Zweisame Zwiesprache

Papst Franziskus’ und Hans Urs von Balthasars verbeulte Kirche

Die alljährlich am 1. Advent in Einsiedeln stattfindenden Adventseinkehrtage, die der international bekannte Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar in den 1950er-Jahren begründet hat, waren auch im Jahr 2014 Anlass dazu, dessen theologisches Erbe aufleben zu lassen. Eingeladen durch eine neue Trägerschaft, ein Leitungsteam des Hans-Urs-von-Balthasar-Freundeskreises, das die Einkehrtage organisierte, hielt Pater Anton Štrukelj aus Slowenien, Dogmatikprofessor an der Universität Ljubljana und grosser von-Balthasar-Kenner, im Kloster Einsiedeln drei Vorträge, die Papst Franziskus und Hans Urs von Balthasar in einen Dialog brachten. Dabei ging er vor allem von dem durch Papst Franziskus geprägten Diktum der verbeulten Kirche (Evangelii gaudium 49) aus, welches auf die Beschädigung verweist, die die Kirche in der Begegnung mit einer ihr wohl- oder übelgesinnten Welt erleidet. Auf diese Verletzung und Verletzlichkeit der Kirche hatte Hans Urs von Balthasar schon früh ein genaues Auge geworfen und befasste sich unter der Überschrift "casta meretrix " (keusche Prostituierte) in mehreren Schriften mit dem Thema. Die gewagte Verbindung von zwei völlig entgegengesetzten Begriffen, welche ursprünglich von Ambrosius von Mailand zusammengefügt wurden, bezeichnet das Paradox, anhand dessen Hans Urs von Balthasar die Spannung zwischen der unverlierbaren Integrität der Kirche und ihrer Korruption verstehbar zu machen versucht hat. Papst Franziskus und den Schweizer Theologen in einen Dialog zu bringen, ist keineswegs abwegig, da beide als Jesuiten durch ignatianische Spiritualität und Lehre geprägt wurden. Es sind besonders zwei ignatianische Maximen, die in den folgenden Ausführungen, welche durch die Vorträge P. Štrukeljs an den Adventseinkehrtagen inspiriert wurden, die Geistesverwandtschaft der beiden Theologen aufweisen sollen: Das Suchen und Finden Gottes in allen Dingen und das Prinzip, dass Gott im Kleinsten ganz präsent sein kann und vom Grössten nicht umfangen wird.

1. Papst Franziskus: Die verbeulte Kirche und der Gang zu den Armen

Das Anliegen des Papstes in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" besteht nicht im Hinweis auf die Verbeulung der Kirche. Er tätigt diesen Ausspruch in einem Kontext, wo er davon spricht, dass ihm eine Kirche lieber sei, die beschmutzt und verletzt ist, weil diese es wagt, auf die Strassen hinauszugehen. Die Verbeulung der Kirche ist also ein Resultat der Begegnung mit der verunreinigten und gewalttätigen Welt, die an der Kirche nicht spurlos vorübergeht. Entscheidend ist also nicht der Hinweis auf die Verletzung der Kirche, sondern die Begegnung mit der Welt, die der Papst fordert: Die Kirche solle sich nicht in sich selbst verschliessen, in ihren Strukturen, Gewohnheiten und Normen. Das wirklich Sündige und dem Wesen der Kirche Widersprechende sei nicht die Verbeulung, sondern die Weigerung, auf alle nach Liebe Bedürftigen zuzugehen. Das positive Anliegen des Papstes ist die Gemeinschaft jedes einzelnen Gliedes der Kirche mit Jesus. Gemeinschaft heisst für ihn besonders Nachfolge Jesu, die darin besteht, ähnlich zu handeln wie Christus, und wirklich sein Leib zu sein. In einer Rede während dem Vorkonklave machte Kardinal Bergoglio deutlich, was Nachfolge Christi für ihn bedeutet: ein Evangelisieren der Welt, das sich in einem Aus-sich-heraus-Gehen äussert. Kirche ist der Leib Christi, insofern sie Gottes Präsenz in dieser Welt fühl- und sichtbar macht.

Nun ist die Kirche in diesem Gang zu den Armen nicht diejenige, die alles zu geben hätte und nichts zu empfangen, wie ein milder Wohltäter sich zum armen Mann auf der Strasse hinunterbeugt, um danach wieder in sein prunkvolles Haus zurückzukehren und sich dabei als besserer Mensch vorkommt. Vielmehr können wir mit Matthäus 25 davon ausgehen, dass es Christus selbst ist, der der Kirche in den Armen und Verlassenen entgegenkommt, wenn sie ihn nur lässt. Darauf hat auch Hans Urs von Balthasar besonders hingewiesen, indem er neben dem Bild der Kirche als Leib Christi auch die Analogie der Kirche als Braut Christi in seine Ekklesiologie aufgenommen hat.

