Zweimal Weihnachten

«Zweimal Weihnachten»: Matthäus-Krippe (links) und Lukas-Krippe (rechts).

Die «Entflechtung» der NT-Kindheitserzählungen Jesu als bibelpastorale Chance

Die Advents- und Weihnachtszeit ist eine Zeit intensiver bibelpastoraler Aktivitäten. In Krippenspielen, Familiengottesdiensten und bei vielen anderen Gelegenheiten werden mit liebevollem Aufwand und oft grosser Resonanz die Geschichten rund um die Geburt Jesu neu erzählt, gespielt, inszeniert. Religionspädagogik und Familienpastoral, Predigt und Liturgie leisten damit wichtige Beiträge zur Aktualisierung der biblischen Grundlagen unseres Glaubens. Die Weihnachtszeit ist zugleich Anlass für viele Medien, Wissenschaftsjournalisten und Kulturschaffende – von den Gratiszeitungen übers Fernsehen bis hin zu Planetarien –, die Erzählungen rund um die Geburt Jesu aus historischer Perspektive zu hinterfragen. In der Regel werden dann die üblichen, auch in der Exegese und Bibeltheologie diskutierten Fragen gestellt: Wurde Jesus wirklich in Bethlehem geboren – oder nicht eher in Nazareth? Ist der «Stern von Bethlehem» als astronomische Himmelerscheinung nachweisbar? Sind die Erzählungen vom Besuch der Hirten und der «Drei Könige» an der Krippe Berichte über historische Ereignisse, oder handelt es sich um fromme Legenden – oder besser: um Glaubensverkündigung und Christologie?

Seelsorgende und Religionspädagoginnen, Predigerinnen und Prediger geraten dann leicht ins Dilemma: Während die neutestamentlichen Kindheitsgeschichten in der Pfarrei und in Gottesdiensten häufig «unkritisch» neu erzählt werden, ohne den historischen Fragen grössere Aufmerksamkeit zu schenken, wird die biblisch-historische «Aufklärungsarbeit» von mehr oder weniger kompetenten Medien übernommen, deren Anliegen sich oft in einer allzu bibel-, glaubens- und kirchenkritischen Dekonstruktion der Erzählungen erschöpft. Das ist eine fatale Arbeitsteilung, die in weiten Teilen sowohl der kirchlich engagierten wie auch der breiten Öffentlichkeit den Eindruck erwecken muss, als seien Kirche und Aufklärung, Theologie und andere Wissenschaftszweige immer noch in den Kämpfen des 18. und 19. Jahrhunderts verfangen. Dies ist umso bedauerlicher, als die biblische Theologie und Exegese diesen Fragen auch in der römisch-katholischen Kirche zumindest seit der Enzyklika «Divino Afflante Spiritu» von 1943 konstruktiv begegnet. Biblische Theologie und Exegese haben seit vielen Jahrzehnten tragfähige Modelle entwickelt, um biblische Erzählungen sowie moderne und historisch-kritische Fragestellungen gleichermassen ernst zu nehmen.

Die Ergebnisse dieser biblisch-theologischen Grundlagenarbeit finden ihren Weg in die pastorale Praxis jedoch nur schwer. Es scheint bei Seelsorgenden und kirchlich engagierten Menschen nach wie vor auf Schwierigkeiten zu stossen, gangbare Wege zwischen Glaubensvertiefung und zeitgemässer Bibeltheologie, den vielfältigen Bedürfnissen nach Weihnachtsstimmung und historisch-kritischer Exegese im besten Sinne zu finden. Mit der Scheu, nicht zuletzt auch die «Wahrheitsfrage» biblischer Texte zeitgemäss zu stellen und kompetent zu beantworten, tun wir uns auf Dauer keinen Gefallen: Biblische Erzählungen werden dadurch, so hochgeschätzt sie in der Weihnachtszeit auch sein mögen, auf eine kirchlich-religiöse Sonderwelt reduziert, die mit dem Alltag der meisten Menschen nur wenig kompatibel ist. Zur religiösen Identitätsfindung haben sie dann nur noch wenig beizutragen. Sie verlieren spätestens mit der Pubertät an Relevanz und werden zu einer zwar vielleicht emotional positiv besetzten, aber doch musealen, heimelig-harmlosen Sonderwelt, die für die wirklichen Lebens- und Glaubensfragen der meisten Menschen irrelevant ist. Die neutestamentlichen Kindheitserzählungen sind aber – wie die biblischen Schriften ja überhaupt – weder harmlos noch heimelig. Im Folgenden sollen deshalb Ansätze für eine zeitgemässe Bibelpastoral rund um die Kindheitserzählungen skizziert werden.

