Zwischen «oben» und «unten»

18. Sonntag im Jahreskreis: Kol 3,1–5.9–11 (Koh 1,2; 2,21–23; Lk 12,13–21)

Die Gemeinde von Kolossae befindet sich in einer Krise, in einer Krise, die seit bald 2000 Jahren andauert: Die Wiederkunft Christi ist angekündigt (Mt 24; 1Kor 15,20– 28), doch sie verzögert sich. Die endgültige Erlösung sollte eigentlich unmittelbar bevorstehen, doch nichts deutet darauf hin, im Gegenteil: Die Welt scheint unerlöster denn je. Wie geht der Verfasser des Kolosserbriefes mit diesem Dilemma um, das sich abzuzeichnen beginnt? Welche Orientierungshilfen bietet er Menschen, die in einer unvollkommenen Welt auf die vollständige Realisierung der Erlösung hoffen?

Der Kolosserbrief im jüdischen Kontext

Auf den ersten Blick vertritt der Verfasser des Kolosserbriefes eine sehr pessimistische Weltsicht: Er nutzt räumliche Vorstellungen, «oben» und «unten», um von der himmlischen und der irdischen Welt, um von der erlösten bzw. der unerlösten Welt zu sprechen. Das «Untere», «Irdische» wird dabei negativ bewertet, es stellt die fünf schlechten Eigenschaften dar, welche den Zorn Gottes herbeirufen (Kol 3,5–8): «Unzucht, Unreinheit, schändliche Leidenschaft und die Habsucht, die Götzendienst ist.» Die «himmlischen Eigenschaften» hingegen führen in die Nähe Gottes (Kol 3,12–14): «Herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld (...) über alles (...) die Liebe an, die da ist das Band der Vollkommenheit.» Ähnlich wie die frühjüdische Apokalyptik geht der Verfasser des Kolosserbriefes davon aus, dass es bereits jetzt eine zwar noch verborgene himmlische Wirklichkeit gibt, welche die irdische ersetzen wird. Diese beiden Wirklichkeiten existieren nicht zeitlich versetzt, sondern gleichzeitig. Der Apokalyptiker kann bereits im Hier und Jetzt Anteil an dieser himmlischen Welt haben, etwa durch Visionen oder Himmelsreisen. Christlich übersetzt bedeutet dies, dass die Christen bereits jetzt durch die Taufe Anteil an der Erlösung haben, obwohl diese noch nicht vollkommen realisiert ist. Die Grenzen zwischen «oben» und «unten», zwischen himmlischer und irdischer Welt sind also nicht «dicht».

Besonders spannend und relevant für die Zeit der noch nicht vollständig realisierten Erlösung – also der Zeit, in der wir leben – ist dieses Ineinandergreifen von himmlischer und irdischer Welt, das in unserem Text thematisiert wird. Unser Text drückt diese «Schnittstelle» u. a. durch ein Bild aus, nämlich durch das Bild vom An- und Ausziehen von Kleidern. Bereits in Kol 2,11 ist vom «Ablegen des fleischlichen Wesens» die Rede. Dieses Bild wird in Kol 3,9–14 mehrfach aufgenommen: Die Adressaten des Briefes haben «den alten Menschen» ausgezogen (Kol 3,9), sie haben den «neuen Menschen angezogen» (Kol 3,10), sie sollen «herzliches Erbarmen» sowie die übrigen Tugenden anziehen (Kol 3,12) und über alles «die Liebe, das Band der Vollkommenheit», anlegen.

Kleider schützen bekanntlich nicht nur vor Witterungseinflüssen und Nacktheit, sie drücken auch Identität und Zugehörigkeit aus. Kleider machen eben Leute – nicht nur vor 2000 Jahren in Kolossae, sondern auch heute, man denke nur an die Aufregung rund um das Kopftuch. Kleider als Metapher erscheinen denn auch nicht nur in den übrigen Paulusbriefen (z. B. Röm 13,14; Gal 3,27), sondern sie durchziehen die hebräische Bibel sowie die frühjüdische Literatur wie ein roter Faden. Ein paar Beispiele sollen das illustrieren, wenn auch einige der angeführten Texte wahrscheinlich nach dem Kolosserbrief entstanden sind.