2. Balthasars "Casta Meretrix"

Die Braut bedarf ihres Bräutigams, den sie in den Armen findet. Sie vereinigt sich mit ihm, indem sie sich ihm angleicht und dasselbe tut wie er. Seltsamerweise vereinen sich so die Perspektiven auf die Kirche als Leib und als Braut: Sie wird umso mehr zum Leib Christi, je mehr sie aus sich herausgeht, sich in Liebe hingibt für das Leben der Welt und Christus nachahmt, wobei diese Hingabe gerade dadurch geschieht, dass sie im Leben der Welt, im unreinen, beschmutzten und vielleicht kranken Anderen Christus findet und sich ihm hingibt. Die Verbeulung, die sie dadurch erleidet, macht sie paradoxerweise Christus nur noch ähnlicher, dessen Leib am Kreuz nicht nur Verbeulung, sondern Durchbohrung und Tod erleiden musste. Die erste ignatianische Maxime, das Suchen und Finden Christi in allen Dingen, stellt demzufolge das Bindeglied zwischen Leib- und Brautcharakter der Kirche dar. Jedoch stossen wir an diesem Punkt auf das Paradox der Kirche als "casta meretrix", worauf Balthasar oft hingewiesen hat: Welche Art der Hingabe kann gleichzeitig sowohl an die ganze Welt wie auch nur an einen Einzigen gerichtet sein? Die Lösung liegt vielleicht in einem biblischen Bild: Christi durchnagelter Leib hing zwar am Kreuz, aber seine Knochen, seine leibliche Integrität, blieben intakt. Die positive Hingabe der Kirche an die Welt ist keine Hingabe ohne Form, ohne Gesetz! Eine negative Hingabe, die sich nicht keusch an den Bräutigam allein richtet, sondern sich wahllos jedem anbiedert und sich für jeden verdrehen und brechen lässt, ist nicht eigentlich Hingabe, sondern Dirnendasein.

Dieser Art der Hingabe hat die Kirche auch gefrönt, obwohl dies ein grosser Skandal war und ist. Die Kirchenväter kamen nicht umhin, das alttestamentliche Bild der Dirne Jerusalem, die ihren Gott verlässt, um anderen Göttern anzuhängen, für die Veranschaulichung des ehebrecherischen Verhaltens der Kirche in Anspruch zu nehmen. Man braucht sich nur an die Schilderung im Buch Ezechiel zu erinnern, um zu sehen, wie hart sie mit der eigenen Kirche ins Gericht gingen, wenn sie solche Schilderungen auf sie anwendeten. Eine Sünde der Kirche war eigentlich undenkbar, und wenn es doch geschah, dann war der Skandal umso grösser, aufgrund des Kontrastes mit der unverlierbaren Reinheit der Kirche. Zuerst wird Sodom und Gomorrha vergeben, bevor der Kirche vergeben wird, weil sie Gott tiefer verletzen kann als die Städte, die fern von ihm sind. Diese Zusammenhänge hat H. U. von Balthasar tiefgründig untersucht. Es gibt also zwei sündige Extreme, die die Kirche vermeiden muss: selbstkonservierendes Insichselbst-Verharren, wie es Papst Franziskus anprangert, und wahllose Selbstanbiederung und Verprostituierung. Man könnte versucht sein, diese Möglichkeiten schlicht als die Wahl zwischen NichtHingabe und Hingabe zu schildern. Damit hätte man aber den Charakter der christlichen Hingabe völlig verkannt. Sie ist zwar katholisch im wahrsten Sinn des Wortes, alle Menschen umfassend, bleibt aber in dieser Weite immer auf den einen Bräutigam festgelegt, der alles umfasst. Hier dient das zweite grosse ignatianische Prinzip zur Veranschaulichung dessen, was gemeint ist: Gott wird vom Grössten nicht umfangen, ist aber in jedem Kleinsten ganz präsent.