Ein biblischer Glücksfall: Zwei Kindheitserzählungen bei MT und LK

In Vorlesungen und Bibelkursen mache ich öfters ein kleines Experiment. Ich bitte die Teilnehmenden zunächst, alle ihnen bekannten Elemente der Kindheitserzählungen (Stern, Stall, Hirten, «3 Könige», Kindermord usw.) zu sammeln. Das gelingt meist recht gut, auch wenn sich häufig Erstaunen einstellt, wenn die Rede z. B. auf Zacharias und Elisabeth (Lk 1), den Stammbaum Jesu (Mt 1) oder andere Texte kommt, die viele Menschen nicht direkt mit der Geburt Jesu in Beziehung setzen. Bei der nächsten Aufgabe breitet sich jedoch oft grosses Erstaunen aus: In welchem Evangelium (Matthäus oder Lukas) stehen eigentlich die jeweiligen Geschichten? Hier beginnt meist ein wildes Rätselraten, bei dem selbst biblisch gut belesene Menschen oft zum ersten Mal darauf aufmerksam werden, dass es nicht eine, sondern zwei Erzählungen von der Geburt Jesu gibt – und dass diese Erzählungen ausgesprochen verschieden sind. Drei wichtige theologische Grundpfeiler sind zwar in beiden Erzählungen gleich (Geburt in Bethlehem zur Zeit des Königs Herodes, Deutung der unerwarteten Schwangerschaft Marias durch einen Engel als Geistempfängnis, Abstammung von David und damit besondere Nähe zu messianischen Verheissungen). Doch gerade die besonders stark mit der «Weihnachtsfrömmigkeit» verbundenen Geschichten wie z. B. die Volkszählung des Augustus, die Geburt in einem Stall, der Besuch der Hirten, die Huldigung der Sterndeuter, die Flucht nach Ägypten, der Kindermord usw. sind jeweils ausschliesslich in einem der beiden Evangelien enthalten. Hier und da kommt es sogar zu unvereinbaren Unterschieden zwischen beiden Erzählungen: Matthäus geht davon aus, dass die Familie Jesu vor und bei der Geburt Jesu in Judäa/Bethlehem lebt und erst gut zwei Jahre später, nach der Flucht nach Ägypten und der Rückkehr nach dem Tod Herodes des Grossen nach Galiläa/Nazareth umzieht. Bei Lukas machen sich Josef und Maria hingegen bekanntlich anlässlich einer (historisch nicht nachweisbaren) reichsweiten Volkszählung des Augustus auf den Weg von ihrem Wohnort Nazareth zu ihrem (vorübergehenden) Aufenthaltsort Bethlehem, der so zum Geburtsort Jesu wird, und kehren nach etwa anderthalb Monaten nach Nazareth zurück. Dass Jesus bei Matthäus in einem «Haus» geboren wird bzw. zumindest kurz nach der Geburt dort aufzufinden ist (2,11) und dass die weitaus traditionsbildendere lukanische Krippe samt Windeln bei Matthäus keine Rolle spielt, ist demgegenüber schon fast marginal (und stellt auch bei pointiert historischem Interesse keine ernsthaften Probleme).

Solche Fragen und die Bedeutung der sehr spezifischen Akzente, die in den beiden Kindheitsgeschichten gesetzt werden, spielen in Katechese und Predigt in der Regel meistens keine Rolle bzw. werden bisweilen sogar als unnötig oder überkritisch abgetan. Wir haben uns unter dem Einfluss der liturgischen Gestaltung des Weihnachtsfestkreises und der Krippenspiele seit vielen Jahrhunderten daran gewöhnt, die Kindheitserzählungen «synoptisch-additiv» zu lesen und die Teilerzählungen dabei abschnittweise ineinanderzuschieben. Das führt im Bewusstsein der meisten Menschen zu etwa folgender Abfolge der – dann oft auch als historische Tatsachenberichte missverstandenen – Erzählungen ([datei12871]).

In dieser zu einer Erzählung zusammengeschmolzenen Form haben die Kindheitserzählungen grosse identitätsstiftende und kulturbildende Kraft entfaltet. Und trotzdem: Wer die matthäische Kindheitserzählung nur synoptisch-additiv zur lukanischen liest (und umgekehrt), verschenkt die enormen Chancen, die sich für Katechese und Bibelpastoral gerade dann eröffnen, wenn beide Texte in ihrer unterschiedlichen narrativen und theologischen Struktur als einzelne, in sich geschlossene und genau so sinnvoll konzipierte Glaubenserzählungen und christologische Bekenntnisse gelesen werden.

Die Kindheitserzählungen als Ouvertüren zum jeweiligen Evangelium

Bereits seit (mindestens) einem halben Jahrhundert werden Gattung und Charakter der Kindheitserzählungen nicht als historisch-biografischer Bericht, sondern z. B. als «Präludium»1 bestimmt, «in dem die Themen des nachfolgenden Corpus des Evangeliums bereits anklingen».2 «Der matthäische Prolog (…) ist eine vorweggenommene Jesusgeschichte in nuce und macht so auf die Gegenwartsbedeutung dieser Jesusgeschichte aufmerksam.»3 Was das für das Verständnis der so lieb gewordenen Texte konkret bedeutet, erschliesst sich leichter, wenn man einen Vergleich aus der Musik heranzieht: Die Kindheitsgeschichten sind «eine Art Ouvertüre, in der sich schon die Themen der eigentlichen Evangeliencorpora ankündigen».4

Dieses Bild jenseits theologischer Fachsprache lohnt eine Vertiefung: Wer die Ouvertüre einer Oper zum ersten Mal hört, hört einfach Orchestermusik. Wer die folgende Oper jedoch gut kennt und die Ouvertüre erneut hört, entdeckt darin Themen und Anspielungen auf musikalische und inhaltliche Höhepunkte der anschliessenden Oper. Und je tiefer sich einer Hörerin, einem Hörer die musikalische Verwobenheit der Ouvertüre mit der ganzen Oper erschliesst, desto irritierender wäre es, vor einer Aufführung von (beispielsweise) W. A. Mozarts «Zauberflöte» die Ouvertüre von G. Bizets «Carmen» zu hören. Grossartige Musik bieten beide Ouvertüren – doch als musikalisch sinnvolle Einleitung passen sie nur vor die jeweilige Oper. Geradezu grotesk wäre es schliesslich, wollte man mit den beiden Ouvertüren ähnlich umgehen, wie wir es mit den Kindheitserzählungen gewohnt sind: ein paar Takte «Zauberflöte», dann eine halbe Partiturseite «Carmen», nun wieder etwas «Zauberflöte» …

Auch wenn man einwenden mag, dass es sich beim Matthäus- und Lukasevangelium ja grundsätzlich um dieselbe (Jesus-)Geschichte handelt und die Unterschiede in den Ouvertüren deshalb weniger ins Gewicht fallen als bei «Carmen» und der «Zauberflöte», werden die Grenzen einer synoptisch-additiven Lektüre der Kindheitserzählungen an diesem Vergleich hinreichend deutlich. Die Tiefendimension und das christologische Kerygma der Kindheitserzählungen erschliessen sich erst im Zusammenhang mit dem dazugehörigen Evangelium. Hinzu kommt: Je klarer der Wert dieser theologisch-narrativen Verknüpfung für Verkündigung und Glaubensidentität erkannt wird, umso weniger Angriffspunkte hat eine oberflächliche Dekonstruktion der Kindheitserzählungen, die nur an der Frage nach historischer Wahrheit oder Bibelkritik interessiert ist. Ähnlich wie die Schöpfungserzählungen keine naturwissenschaftlichen Aussagen über die Entstehung der Welt machen, sondern von ihrem innersten Ursprung von Welt und Menschen sowie den Gründen für ihre Anfälligkeit erzählen wollen, möchten die Kindheitserzählungen keine historischen Details über die Geburt Jesu berichten, sondern ein narratives Bekenntnis zum eigentlichen, göttlichen Ursprung Jesu und seiner rettenden Bedeutung für die Welt bis in die Gegenwart hinein ablegen – und das zwei Generationen nach Ostern. Wort Gottes sind beide Erzählungen damit gerade auch in ihrer Verschiedenheit.

Matthäus: Jesus als neuer Mose – gesucht und gefunden von Heiden

Die Kindheitserzählungen des Matthäusevangeliums verwurzeln den Messias von den ersten Sätzen des Stammbaums an (Mt 1,1–17) tief in der Heilsgeschichte Israels. Der von Träumen geleitete, gerecht handelnde Josef (Mt 1,20–25; 2,13–15; 2,19– 21; 2,22 f.) lässt zudem an den ebenfalls träumenden Lieblingssohn des ersttestamentlichen Jakob denken. Und Jesus selbst wird von Matthäus bereits in seiner Kindheit als neuer Mose gezeichnet. Aus dieser Parallelisierung schöpfen die Mt-Erzählungen von der Flucht nach Ägypten, dem Kindermord und der Rückkehr nach Israel ihre theologische Tiefe: Jesus überlebt den Anschlag des Herodes als einziger männlicher Säugling – so wie auch schon sein geistiger Urahn aus dem Anschlag des Pharao gerettet worden war. Der Retter des ganzen Volkes – Moses wie Jesus – ist selbst von allem Anfang an ein Geretteter, Bewahrter, von Gott Erwählter. Später im Matthäusevangelium wird Jesus bei der Bergpredigt (s)eine Aktualisierung der Tora autoritativ verkünden (Mt 5–7) – so wie Mose die Tora vom Sinai verkündet hat.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Matthäus jedoch der Reaktion von Aussenstehenden auf Jesus (Mt 2,1–18): Während die jüdischen Autoritäten Jesus bereits früh verfolgen (Herodes) bzw. sich wenig für ihn interessieren (Priester), kommen die Heiden, symbolisiert durch die Sterndeuter, sogar von fern, um ihm zu huldigen. Das entspricht genau der Erfahrung der matthäischen Gemeinde zwei Generationen nach Ostern, in der diese Erzählungen über die Kindheit Jesu kursierten: Ihre jesus-messianische Predigt stiess bei nichtjüdischen Hörerinnen und Hörern in ihrem Umfeld auf grössere Resonanz als bei ihren jüdischen Schwestern und Brüdern, deren Voraussetzungen durch ihre Liebe zur Tora doch eigentlich viel besser waren. Der Messias Jesus ist somit der Messias nicht «nur» für Israel, sondern für alle Völker. Er ist eben «Sohn Davids, Sohn Abrahams», wie es schon in der Überschrift des Evangeliums heisst (Mt 1,1) – denn auch Abraham ist nicht «nur» Stammvater Israels, sondern in ihm sollen zugleich «alle Geschlechter der Erde Segen erlangen» (Gen 12,3). Was die Gemeinde als ihre aktuelle Realität erlebt, sieht sie schon im Beginn des Lebens Jesu vorgebildet.  

Lukas: Israels Heilsgeschichte und der Messias der Armen

Das Lukasevangelium setzt hier ganz andere Akzente. Auch Lukas verwurzelt Jesus zwar tief in der Heilsgeschichte Israels. Dabei werden jedoch Jerusalem und der Tempel unvergleichlich positiver gezeichnet als bei Matthäus. Die Verkündigung an Zacharias (Lk 1,5–25), aber auch die prophetische Rede Simeons und Hannas über Jesus (Lk 2,21–38) spielen sich im Tempel ab. Die Botschaft ist klar: Was hier in Jesus neu aufbricht, hat schon viel früher begonnen, nämlich mit der Erwählung Israels. Die messianische Zeit ist gewissermassen ein Geschenk (und eine Herausforderung!) Israels an die ganze Welt. Bis in die ersten Kapitel der Apostelgeschichte hinein bleibt der Jerusalemer Tempel die ehrwürdige Mitte der jesus-messianischen Bewegung. Daran kann auch der Widerstand, den Jesus später in sei nem Leben von Seiten jüdischer Autoritäten erfahren wird, nichts ändern.

Anders als in der matthäischen Kindheitserzählung ist Jesus bei Lukas von allem Anfang an der Messias der Armen. Die lukanische Erzählung vom Aufbruch der hochschwangeren Maria von Nazareth nach Bethlehem, die Geburt Jesu in einem Stall und der Besuch der Hirten haben bekanntlich mit heutigen Flüchtlingsgeschichten, z. B. von Eritrea und Syrien übers Mittelmeer in die Schweiz, weitaus mehr zu tun als mit einer durchschnittlichen mitteleuropäischen Weihnachtszeit. Diese Spannung ist jedoch nicht erst für uns heute herausfordernd, sondern sie war es schon genauso für die Gemeinde des Lukas. Lukas erzählt die pointiertesten Geschichten über Reichtum und Armut von allen Evangelisten. Die Gleichnisse vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–21) sowie vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,19–31) beispielsweise sind lukanisches Sondergut. Und wo der Mt-Jesus in der Bergpredigt sagt: «Selig die Armen vor Gott» (Mt 5,3), ergänzt Lukas: «Aber weh euch, die ihr reich seid, denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten» (Lk 6,24). Das zeigt: Die lukanische Gemeinde war offensichtlich in ihrem konkreten Zusammenleben in Fragen um Reichtum und Armut besonders herausgefordert. Die Erinnerung daran, dass Arme und Ausgegrenzte im Leben und in der Nachfolge Jesu eine zentrale Rolle spielten, führte dazu, auch von der Geburt Jesu Geschichten zu erzählen, die unmissverständlich deutlich machen: Jesus ist der Messias, auf den Arme und Menschen am Rande der Gesellschaft (Hirtinnen und Hirten) zuerst aufmerksam werden (genauer: von Gott aufmerksam gemacht werden!), ihn begrüssen, sich an ihm freuen. Denn Jesus ist der Messias, bei dem sie den ersten Platz haben – von Anfang an.

Die «pastorale Entflechtung» der Kindheitserzählungen als religionspädagogisches und bibelpastorales Projekt

Die Kindheitserzählungen enthalten unzählige weitere theologische und narrative Anspielungen auf die anschliessenden Evangelien. Die hier skizzierten groben Umrisse sind nicht mehr als die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Die einschlägigen Kommentare zum Matthäus- und Lukasevangelium sowie verschiedene beim Schweizerischen Katholischen Bibelwerk erhältliche Schriften (siehe Randspalte) geben Auskunft über die Details.

Der entscheidende Schlüssel für eine religions-pädagogische oder bibelpastorale Aktualisierung dieser biblisch-theologischen Zusammenhänge liegt in einer «pastoralen Entflechtung» der matthäischen und lukanischen Kindheitserzählung. Erst wenn die Eigenart und der Eigenwert der («nur») matthäischen bzw. («nur») lukanischen Erzählung in der Gemeinde zurückgewonnen wird, öffnen sich neue Türen für eine fruchtbare Aneignung der Texte, die dann auch weniger anfällig für historische Dekonstruktionen wird.

Konkret: Gleichermassen herausfordernd, spannend und innovativ wären zum Beispiel Krippenspiele, die in einem Jahr die matthäische und im nächsten Jahr die lukanische Kindheitserzählung als Grundlage nehmen – und zwar möglichst vollständig. So könnten die narrativen und theologischen Schwerpunkte der Kindheitserzählung mit den Schwerpunkten des jeweiligen Evangeliums verbunden werden. Im «Matthäusjahr» könnte es in der Aktualisierung z. B. um die Beziehung zu anderen Religionen heute gehen – und im «Lukasjahr» um den Messias der Armen. Doch das wären, wie erwähnt, nur die Spitzen der Eisberge. In beiden Kindheitserzählungen und beiden Evangelien liegen noch unzählige weitere Bezüge und Aktualisierungsmöglichkeiten bereit. Und wenn das «Matthäus-Krippenspiel» und das «Lukas-Krippenspiel» mit dem jeweils passenden liturgischen Lesejahr verbunden wird, ergeben sich daraus pastorale und homiletische Anknüpfungspunkte für ein ganzes Kirchenjahr.

Ein weiteres mögliches Handlungsfeld für eine «pastorale Entflechtung» der Kindheitserzählungen sind die Weihnachtskrippen. Viele Pfarreien haben ihre herkömmlichen Krippen, die meist wenig veränderbar sind, in den letzten Jahrzehnten durch «Schwarzenberger Figuren», «Egli-Figuren» u. ä. ersetzt. Diese Figuren bieten nahezu grenzenlose Möglichkeiten, im Advent und in der Weihnachtszeit nicht nur gleichbleibende, sondern auch wechselnde Szenen aus den Kindheitserzählungen und den dazugehörigen Evangelien zu stellen. So können ungeahnte, pastoral fruchtbare und dynamische Bezüge zwischen den Kindheitserzählungen, dem jeweiligen Evangelium – und natürlich unserem Leben heute geschaffen werden.

Beispiele dafür gibt es bereits: Das Katholische Bibelwerk in Stuttgart gestaltet seit einigen Jahren im Advent eine neue Krippe und macht die Bilder und die exegetisch-theologischen Hintergründe dazu online zugänglich (www.bibelwerk.de). Themen waren bereits der Stammbaum Jesu aus dem Matthäusevangelium (2011), die lukanischen «Lobgesänge über Jesus, den Retter» (2012) und die Kindheitserzählung aus dem Lukasevangelium (2013). Aktuell (2014) sind anlässlich der Familiensynoden 2014/15 im Vatikan gleich drei biblische «Heilige Familien» ausgestellt.

Auf einer Bibeltagung habe ich einmal Elmar Ittenbach kennen gelernt, der unter dem Titel «Zweimal Weihnachten» eine Matthäus- und eine Lukas-Krippe nebeneinander gestellt und mit biblisch-theologischen Erläuterungen ergänzt hat (siehe Foto). Das führt zu spannenden Gesprächen: Der Stern über der Matthäus-Krippe – gibts den tatsächlich nur in diesem Evangelium? Und der Engel, der  (nur) die Lukas-Krippe überschwebt – war da nicht auch etwas bei Matthäus …? Ganz nebenbei, aber auf den ersten Blick wird auch deutlich, dass Matthäus von der Geburt Jesu im Haus erzählt und nicht in einem Stall. Solche Krippen sind bibelpastorale Chancen, die ungezwungen in eine «entflochtene» Entdeckung der Kindheitserzählungen hineinführen und sichtbar machen, dass Kindheitsgeschichten narrative Christologien sind – und zwar im Plural.

