Als Schweizer Wirtschaftsflüchtlinge waren

Die Schweiz ist heute ein Einwanderungsland. Dem war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert verliessen viele Schweizerinnen und Schweizer ihre Heimat aus wirtschaftlicher Not und hofften auf ein besseres Leben in Übersee.

Während Jahrhunderten konnte die Wirtschaft im Gebiet der heutigen Schweiz den Lebensunterhalt der Bevölkerung nicht gewährleisten. Vom 17. bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts mussten Hunderttausende in anderen Weltgegenden Arbeit und Verdienst suchen. Die Migration nahm verschiedenste Formen an. So gab es saisonale oder lebensgeschichtliche Zyklen, also Personen, die für eine gewisse Zeit anderswo Beschäftigung fanden, etwa als Erntehelfer oder in jungen Jahren irgendwo in der Fremde. Eine wichtige Rolle spielte lange der Solddienst. Dabei ging es weniger um die Tapferkeit – wie die vaterländische Geschichtsschreibung bis weit ins 20. Jahrhundert suggerierte – als um die billige Verfügbarkeit der Männer. Die meisten Söldner fielen nicht heroisch in Schlachten, sondern starben elendiglich an Infektionen. Genaue Zahlen zum Solddienst fehlen, doch gehen Schätzungen für das 17. Jahrhundert je nach Region und Generation von 10 bis 30 Prozent der Männer aus. Auch Siedlungsauswanderung gab es bereits in der frühen Neuzeit, etwa wegen ihrer Konfession verfolgten Täufer nach Holland, Amerika und Osteuropa, oder nach dem Dreissigjährigen Krieg (1618–1648) in die verwüsteten Regionen des Elsass oder der Pfalz.

Entwicklungen in der Güterproduktion

Gemäss der ersten umfassenden Erhebung, der Helvetischen Volkszählung von 1798, lebten im Gebiet der heutigen Schweiz fast 1,7 Mio. Personen. In den Kantonen kam es im folgenden Jahrhundert zu einer tiefgreifenden Umwälzung. In der Landwirtschaft stieg die Produktivität infolge neuer Methoden, und bisher gemeinsam genutzte Flächen (Allmende) wurden weitgehend privatisiert. Die Industrie erlebte einen Aufschwung zuerst vorab mittels Heimarbeit, aber zunehmend auch durch Fabriken. Ab der Mitte des Jahrhunderts erschlossen Eisenbahnen das Land. Sie erleichterten den Import von Rohstoffen und Lebensmitteln, was die Landwirtschaft in Bedrängnis brachte. Der wirtschaftliche Aufschwung ermöglichte eine Verbesserung von Hygiene und Ernährung und beschleunigte das Bevölkerungswachstum. Um 1900 lebten in der Schweiz fast doppelt so viele Personen, nämlich 3,3 Mio. Der Wandel brachte Gewinner und Verlierer. Für letztere blieb Auswanderung oft der einzige Ausweg.

Hohe Auswanderung

Die Auswanderung nahm im 19. Jahrhundert neue Dimensionen an. Nach der Französischen Revolution und der Bildung von Nationalarmeen verlor der Solddienst rasch an Bedeutung, bis er schliesslich 1859 gesetzlich verboten wurde. Dafür schwoll die Siedlungsauswanderung in nie gekanntem Masse an. Etwas mehr als die Hälfte der Auswandernden zog ins europäische Ausland. Dies erregte wenig Aufmerksamkeit, weshalb darüber wenig bekannt ist. Weit mehr wissen wir über die Überseeauswanderung. Sie erfasste von 1816 bis 1899 mindestens 340'000 Personen und erfolgte keineswegs kontinuierlich, vielmehr in ausgeprägten Konjunkturen.

Einen ersten Höhepunkt erreichte die Auswanderung 1816/17, als etwa 10'000 Personen ihr Heil in Übersee suchten. Eine Witterungskatastrophe verursachte die letzte grosse Hungersnot im Gebiet der Schweiz, und die Aufhebung von Napoleons Kontinentalsperre öffnete alle Tore für billiges englisches Maschinengarn, das Handspinnerei und -weberei in schwere Not stürzte. Hintergrund des nächsten Höhepunktes 1845 bis 1848 mit etwa 22'000 Auswandernden bildeten wiederum schlechte Ernten, nicht zuletzt wegen der Kartoffelfäule. Auf Missernten, welche die gute Industriekonjunktur nicht auffangen konnte, folgte 1851 bis 1855 mit 49'000 Personen eine Auswanderung in bisher nie gekanntem Ausmass. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes erleichterte die Einfuhr von billigem Getreide. Grosse Teile der Landwirtschaft mussten deshalb vom Getreidebau auf Viehwirtschaft umstellen, die weit weniger Arbeitskräfte beanspruchte. Zudem verdrängte die Fabrikindustrie die Heimarbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch. Deshalb wurde 1880 bis 1884 der absolute Höhepunkt mit über 56 000 Auswandernden erreicht, was einem jährlichen Durchschnitt von über 11'000 entsprach.

