte Secco der Furcht immer wieder unterbrochen:

a) «Selig sind die Toten» (D-Dur)
b) «Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben» (E-Dur)
c) «Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben von nun an.» (C-Dur/E-Dur)

Jedes Mal wendet sich das Arioso von vorangegangenem Moll nach Dur; allerdings ist das letzte harmonisch am Ende so erweitert, dass die fest gefügte fünftaktige Form der ersten beiden Ariosi gesprengt wird. Tod und Todesfurcht werden förmlich in den Sieg hineingezogen. Dabei wird die musikalisch klassische Proportion (z. B. 2+2 oder 4+4) gesprengt. Diese 14 Takte sind das theologische und musikalische Zentrum der Kantate5. Dies verifiziert sich im Folgenden auch verbal: Hatte die Furcht unmittelbar vor dem letzten Einwurf der Vox Christi noch geäussert:

Wenn ich im Herren sterbe,/ ist dann die Seligkeit mein Teil und Erbe?/ Der Leib wird ja der Würmer Speise!/ Ja, werden meine Glieder/ zu Staub und Erde wieder,/ da ich ein Kind des Todes heisse,/ so schein ich ja im Grabe zu verderben,

so bekennt sie am Ende, durch die Zusage gestärkt:

Wohlan, soll ich nun selig sein:/ So stelle dich, o Hoffnung, wieder ein./ Mein Leib mag ohne Furcht im Schlafe ruhn,/ der Geist kann einen Blick in jene Freude tun.

Dabei wendet sich die Harmonik von einem eher verhaltenen e-Moll in ein versöhnliches D-Dur. Durch den Trost, der vom Himmel kommt und Seligkeit verspricht, stellt sich auch die Schwester der Hoffnung, die Freude (vgl. Takt 51) wieder ein; ein Hinweis darauf, dass Hoffnung die Furcht vertreibt und sich dann mit der Freude verbindet.
Bach schliesst die Kantate mit dem Choral «Es ist genung», sodass das bedrohliche «Donnerwort» suspendiert, ja gleichsam in die Ewigkeit «emporgehoben» wird: Die vierte Note des zweiten Teils der Choralzeile a-h-cis-d («o Donnerwort») ist sinnenfällig nach oben (!) zum dis alteriert. Bach bildet die Verwandlung ab, die in der Kantate mit den menschlichen Affekten passiert ist. Die Furcht wurde durch Gottes Trost nach oben gezogen und in freudige Hoffnung verwandelt.

Für mich ist BWV 60 ein gutes Beispiel dafür, wie Musik menschliche Gefühle authentisch ausdrücken kann. Beide kommen zu Wort: Furcht und Hoffnung. Bachs Musik hat zugleich das Potenzial, dunkle Gefühle aufzufangen und zu verwandeln: Seine Musik wird in diesem Sinne zu einem spirituellen Ereignis. Sie löst Tränen aus, lässt Menschen aber nicht allein mit ihrer Furcht. Sie erweist sich als geistliche Affektkunst mit therapeutischer Qualität. Dies bezeichnete man im 17. Jh. schon als ars moriendi, als Einübung in die Kunst des Sterbens.

1 Luther, Martin, Vorrede zu den Symphoniae lucundae von Georg Rhau (1538), in: WA 50, 371.
2 Vgl. Luther, Martin, Zweite Vorrede zum Psalter, in: WA DB, 100–102.
3 Vgl. Dürr, Alfred, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Kassel 2001; Petzoldt, Martin, Bach-Kommentar I, Kassel 2004, 655.
4 Bach nimmt damit eine Tradition auf, die wir schon in Heinrich Schützens «Musikalischen Exequien» (Teil III, Nunc dimittis) vorfinden. Dort werden diese Worte von einem Soloterzett gesungen.
5 Dass Bach hier 14 Takte wählte, ist wahrscheinlich kein Zufall. Die Zahl 14 ist die Summe seiner Initialen nach dem Prinzip des kabbalistischen Zahlenalphabets (also: B=2 + A=1 + C=3 + H=8). Sie findet sich bekanntlich auch in der ersten Melodiezeile seiner letzten Choralbearbeitung «Vor deinen Thron tret‘ ich hiermit» (BWV 668).

Anmerkung der Redaktion: Arioso (pl. Ariosi) ist ein instrumental begleitetes, liedhaftausdrucksvolles Gesangsstück für eine Solostimme.

 


Jochen Arnold

Prof. Dr. Jochen Arnold ist Kirchenmusiker und ev. Pfarrer. Seit 2004 ist er Direktor des Michaelisklosters Hildesheim der ev.-luth. Landeskirche Hannovers (D), seit 2009 Privatdozent für Theologie an der Universität Leipzig und Honorarprofessor für Musikvermittlung an der Universität Hildesheim.

 

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