Gottes Heiligkeit im Spiegel der Gottesfurcht

In der Dogmatik werden verschiedene Arten von Gottesfurcht unterschieden. Prof. Hauke zeigt anhand von Thomas von Aquin auf, wie die Gottesfurcht in ihrer Beziehung zur Gottesliebe verstanden werden kann.

Im Zentrum des biblischen Gottesbildes steht die Heiligkeit. In seiner unendlichen Lebensfülle, welche die Schöpfung überragt, zieht Gott den Menschen an, den er auf sich hin geschaffen hat. In der Begegnung mit dem Geheimnis Gottes spürt der Mensch aber auch die Distanz, die ihn von Gott trennt. Dieses religiöse Urphänomen wird bereits von der Religionswissenschaft beschrieben, die sich mit der menschlichen Suche nach dem Göttlichen in allen Religionen befasst. Das bekannte klassische Werk von Rudolf Otto spricht in diesem Zusammenhang von dem Geheimnis Gottes, das den Menschen in Ehrfurcht «erzittern» lässt und ihn gleichzeitig anzieht (mysterium tremendum et fascinosum).1

In der biblischen Offenbarung zeigt sich Gott selbst in seiner Grösse, barmherzigen Liebe, Gerechtigkeit und Heiligkeit. In der Reaktion des Menschen darauf finden wir stets die Gottesfurcht. Drei Beispiele seien hier angedeutet. Als sich Gott am Berge Horeb im brennenden Dornbusch offenbarte, legte Mose die Schuhe ab, «denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden». Als Gott sich dann vorstellte, verhüllte Mose sein Gesicht; «denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen» (Ex 3,1–6). Bei der Berufung des Jesaja sieht der künftige Prophet in einer Vision Gott im Tempel auf einem hohen Thron sitzen, umgeben von den Serafim, die einander zurufen: «Heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen. Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit» – diese Worte gehen später in das «Sanctus» der Messfeier ein, bevor Christus im Allerheiligsten Sakrament auf dem Altar leibhaft gegenwärtig wird. Der Tempel erbebt und füllt sich mit Rauch, während der Seher seine Unwürdigkeit bekennt und seine Furcht, verloren zu sein. Erst als ein Seraph mit einer glühenden Kohle seine Lippen berührt, um die Sünde zu tilgen, wird Jesaja in die Lage versetzt, den Ruf Gottes anzunehmen (Jes 6,1–9).

Die Gottesfurcht des Mose und des Jesaja ist gleichsam der menschliche Spiegel, in der die Heiligkeit Gottes aufleuchtet. Das Gleiche gilt auch für das Neue Testament, wie etwa die Berufung des Petrus zeigt. Als Jesus ihn auffordert, trotz einer erfolglosen Nacht des Fischens am Morgen noch einmal die Netze auszuwerfen (wider alle menschliche Hoffnung), da fängt er eine gewaltige Menge Fische. «Als Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füssen und sagte: Geh weg von mir; denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr.» Erst als Jesus sagt «Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen», verlässt Petrus seine Familie und seine Heimat, um Jesus nachzufolgen (Lk 5,1–11).

Jesus selbst weist einmal in einer besonders markanten Weise auf die Bedeutung der Gottesfurcht: «Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch eher vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann» (Mt 10,28). Gott allein ist zu fürchten, Menschen hingegen nicht.

Das systematische Nachdenken in der Dogmatik und Moraltheologie unterscheidet seit jeher verschiedene Arten der Gottesfurcht und stellt sie in den grossen Zusammenhang der Antwort des Menschen auf den Ruf Gottes. Exemplarisch dafür stehen die Ausführungen des heiligen Thomas von Aquin in seiner «Summa theologiae» (STh II-II q. 19; Thomas von Aquin, Die Hoffnung, 1988). Gleich der erste von zwölf Artikeln gibt Antwort auf eine kritische Rückfrage, die auch heute Menschen bewegt. Muss man wirklich Angst haben vor dem guten und barmherzigen Gott? Ist nicht ein Gottesbild zu vermeiden, das den Menschen gleichsam erdrückt?

Auf die Frage «Kann man Gott fürchten?» betont der Kirchenlehrer, dass Gott keinesfalls ein Übel darstellt, vor dem man sich fürchten müsste. Die Gottesfurcht bezieht sich nicht unmittelbar auf Gott, sondern auf die Strafe, die den Menschen treffen kann, wenn er sich durch seine eigene Sünde von Gott trennt. Zu fürchten ist Gott nur im Blick auf die Möglichkeit, dass wir uns durch eigene Schuld von ihm entfernen. Die gerechte Strafe kommt zwar von Gott, hat aber ihren Grund in der Sünde des Menschen.
In diesem Zusammenhang äussert sich Thomas auch über das Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes. Beide Eigenschaften lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Barmherzigkeit Gottes bedeutet nicht, dass Gott gleichsam die Augen zudrückt vor unserer Sünde, sondern dass wir seine Hilfe erfahren, uns vom Schmutz der Sünde zu reinigen, und so vor Gott gerecht werden. Das geschieht vor allem im Sakrament der Versöhnung, bei der persönlichen Beichte. «In Gott muss man sowohl die Gerechtigkeit, mit der er die Sünder bestraft, in Betracht ziehen, als auch die Barmherzigkeit, durch die uns Befreiung zuteilwird. Blicken wir auf seine Gerechtigkeit, so überkommt uns Furcht, denken wir an seine Barmherzigkeit, so regt sich in uns Hoffnung» (q. 19 a. 1 ad 2).