Später hat Elmar Ittenbach seine Krippen noch um eine Markus- und eine Johannes-«Krippe» erweitert, in denen er den Prolog des jeweiligen Evange-liums gestaltet hat (siehe Foto rechts oben). Aus «Zweimal Weihnachten» kann so auch «Viermal Weihnachten» werden. Die liturgische Leseordnung macht das längst, indem sie z. B. als Weihnachtsevangelium am Tag den Johannes-Prolog vorsieht. Die göttlichen Anfänge Jesu liegen nicht nur in seiner Empfängnis, Geburt und Kindheit, sondern im Wirken Gottes durch die ganze Heilsgeschichte hindurch: in der Wüste, in der Aktualisierung des Exodus durch Johannes den Täufer (Mk 1,1–13), ja im Logos, im schöpferischen Wort Gottes, das von Anfang an bei Gott lebt und doch unter uns «gezeltet» hat (Joh 1,14).

Ein Glücksfall, dass die Bibel auf vier ganz verschiedene Weisen vom göttlichen Ursprung Jesu erzählt! Eine Verwechslung mit historischen Tatsachenberichten ist damit eigentlich ausgeschlossen. Es steht uns gut an und kann ein zeitgemässes Gespräch über Bibel und Glaubensfragen nur unterstützen, diese «Aufklärungsarbeit» nicht den Medien zu überlassen, sondern selber die Verantwortung dafür zu übernehmen. Bei der Konzeption von Projekten zur «pastoralen Entflechtung» der Kindheitserzählungen bietet die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks gerne Unterstützung (E-Mail ).

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Literaturhinweise

Themenhefte des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks, erhältlich an der Bibelpastoralen Arbeitsstelle SKB (http://www. bibelwerk.ch/d/shop; , Telefon 044 205 99 60):

  • Marlies Gielen: Geburt und Kindheit Jesu. Biblische und ausserbiblische Erzählungen. Stuttgart 2008;
  • Weihnachten (Welt und Umwelt der Bibel, Heft Nr. 46, 4/2007);
  • Geburt und Kindheit (Welt und Umwelt der Bibel, Heft Nr. 6, 4/1997);
  • Advent (Bibel heute, Heft 180, 4/2009);
  • Kindheitsgeschichten (Bibel heute, Heft 184, 4/2010);
  • Wie ist die Bibel wahr? Fakt und Fiktion in biblischen Texten (Bibel und Kirche, Heft 3/2013, 68. Jg.);
  • Die Ordnung der Sterne. Zwischen Faszination und Ablehnung: Astrologie und Astronomie (Welt und Umwelt der Bibel, Heft Nr. 74, 4/2014);
  • Kindgötter und Gotteskind (Welt und Umwelt der Bibel, Heft Nr. 58, 4/2010).

 

 

1 Heinz Schürmann, Das Lukasevangelium. Erster Teil. Kommentar zu Kapitel 1,1-9,50, Freiburg 1984, S. 18 (Erstausgabe 1969).

2 Helmut Merklein, Die Jesusgeschichte – synoptisch gelesen, Stuttgart 1995, S. 37 (zu Mt 1f).

3 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband (Mt 1–7), Düsseldorf 52002, S. 123. Inhaltlich ähnlich bereits in der Erstauflage von 1985.

4 Helmut Merklein, Die Kindheitsgeschichten der Evangelien, in: Welt und Umwelt der Bibel Nr. 6 (4/1997), 20-28, S. 21. Vgl. auch Willibald Bösen, In Betlehem geboren. Die Kindheitsgeschichten der Evangelien, Freiburg 1999, S. 28–31.


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.