3. Unverlierbare Heiligkeit der Kirche und ihre Sündhaftigkeit

Die Sünde der Kirche bzw. der einzelnen in ihr ist und bleibt jedoch ein Skandal. Besonders, wenn es die Amtsträger sind, die nicht Christus allein anhängen, sondern z. B. dem Mammon. Dass Papst Franziskus in einem Interview auf die Frage, wer er denn sei, zuerst die Antwort gibt: ein Sünder, zeigt, dass man die Sünde nicht reinlich aus dem Kirchenraum fernhalten kann. Es gibt zwar die sakramentale und hierarchische Struktur der Kirche, die Knochen des Leibes, die durch die Verbeulung und Sünde nicht gebrochen werden und als Stiftung Gottes unverlierbar heilig bleiben. Dennoch wird die Kirche durch die Sünde an ihrem Leib real verletzt und beschmutzt.

Schlägen von aussen ist sie heute nach der Schleifung ihrer Bastionen noch viel mehr ausgesetzt. Schläge, die früher vielleicht an den Mauern der Kirchenbastionen abprallten, treffen heute direkt auf lebendiges Fleisch, wie Balthasar so anschaulich schreibt. Letztlich sind es jedoch nicht die Schläge, die die Kirche abwehren muss, sondern die Sünde, die die Kirche von innen heraus zersetzen und hässlich machen kann. Für eine Braut, die auf das Wohlgefallen ihres Bräutigams aus ist, kann die eigene sündige Hässlichkeit eigentlich nur die Ablehnung ihres Bräutigams zur Folge haben. Die Kirche wird dann selbst zur Armen und Verlassenen, wie diejenigen, zu denen sie eigentlich gesandt wäre. Und wäre sie auch reich und hätte sie sich auch mit prunkvollen Bauten geschmückt, so wäre sie dennoch in ihrem Wesen arm und verlassen. Der äussere Prunk verbürgte nur ihre innere Armut und Fruchtlosigkeit. Wie Balthasar eindrücklich schildert, erlösen letztlich nur die unbegreifliche Güte und das Erbarmen Gottes, der sich dieser hässlichen Dirne wieder annimmt und sie wieder schön macht. Das ist auch Papst Franziskus bewusst, auf dessen Wappen der Wahlspruch "miserando atque eligendo" prangt: nur durch Erbarmen und Erwählen.

4. Maria als Urbild der Kirche

Es sind letztlich nicht die zwar notwendigen Knochen, die unverlierbar heiligen Strukturen, die den Leib am Leben erhalten, sondern das Schlagen eines lebendigen Herzens. Ohne ein pochendes Herz, ein inneres Leben, das dem göttlichen Bräutigam entgegenschlägt, sind die Knochen nutzlos. Das meinte Balthasar mit der Erhabenheit des marianischen Prinzips über das petrinische Prinzip. Nicht so, dass sich beide ausschliessen, sondern so, dass, realsymbolisch gesprochen, Maria für Petrus das Vorbild sein soll und er seine Aufgabe erst wirklich erfüllen kann, wenn er wie Maria das Wort passiv und im Gehorsam einer Magd aufnimmt. Erst aus diesem empfangenden Gehorsam heraus kann Gehorsam für Christus eingefordert werden, wenn Petrus selbst wie Maria gehorsam geworden ist. Die Wichtigkeit des Gehorsams bei Balthasar tritt vielleicht bei Papst Franziskus weniger hervor. Trotzdem scheint in seinen oftmaligen Aufforderungen an die Gläubigen, bei Gott für ihn zu beten, die Erkenntnis durch, dass das Befehlen in der Kirche zunächst von einem Empfang der Gnade und einem Horchen auf Gott abhängt. Ignatius hatte man häufi g für sein Wort vom Kadavergehorsam kritisiert. Wenn man ihn aber durch die Theologien Balthasars und des Papstes kontextualisiert, dann verliert der Begriff viel von seinem ursprünglichen Schrecken, weil dieser Gehorsam letztlich marianisch auf Gott selbst zielt, der die Gehorchenden frei macht. Eine fruchtbare Zwiesprache ergibt sich also, wenn man Papst Franziskus und den Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar nebeneinander hält und beide auf ihre ignatianischen Wurzeln hin befragt. 

Jonathan Bieler

Jonathan Bieler studierte reformierte und katholische Theologie an der Universität Zürich und in Washington DC (Dominican House of Studies, John Paul II Institute). Er ist Assistent für ältere Kirchengeschichte an der Universität Zürich und arbeitet an einer Dissertation zu Maximus dem Bekenner. Er ist ausserdem Leitungsbeauftragter des Hans- Urs-von-Balthasar-Freundeskreises und organisiert zusammen mit einem Leitungsteam die alljährlichen Adventseinkehrtage in Einsiedeln. Zum Freundeskreis vgl. www.balthasar-freundeskreis.ch Kontakt: