Alternative Europaidee im Zeichen der Latinität

Im Zeichen der Latinität. Antoni Gaudí, Barcelona. Foto: Walter Bucher

Die österreichische Zeitschrift «Tumult» veröffentlichte 1993 die Übersetzung einer französischen Denkschrift unter der Überschrift «Das Lateinische Reich» – ohne grösseres Echo. Zwanzig Jahre später ist jener Entwurf besonders in Frankreich und Italien ein Thema. Worum geht es?

Im Jahr 1945 schreibt der Philosoph Alexandre Kojève, zu dieser Zeit im Pariser Wirtschaftsministerium tätig, ein Aide-Mémoire zur internen Benützung; darin schlägt er vor, dass die «lateinischen Mächte» Frankreich, Italien, Spanien und Portugal sich samt ihren weltumspannenden Kolonien zu einem Bund – von einem Empire hat Kojève selbst nicht gesprochen – zusammenschliessen. Dass Deutschland nicht wieder zu einem Feind werden würde, konnte man damals noch nicht wissen. Auch hätte dieser Bund ein Gegengewicht zur Vorherrschaft der angelsächsischen Länder bilden sollen. Die Versöhnung mit (West-)Deutschland durch De Gaulle und Adenauer lässt dann aber eine andere Europaidee Realität werden.

Wieso der Text heute neu an Aktualität gewinnt, liegt auf der Hand: In der immer wieder neu aufflammenden Euro- und Schuldenkrise hat Deutschland das Sagen. Alternative politische Entwürfe namentlich aus Frankreich und Italien können sich nicht durchsetzen, nicht zuletzt deshalb, weil die deutsch-französische Allianz Frankreich einen gewissen Einfluss sichert, der, wenn’s hart auf hart kommt, nicht für ungewisse Alternativen aus der Hand gegeben wird. Frankreich ist also paradoxerweise mal Promotor, mal Hindernis eines «anderen Europa».

Die lange Geschichte einer Idee1

Wolf Lepenies rekonstruiert im vorliegenden Buch die lange Vorgeschichte des Kojève’schen Strategiepapiers. In der Tat sprachen bereits die Saint-Simonisten im 19. Jahrhundert von einem Zusammenschluss der lateinisch geprägten Länder. Was macht aber diese vielbeschworene Latinität aus? In dieser Frage sind sich die Intellektuellen nicht einig. Es gibt einerseits die Entgegenstellung lateinisch-katholische Länder gegen protestantisch-germanische bzw. angelsächsische, andererseits das Gegensatzpaar Süden – Norden bzw. Mittelmeer – Atlantik. Wer wie Albert Camus im 20. Jahrhundert gegen die Latinität als Gemeinsamkeit Protest einlegt, tut dies im Namen einer Mittelmeer-Zugehörigkeit, die den Bogen zu den islamisch geprägten Ländern zu schlagen imstande ist. Immerhin war Camus Algerien-Franzose.

Sicher ist dieser ganze Diskurs auch ein Symptom des Leidens an der Dominanz Deutschlands und Grossbritanniens, später der USA. Der Sieg Preussen-Deutschlands 1871 wird nicht nur in Frankreich als Zeitenwende wahrgenommen. Aber dies ist nur eine Dimension, die andere ist die einer Suche nach Gemeinsamkeit jenseits nationalstaatlicher Grenzen; im Falle einer mittelmeerischen Gemeinsamkeit auch jenseits religiös-kultureller Grenzen.

Die neue Zentralität des Mittelmeeres

Paradoxerweise rückt heute das Mittelmeer wegen der Migration, nicht wegen seiner kulturellen Schöpfermacht wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Lange ist die jetzige Situation nicht auszuhalten, nicht zuletzt deswegen, weil niemand erwarten kann, dass Griechenland und Italien die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge allein bewältigen. Eine neue Mittelmeerpolitik ist vonnöten, nicht im Zeichen einer lateinisch-katholischen Gemeinsamkeit, vielmehr einer Nord-Süd-Kooperation, die auch die Migrationsfrage einschliessen würde. Der Anlauf Nicolas Sarkozys zu einer «Union Méditerranéenne», die den Ländern des Nahen Ostens auch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit hätte bieten wollen, wurde von Deutschland torpediert. Ein autonomes französisches Projekt konnte in Berlin offensichtlich nicht geduldet werden. Der französische Präsident und seine Berater unterschätzten jedoch auch die Spannungen unter den einzelnen Staaten. Dennoch müssen die Länder Europas den Mittelmeer-Anrainern eine Perspektive geben, soll die Lage etwa im Libanon oder in der Türkei, aber ebenso in Griechenland oder Italien nicht explodieren. Und das hätte fatale Folgen für Europa insgesamt.

 

1 Wolf Lepenies: Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa. München 2016.

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.