Ich, der sehnsüchtige Süperprotestant

 

In meinem Text «Vor der Hantel sind wir alle gleich» habe ich mich weder der katholischen Liturgie noch dem Fitnesscenter satirisch angenähert. Beides hat für mich seinen Reiz und seine Faszination. Der ironische Drall ist Stilmittel, um möglichst leichtfüssig das konstitutive, urmenschliche Bedürfnis nach Nahrung, Geborgenheit und Angenommensein zu beschreiben, das sich in spirituell karger Zeit neu und hungrig artikuliert.

Nein, ich habe in der NZZ nicht niedergeschrieben, «was ich selber an Faszination erfuhr, als ich mich noch in alten Zeiten im katholischen Milieu befand», wie Stephan Schmid- Keiser mutmasst, ich bin evangelisch-reformiert. In der linguistischen Logik des Komikers Müslüm wäre ich wohl ein Süperprotestant. Meine Familie väterlicherseits («Flütsch») stammt aus St. Antönien, Prättigau (GR), das war das erste Dorf in Graubünden, das den neuen Glauben im 16. Jahrhundert angenommen hat. Mein Vater war sehr stolz darauf. Die Familie meines Mannes («Ganzoni») stammt in direkter Linie von Duri Champell ab, dem Reformator des Engadins. Unsere drei Kinder, deren Grossvater reformierter Pfarrer war, sind evangelisch getauft, zwei davon bereits konfirmiert.

Von katholisch (fast) (k)eine Spur

Meine Mutter ist katholisch aufgewachsen, aber nicht in der Prachtentfaltung, Wärme und Farbe, dem vielstimmigen Klang, den ich mit «katholisch» – vielleicht romantisierend – in Verbindung bringe, sondern in unproduktiver Repression, ideologischer Erstarrung und fader Miesepetrigkeit. Stellen Sie sich ein Dorf bei Chur vor, das zwei Schulhäuser kannte, ein reformiertes und ein katholisches. Der katholische Priester sagte zu den Kindern, die reformierte Kirche betreten, sei eine Todsünde. Am Karfreitag führten die Katholiken Mist, an Fronleichnam putzten die Reformierten die Fenster. Als meine Mutter meinen reformierten Vater in katholischem Ritual heiratete, verzichtete die Familie meines Vaters auf die Teilnahme an der Feier. Eine Mischehe, pfui Teufel! Der katholische Priester liess meine Mutter unterschreiben, dass die Kinder katholisch zu sein hatten. Meine Mutter unterschrieb und litt. Später – Bischof Haas sass in Chur am Ruder, ihr platzte der Kragen – konvertierte sie zur Konfession ihres Mannes.

Der Terror des Rationalen

Da ich die Kunst liebe, fand ich schon früh, dass in der Reformation etwas schiefgelaufen ist. Gott ist das Schöne, und deshalb gründet die Reformation auf der Sünde der Kunstvernichtung, der Vernichtung des Schönen und Sinnlichen, das konnte nichts Gutes sein, auch wenn ich den punto di partenza verstand, Ablass, Degenerierung. Die Vorstellung, wie das Wasser der Limmat und des Inns Kruzifixe, Bilder und Altäre zerstörte: schwer aushaltbar. Was hatten diese puritanischen Talibane da angerichtet? Was war schlimmer, die teilweise verluderte katholische Kirche oder der neue Terror des Rationalen? Ich spreche vor allem von Zwingli und Calvin und deren Nachfolgerschaft. Und damit spreche ich auch von mir. Meine Ratio terrorisiert mich. Ich will Poesie! Deshalb stehen bei uns im Haus seit Kurzem unter einem Glassturz majestätisch Madonna mit Kind. Der Heilige Florian ist alpenländisches Schnitzwerk, das beim Treppengehen das Auge erfreut.

Der echte Superfood

Ich schrieb, wie Sie sehen, nicht nieder, was ich erfuhr, sondern was ich leider nicht erfuhr im trockenen reformierten Milieu: Das Einschreiben religiöser Rituale und sinnlicher Erfahrung in den Körper, inszenierte (und für die, die können, erlebte) Gottesnähe, kollektiv erzähl- und wiederholbar. Zusammen Brot brechen und essen – mit Blick auf die Vertikale, das schafft Bedeutung und Hoffnung.

Magische Nahrung. Reduced to the max. Der echte Superfood. Jesus, der radikalste Mensch, Sohn Gottes, er ist während der Eucharistie anwesend, um den schwachen und zweifelnden Menschen zu verlebendigen und zu verankern im Glauben an das Gute, Schöne, Wahre, an das Wunder und die Auferstehung. Ich sehe in meinem Neid auf die Katholiken, wie Jesus in ihren reich geschmückten Zauber-Räumen, neben geweihtem Wasser und in Weihrauchduft, durch die Bankreihen geht, in göttlichem Ernst, verspielt wie ein Kind, er lächelt die Menschen an, den Traurigen reicht er die Hand – als Mensch unter Menschen, als Brücke zu Gott, der ein Geheimnis bleibt, unerzählbar.

Exerzitien für Götter ohne Gott

Viele Menschen sehnen sich nach Spiritualität, Glauben und Seelen-Nahrung. Sie wollen dem, das grösser ist als sie, nah sein. Alle Menschen sehnen sich nach Gemeinschaft. Die Angebote richten sich nach der Zeit, in der wir leben. Kirchliche Angebote werden anders genutzt als früher, Freikirchen und Esoterik haben Zulauf, aber auch Angebote, die auf den ersten Blick banal anmuten oder keine Spiritualität anbieten, sondern ganz im Gegenteil den homo oeconomicus füttern und zu dessen Selbstoptimierung beitragen, damit er noch besser taugt für den Markt, fitter wird, leistungsfähiger. Das Fitnesscenter zum Beispiel.

Aus eigener Erfahrung – ich trainiere häufig – weiss ich, dass es über den Muskelzuwachs einen Mehrwert gibt, der den Menschen zufriedener macht, nicht zuletzt die kollektive Erfahrung und das Rituelle. «Die Personen im Fitnesscenter» sind für mich daher keine «Pseudo-Ritualisten», wie Stephan Schmid-Keiser vermutet, sie sind Ritualisten. Mein Text verhehlt nicht, dass sie sich feiern, ich nenne ihr Tun «Exerzitien für Götter ohne Gott (…) Die topfitten Derwische tanzen ohne Vertikale, der Blick geht zum Spiegel und zurück, sie tanzen um sich selbst.» Trotzdem ist der Text nicht primär «Körper-Kult- und Religionskritik», sondern Anerkennung von Körper- und Religionsbedürfnis. Und ich stimme Stephan Schmid-Keiser zu, wenn er schreibt, der Mensch erkenne auch im Fitnesscenter, dass ihn über ein Bedürfnis hinaus eine Sehnsucht erfülle, kein Mensch vermöge, vom Brot allein zu leben.

 

Mitte März erscheint im Rotpunktverlag ihr Erzählband «Granada Grischun»:

www.rotpunktverlag.ch

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Romana Ganzoni

Romana Ganzoni

Romana Ganzoni ist Schriftstellerin und lebt in Celerina GR.