Die Bibel im Koran

Koran

Christen und Muslime begegnen einander. Sie ringen um gegenseitiges Verstehen, um die aktuellen Herausforderungen gemeinsam zu bestehen. Diese SKZ-Ausgabe vermittelt über den Tag hinaus Anregungen, ausgehend von Christoph Gellners Lektüre des neuen Grundlagenwerkes von Karl-Josef Kuschel.

Nichtmuslimische Leser tun sich mit der Lektüre des Koran oft schwer, weil die Heilige Schrift der Muslime das mit biblischen Erzähltraditionen Gemeinsame in einer ganz eigenen Weise zur Sprache bringt. Dass der Koran in grosser Breite und Tiefe Überlieferungen bewusst aufnimmt und neu interpretiert, die Juden und Christen aus ihrem eigenen normativen Schrifttum vertraut sind, ist Ausgangspunkt des neuen Buchs des Tübinger Literaturwissenschaftlers und katholischen Theologen Karl-Josef Kuschel.1 Sein 666 Seiten umfassendes Grundlagenwerk wendet sich an dialogwillige Nichtexperten, um auf der Basis von Bibel und Koran interreligiös vernetztes Denken, Glauben und Handeln anzustossen.

Neue Verstehensansätze

Jahrhundertelang haben Christen, Juden und Muslime ihre Heiligen Schriften gegeneinander gelesen, getragen von wechselseitig bescheinigter Überlegenheit des je eigenen Glaubens. Mit der jüngsten englisch- und deutschsprachigen Forschung macht Kuschel ein anderes Narrativ für das Verhältnis Bibel – Koran auf. Nicht mehr (ab-) wertend entweder nach einer Defizithermeneutik – wie in christlicher Tradition – noch nach einer Überbietungshermeneutik – wie in muslimischer Tradition, «Siegel der Propheten» (Sure 33,40) wird Muhammad nicht zufällig genannt –, sondern nach einer Alteritätshermeneutik. Damit wird der Koran nicht länger von der Bibel als exklusivem Massstab her als «verzerrend», «missverstehend» oder «defizitär» abgewertet, und umgekehrt wird die Bibel nicht länger vom Koran als exklusivem Massstab her für zum Teil verdorben und missverstanden erklärt. Vielmehr sucht man beide in ihrer «Andersheit» zu verstehen als Ur-Kunden mit je eigenem Profil und unverwechselbarer Autorität.

Der Koran ist polyphon-dramatisch, kommunikativ-diskursiv und geschichtlich-kontextuell zu verstehen: Mit literarisch geschultem Blick hat insbesondere die Berliner Arabistin Angelika Neuwirth den Koran von seiner historischen Entstehung her als spätantiken Text gedeutet.2 Als Dokument eines lebendigen Kommunikationsprozesses zwischen dem Propheten Muhammad und seiner Gemeinde spiegelt er zahlreiche theologische, ethische und liturgische Diskurse. Das wird heute auch in reformorientierten muslimischen Kreisen so gesehen, für die Gott Subjekt des Koran bleibt. Mit der Herausbildung des Islam als einer eigenständigen Religionstradition wird dieser diskursiv wachsende Text zum neuen Identitätszeugnis der muslimischen Gemeinde. Bei aller unvergleichlichen inhaltlichen und sprachlichen Eigenständigkeit wurzelt der Koran wie die jüdischen und christlichen Grundschriften fest in der biblischen Tradition.

Polyphones Religionsgespräch

Dabei setzt die koranische Verkündigung im Zeitraum von 610 und 632 zwei Arten von Bibel voraus: eine durch die Rabbinen weitergedeutete jüdische Bibel und eine durch die Kirchenväter und die gesamtkirchlichen Konzilsbeschlüsse weitergedeutete christliche Bibel. Deren narratives Potenzial wird nicht einfach «übernommen», sondern ausführlich verhandelt. Der Koran ist also kein einsam-erratischer Block in einer ansonsten buchstäblich wüstenleeren Landschaft der Arabischen Halbinsel. Er muss vielmehr als Antwort unter anderem auch auf christliche und jüdische Herausforderungen seiner Zeit verstanden werden. Als polyphones Religionsgespräch, das sich zwischen der muslimischen Gemeinde und den Vertretern der übrigen Traditionen abspielte. Das spiegelt sich in Reaktionen, Einwürfen und Rückfragen unmittelbar wider, die der Koran oft als wörtliche Zitate mit der Formel «sie sagen» einspielt. Hans Zirker hat in seiner Koranübersetzung erstmals durch Zeileneinrückungen den Wechsel der jeweiligen Sprecherrollen innerhalb der Suren deutlich gemacht.3 Gerade so wird der Koran wieder als vielstimmiges Argumentations-Drama, ja, als lebendig-dialogische Auseinandersetzung zwischen Verfechtern verschiedener theologischer Standpunkte erkennbar.

Unerlässlich für ein Verstehen dieser koranischen Kommunikation in ihrem geschichtlichen Kontext ist eine historisch-diachrone Lesart des Koran, die die einzelnen Suren als sukzessiv – zunächst in Mekka, nach der Hidschra dann in Medina – fortschreitende Verkündigung begreift und spätere Texte auf mögliche Echos oder Revisionen früherer Verkündigungen auslotet. Dabei ist die Bibelrezeption in Mekka von der in Medina deutlich abzuheben: Hatte der Prophet in Mekka «paganen oder lax monotheistischen Gegnern gegenübergestanden», resümiert Kuschel die neueste Forschung, und waren dort «biblische Traditionen Teil eines allgemein zugänglichen Wissens gewesen», so treten in Medina «die legitimen Erben der Bibel – Juden und Christen – selbst in Erscheinung, um ihr Monopol auf die Exegese der biblischen Traditionen einzuklagen. Was in Mekka noch als allgemein zugängliches monotheistisches Traditionsgut im Umlauf gewesen war, wurde in Medina zum Streitobjekt, insofern die biblischen und nachbiblischen Traditionen nun durch gelehrte Juden und Christen als ihr Monopol reklamiert wurden, gegenüber denen sich die neue Gemeinde behaupten musste.»4

Kein Religionsdialog ohne komparative Theologie

Genaue Fallstudien, die mehr als zwei Drittel von Kuschels Buch ausmachen, zeigen minutiös, wie der Koran Erzähltraditionen von Adam («Gottes Risiko Mensch»), Noah («Untergang und Neuanfang»), Moses («der ‹ewige Konflikt› Gottesmacht gegen Menschenmacht»), Joseph und seinen Brüdern («Entfeindungsgeschichten in Bibel und Koran») bis hin zu Jesus und Maria («Gottes Zeichen für alle Welt») aufgreift und neu aktualisiert. Mit erhellenden Einblicken in islamische Theologie arbeitet Kuschel das Trennende und das Gemeinsame, das Unterscheidende und das Verbindende heraus. Gerade so wird nachvollziehbar, wie biblische Überlieferungen in der koranischen Verkündigung «zu aktualisierten Spiegel- und Gegengeschichten werden für den durch den Verkünder angestossenen und jahrelang hin und her wogenden Kampf zwischen altem und neuem Glauben.»5

Ohne Bibelkenntnisse kein Koranverständnis und kein Koranverständnis ohne relecture, die der Koran von biblischen und ausserbiblischen Überlieferungen vornimmt, streicht Kuschel die Notwendigkeit des konkreten Religionsvergleichs für wechselseitiges interreligiöses Verstehen heraus.6 Dazu gehört auch, sich klar zu machen: Von seinem Selbstverständnis her ist der Koran von Anfang bis Ende Rede, direkte An-Rede Gottes – kein Buch, sondern Rezitation, ja ein Hör-Erlebnis, das man einen sakramentalen Vorgang nennen kann.7 Nötig ist ein Paradigmenwechsel, so endet das Buch: «Vom Gegeneinander und Ohneeinander zu einem Miteinander ohne alle Verwischung und Vermischung. Von einer Unkultur ständiger Abgrenzung oder gleichgültigen Nebeneinanders zu einer Kultur der Achtsamkeit für die Präsenz des je Andersglaubenden neben mir und vor Gott.»8

 

1 Karl Josef Kuschel: Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Ostfildern 2017.

2 Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010.

3 Der Koran. Übersetzt und eingeleitet von Hans Zirker, Darmstadt 52016. Kuschel konsultiert auch die Übertragungen von Friedrich Rückert, Rudi Paret, Ahmad Milad Karimi und Hartmut Bobzin.

4 Kuschel: Bibel im Koran, 188f.

5 Ebd., 27.

6 Vgl. die aus der Dialogpraxis Komparativer Religionstheologie erwachsene neue Studie von Klaus von Stosch: Herausforderung Islam. Christliche Annäherungen, Paderborn 2016.

7 Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999.

8 Kuschel: Bibel im Koran.

Christoph Gellner

Christoph Gellner

Dr. theol. Christoph Gellner ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer (TBI) in Zürich und freier Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts der Universität Luzern.