Aus wirtschaftlicher Not

Sucht man nach Gründen für die Auswanderung, so kann man für die Schweiz des 19. Jahrhunderts religiöse und politische Verfolgung weitgehend ausschliessen. Wir haben es – in der Sprache der aktuellen politischen Debatte – eindeutig mit «Wirtschaftsflüchtlingen» zu tun. Es waren vorab Arme und Ärmste, die das Land verlassen mussten. Sie verloren in der zunehmend privatwirtschaftlich betriebenen Landwirtschaft traditionelle Unterhaltsquellen wie die Nutzung der Allmend. Behörden von Kantonen und Gemeinden sahen in der Auswanderung das geeignete Mittel, um die Armenunterstützung zu entlasten. Sie versuchten deshalb, möglichst viele Arme, Kranke, Invalide, aber auch ehemalige Häftlinge, Prostituierte, Landstreicher und andere unliebsame Personen nach Übersee abzuschieben. Oft geschah dies durch Subventionierung der Ausreise, was wesentlich billiger war als die zu erwartende Armenunterstützung. Manchmal wurden auch Druckmittel eingesetzt. Die Aargauer Regierung schrieb 1854, für Arbeitsscheue sei das Leben in Amerika die beste, für Gemeinden und Kanton zugleich die billigste Zwangsarbeitsanstalt. Die rücksichtslose Auswanderungspolitik führte zu Klagen der US-Behörden. Die Gesetzgebung kam aber nur langsam voran. Immerhin durften nach dem Auswanderungsgesetz von 1880 völlig Mittellose nicht mehr ins Ausland spediert werden.

Neue Not und Vertreibung der Indigenen

Angesichts der aufwendigen Reise mussten sich Auswandernde organisieren. Zum Teil bildeten sie Vereine auf regionaler oder ideologischer Grundlage, um anfallende Probleme gemeinsam zu lösen. Gelegentlich schalteten sich Behörden ein, wie 1818 der Kanton Freiburg, der die Ausreise von 2000 Personen nach Brasilien finanzierte. Das Projekt endete in einem gewaltigen Desaster mit mehreren Hundert Toten bereits vor der Ankunft in der geplanten Kolonie. Die Reisebedingungen verbesserten sich allerdings im Laufe der Jahrzehnte. Die Organisation übernahmen zunehmend Auswanderungsagenturen. Die bedeutendste von ihnen, die Basler Firma Zwilchenbart, beschäftigte in der gesamten Schweiz Unteragenten, die meisten im Kanton Bern, nur wenige in der Romandie und im Tessin.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betraf etwa drei Viertel der Überseeauswanderung die USA, ein Zehntel Argentinien und ein Zwanzigstel Brasilien. Der Rest verteilte sich auf die übrige Welt. Briefe und Berichte schildern die Schwierigkeiten des Lebens unter völlig neuen Bedingungen. Wer schon in der Schweiz in Not lebte, landete nicht unversehens im Paradies. In einem Punkt schweigt die Überlieferung aber weitgehend. Die Auswandernden erschlossen nicht eine menschenleere Wildnis. Sie bevorzugten Gebiete, in denen seit Jahrhunderten Indigene Landwirtschaft betrieben, und diese mussten zuerst vertrieben werden. Neubesiedlung setzte Entsiedlung voraus. Der Bündner Pastor Oswald Ragatz ermöglicht einen der seltenen Einblicke in die Problematik. Er schilderte, wie in Wisconsin eine neue Siedlung in der Nähe eines Dorfes der Indigenen lag, wobei lange wenig Kontakt gepflegt wurde. «Aber zur gegebenen Zeit marschierten die Männer der Gemeinschaft gegen [die Indigenen] und befahlen ihnen, sich aus dem Staub zu machen. Schlussendlich taten sie es mit grossem Zögern.»1 Ohne dass der schweizerische Staat Kolonien besass, beteiligten sich viele seiner Bürgerinnen und Bürger an den Gräueln des Kolonialismus.

Ein Einwanderungsland

Auch nach den 1880er-Jahren zogen mit Ausnahme des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre im Jahresmittel mehrere Tausend Personen nach Übersee. Das Thema Auswanderung verlor aber zunehmend an Bedeutung, weil inzwischen die Einwanderung stark überwog. Die Schweiz wird nicht mehr als Auswanderungs-, sondern als Einwanderungsland wahrgenommen. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg der Ausländeranteil trotz grosszügiger Einbürgerungspraxis auf über 15 Prozent. Das stärkste Kontingent kam aus Deutschland, das zweitgrösste bis Ende der 1880er-Jahre aus Frankreich. Die Einwanderung aus Italien nahm massiv zu und zog bis 1910 mit der aus Deutschland gleich. Während die Auswandernden nie daran gedacht hatten, kulturelle Gepflogenheiten der neuen Heimat zu beachten, wurde dies bei den Einwandernden als selbstverständlich vorausgesetzt.

Bernard Degen

 

1 Das Zitat stammt ursprünglich aus einer regionalen historischen Zeitschrift von Wisconsin von 1935. Es wurde übernommen aus dem Buch «Von der Schweiz anderswo. Historische Skizze der globalen Präsenz einer Nation» von Leo Schelbert, Zürich 2019 (S. 208). Dort findet sich für Interessierte auch der Hinweis auf die ursprüngliche Quelle.

 


Bernard Degen

Dr. Bernard Degen (Jg. 1952) studierte Geschichte, Ökonomie und Soziologie in Basel und Paris. Er forscht und publiziert zur schweizerischen Wirtschaftsund Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem zu den industriellen Beziehungen. Er war Oberassistent an der Universität Bern und wissenschaftlicher Berater des Historischen Lexikons der Schweiz HLS. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Geschichte der Universität Basel.