Die Gottesfurcht ist nicht isoliert zu sehen, sondern in ihrem Bezug zur Gottesliebe. Der Apostel Johannes betont: «Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe, wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe» (1 Joh 4,18).

Die Furcht vor der Strafe nennt Thomas von Aquin die «knechtliche Furcht» (timor servilis). Das Verhältnis des Knechtes zum Herrn gründet auf der Macht des Herrn, dem der Knecht dient. «Wendet sich jemand Gott zu und hängt an ihm aus Furcht vor Strafe, so ist dies knechtliche Furcht.» Insofern sich der Mensch dabei Gott zuwendet, ist die Furcht vor Strafe durchaus etwas moralisch Gutes, aber sie ist unvollkommen im Vergleich zu dem Verhältnis der Liebe, wie sie zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Ehegatten besteht. Diese Liebe geht durchaus mit der Ehrfurcht zusammen, die den anderen nicht kränken will. Thomas spricht hier von der «kindlichen Furcht» (timor filialis), die auch in der Gottesliebe bleibt: «Kinder fürchten, ihren Vater zu beleidigen» (q. 19 a. 2).

Bei der «knechtlichen Furcht» gibt es eine Furcht vor Strafe, die das eigene Wohlsein beeinträchtigt. Ebenso wie die Selbstliebe ist die knechtliche Furcht vereinbar mit der Gottesliebe, wenn der Mensch dabei das eigene Wohlsein nicht als letztes Ziel anstrebt. Unvereinbar mit der Gottesliebe ist sie dann, wenn sie nicht Gott als letztes Ziel betrachtet, sondern das eigene Wohlergehen. Ebenso wie der Mensch sich selbst wegen Gott und in Gott lieben kann, so können auch «knechtliche» und «kindliche» Gottesfurcht gemeinsam bestehen (a. 4). Sittlich verwerflich ist die «knechtische Furcht», die den inneren Wunsch zur Sünde nicht überwindet (von späteren Thomaskommentaren auch timor serviliter servilis genannt), während sie berechtigt ist, wenn sich der Wille innerlich von der Sünde abwendet (timor simpliciter servilis) (vgl. a. 6). Als eine der «sieben Gaben des Heiligen Geistes» (im Anschluss an Jes 11,3) ist die Gottesfurcht nicht mehr mit der Furcht vor Strafe verbunden. Als «kindliche Furcht» bleibt sie auch in der himmlischen Freude bestehen, insofern der Mensch von dem unendlichen Gott unterschieden und ihm untergeben ist (a. 10 ad 3; a. 11 ad 3).

Ein willkommener Anlass, über die Gottesfurcht zu sprechen, ist die Vorbereitung auf die Firmung, die stets die «sieben Gaben des Heiligen Geistes» mitteilt, aber auch auf die persönliche Beichte: Die «vollkommene Reue» aus Liebe zu Gott erlangt die Vergebung auch der schweren Sünden, «wenn sie mit dem festen Entschluss verbunden ist, sobald als möglich das sakramentale Bekenntnis nachzuholen»; die «unvollkommene Reue» hingegen ist ebenfalls eine Wirkung der göttlichen Gnade; sie «erwächst aus der Betrachtung der Abscheulichkeit der Sünde oder aus der Furcht vor der ewigen Verdammnis und weiteren Strafen, die dem Sünder drohen [Furchtreue]». Sie führt noch nicht zur Vergebung der schweren Sünden, aber kann den Weg zum Busssakrament und somit zur Versöhnung mit Gott bereiten (KKK 1452–53).

Wenn im Spiegel der menschlichen Seele die Heiligkeit Gottes aufleuchtet, erwacht die Ehrfurcht, die sich in der Gottesliebe läutert und den Weg bahnt zur ewigen Gemeinschaft mit dem heiligen Gott. In diesem Sinne gilt auch heute die Verheissung des Psalmes: «Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit» (Ps 111,10).

1 Vgl. Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 2013 (Nachdruck).


Manfred Hauke

Prof. Dr. Manfred Hauke ist Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät von Lugano und derzeit Direktor der «Rivista teologia di Lugano», die in mehreren Sprachen erscheint.