Kirche. Ein irgendwie sperriges Wort. Für manche steht es für kulturell wertvolle sakrale Gebäude. Für andere für eine grosse, undurchsichtige Organisation, welche eine schwierige Geschichte hat. Die dritten verbinden damit den Gottesdienst am Sonntag und den anschliessenden Schwatz mit dem Pfarrer oder der Theologin. Was also ist Kirche? Für viele wohl einfach: Sie ist mir egal.
«Kirche ist uncool!», meinte vor kurzem ein Kommunikationsexperte bei einer Weiterbildung der katholischen Kirche. Das meinte er nicht abwertend, er beschrieb einen Status quo. Viele sagen, die Kirche sei heutzutage überflüssig. Wenn es heute schon so ist, wer braucht dann in 190 Monaten noch Kirche? Im neuen Testament steht Kirche für die christliche Gemeinschaft. Man könnte die obige Frage daher anders formulieren: Wer braucht in 190 Monaten christliche Gemeinschaft? In einem Blog beschrieb P. Beat Altenbach SJ folgendes: Zwei Seelsorgende und zwei Musiker:innen gehen in ein Gefängnis, halten Gottesdienst mit zwei Häftlingen. Ein Häftling staunt, dass man sich so viel Zeit und Mühe für die beiden nimmt. Warum das? Weil Kirche da ist. Für alle. Im Gegensatz zu Sozialarbeitenden und Therapeutinnen hat Seelsorge keine Stundenslots. Kirche ist da und nimmt sich die Zeit, die es braucht. Die Chance der Kirche der Zukunft?
In 190 Monaten gibt es kaum mehr Sonntagsgottesdienste. Die Kirchensteuer ist vielleicht abgeschafft. Die christliche Gemeinschaft aber wird weiter bestehen. Menschen aus dieser Gemeinschaft begegnen in Altersheimen Einsamen, kommen in Shoppingcenter, Jugendverbänden und Bars mit Sinnsuchenden in Kontakt, in Psychiatrien hat Seelsorge einen hohen Stellenwert und Seelsorgende sind Teil des Behandlungsteams. Randständige und Reiche erfahren eine ihnen zugewandte Kirche. Menschen finden in der Kirche eine bedingungslose, sinnstiftende Gemeinschaft.
Die Kirche wie vor 190 Monaten wird es nicht wieder geben. Das ins Auge zu fassen tut weh. Es eröffnet aber die Chance, sich auf den Kern des christlichen Glaubens zu besinnen. Die wahre Stärke der Kirche ist ihre ursprüngliche Bedeutung als Gemeinschaft der Christen. In diese Gemeinschaft wird eingeladen, wer sie sucht oder benötigt. Die Schwachen, die Armen, die Kranken und die Vergessenen sind Jesus wichtig. Um jene gilt es sich zu kümmern, ihnen Aufmerksamkeit und ein offenes Ohr zu schenken. Diese Zuwendung ist die Kernbotschaft des Neuen Testamentes.
Christliche Gemeinschaften beleben in 190 Monaten den grossen Markt der Spiritualität mit Demut und Beschränkung auf das Wesentliche, Rückbesinnung auf alte Rituale, welche sich über 2000 Jahre entwickelt haben, fernab von kurzfristigen Trends. Wer das stille Gebet sucht, bekommt in einer alten Kirche den Raum dafür. Wer das Gespräch sucht, findet ein Gegenüber. Andere Kirchen werden Hotels, Sporträume, Schulen oder Markthallen. Seelsorgende arbeiten als Barkeeper oder schneiden Haare. Die Kirche wartet nicht auf die Menschen, sie geht dorthin, wo die Menschen sind und wo sie die Kirche nicht erwarten. Die Kirche der Zukunft bietet Raum für Menschen. Sie drängt sich nicht in den Mittelpunkt, sondern ist offen für die Bedürfnisse der Menschen. Das Ziel ist nicht, die eigenen Mitgliederzahlen zu steigern, sondern bedingungslos Menschen in allen Lebenssituationen Halt und Gemeinschaft zu bieten. Die Botschaft des Evangeliums zu leben.
Vielen ist Kirche heute egal. Kirche findet in ihrem Leben nicht statt. In 190 Monaten begegnet ihnen die Kirche dort, wo sie es nicht vermuten. Es wird eine grosse Zahl an Menschen geben, die im ersten Moment gar nicht bemerken, dass Angehörige der Kirche für sie da waren. Und das ist gut so. Kirche ist Gemeinschaft und ihre Angehörigen sollen Gemeinschaft bieten. Für den Menschen da sein, wenn er oder sie es braucht, an neuen, ungewohnten Orten und mit einer gottverliebten, belebenden Haltung, die im anderen den Freund sieht.
Anna-Christina Gut