Bereits in der Paradiesgeschichte spielen Kleider eine Rolle: So erkennen Adam und Eva nach dem Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis, dass sie nackt sind, und bedecken sich mit Feigenblättern (Gen 3,7). Vor der Vertreibung aus dem Garten Eden fertigt Gott für die beiden neue Kleider aus Tierhäuten (Gen 3,21). Gott gibt den Menschen dadurch einerseits Schutz, macht sie andrerseits aber durch die Felle den Tieren ähnlicher, nachdem sie zuvor als Herrscher über die Tiere eingesetzt worden waren (Gen 1,28). Auf jeden Fall markieren diese Kleider einen dramatischen Neubeginn für Adam und Eva. Das Anziehen von Kleidern kann denn auch die Übernahme einer neuen Aufgabe bedeuten: So soll Moses dem sterbenden Aaron die Kleider ausziehen und sie seinem Sohn Eleasear anlegen (Num 20,26). Bereits in der hebräischen Bibel wird der Begriff «Kleid» metaphorisch verwendet. So heisst es in Jes 59,17, dass Gott «Gerechtigkeit anzieht». Das Anziehen von neuen Kleidern kann den Wechsel einer Zugehörigkeit, den Übergang zu einer neuen Gruppe bezeichnen: Im hellenistisch-jüdischen Roman von «Joseph und Aseneth» zieht die Ägypterin Aseneth ein neues Kleid an, um ihren Übertritt ins Judentum zu markieren (JosAs 14,14 f.). Im slawischen Henochbuch wechselt Henoch – bevor er ins Paradies aufgenommen wird – zunächst die Kleidung: «Der Herr sagte zu Michael: Nimm Henoch und zieh ihm die irdische Kleidung aus (...) und bekleide ihn mit den Kleidern der Herrlichkeit» (slHen 22,8). Indem die Kolosser die christlichen Tugenden anziehen, realisieren sie daher – in den Worten des Henochbuches – ein Stück Paradies in dieser Welt. Einzig das Kleid der Zugehörigkeit zu Christ ist wichtig, andere Kleider und Zugehörigkeiten spielen vor diesem Hintergrund keine Rolle mehr (Kol 3,11).

Aus Kol 3,10 wird aber auch klar, dass dieses «Anlegen des neuen (eigentlich: jungen) Menschen» kein abgeschlossenes Ereignis darstellt – mit der Taufe ist es also nicht getan –, sondern ein Prozess ist: «der erneuert wird hin zur Erkenntnis nach der Massgabe des Urbildes dessen, der ihn erschaffen hat» (Kol 3,10). Trotz Unerlöstheit steht die Welt nicht still, Passivität wäre fehl am Platz. Die Unvollkommenheit der Welt soll nicht zu Hoffnungslosigkeit oder Gleichgültigkeit führen, im Gegenteil: Der Verfasser des Kolosserbriefes gibt konkrete Anweisungen, wie sich die Gemeindemitglieder zu verhalten haben. Er ist dabei optimistisch: Was er verlangt, kann die Gemeinde erfüllen, die Kolosser haben das Potenzial, ihr Leben im Horizont der himmlischen Verhältnisse zu gestalten.

Heute im Gespräch mit dem Verfasser des Kolosserbriefes

Viele heutige Leserinnen und Leser des Kolosserbriefes stossen sich vermutlich an der wertenden Einteilung in «oben» und «unten », an der Vertröstung auf eine himmlische ewige Welt, welche das Diesseits offenbar automatisch schlechtmacht. Diese Weltsicht stiess denn auch bereits in der Antike auf Kritik: So haben die Rabbinen die Gefahren der apokalyptischen Denkweise gesehen. Anders als in der Apokalyptik wird für die Rabbinen daher die irdische zur realen Welt: So ist es nicht mehr das himmlische Jerusalem, welches das irdische am Ende der Zeiten ersetzen wird, sondern umgekehrt ist es das irdische, welches Vorbild für das himmlische ist (vgl. Midrasch Tanhuma, Pekudê 1). Es ist ein Missverständnis, zu meinen, dass eine Orientierung an der «oberen» Welt die «untere» automatisch schlechtmache. Das Hereinnehmen des Paradieses in die jetzige, irdische und vergängliche Welt zeigt gerade, wie wichtig diese irdische Welt auch ist! Es geht nicht um eine Abwendung von der Welt, sondern um ein Hereinziehen der himmlischen Welt in den Alltag – in kleinen Schritten. Der Kolosserbrief macht dazu konkrete Vorschläge.

 

Simone Rosenkranz

Simone Rosenkranz

Dr. phil. Simone Rosenkranz ist nach dem Studium von Judaistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Luzern, Basel und Jerusalem als Fachreferentin an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Luzern tätig