«Rechtfertigung ist nie ohne Heiligung. Genauer, sie ist nichts ohne Heiligung.»1 Während katholischen oder reformierten Theologinnen und Theologen diese Sätze – konfessionell je unterschiedlich akzentuiert – recht leicht über die Lippen gehen, brauchte es auf lutherischer Seite bald 450 Jahre, bis sie so klar formuliert werden konnten. Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde im Luthertum die Heiligung des Menschen gegenüber seiner Rechtfertigung stiefkindlich behandelt.
Rechtfertigung ohne Wirkung
Warum? Man wollte «das spezifisch Evangelische» – die voraussetzungslose Rechtfertigung des Menschen aus Gnaden und durch Glauben allein – schützen. Schützen und abgrenzen gegen ein Missverstehen guter Werke als Selbstrechtfertigung des Menschen vor Gott. Aus dieser «Besorgnis um das Evangelium» geriet man aber in ein «Ausweichen vor der eindringlichen Mahnung des Evangeliums», dass der rechtfertigende Glaube gute Werke, d. h. gerechtes Handeln einschliesst.2 Glaube und Handeln wurden beinahe voneinander getrennt. Auf das Leben der Christinnen und Christen musste sich ihre Rechtfertigung kaum mehr auswirken. Sündige tapfer! Dabei bestand Martin Luther selbst darauf, «das da keyn glawb sey, wo nicht gutte werck sind».3 Doch Luthers Freiheit eines Christenmenschen wurde bald lutherisch organisiert, verbürgerlicht. Sein Leben wurde strukturiert durch Ordnung, Stand und Beruf. Dass die evangelische Freiheit von ihm aber ein Handeln «auch gegen Beruf und Auftrag» (Bonhoeffer) einfordern kann,4 blieb zunehmend unberücksichtigt.
Zu den lutherischen Grundeinsichten, die im 16. Jahrhundert sogar Bekenntnisrang erhalten haben, zählt eigentlich: Allein durch Glauben, der Glaube aber nie und zu keiner Zeit allein.5 Glaube ist nie ohne Handeln. Rechtfertigung ist nie ohne Heiligung. Diese Grundeinsicht wurde zum «Stiefkind» – und die lutherische Rechtfertigungslehre damit ethisch «ungefährlich, das heisst wirkungslos».6 Während des Nationalsozialismus wurde das offenbar: das deutsche Luthertum konnte (und wollte) Hitler theologisch wenig entgegensetzen.
Rechtfertigung und Heiligung
Dietrich Bonhoeffer hat die ethische Wirkungslosigkeit der lutherischen Rechtfertigungslehre kritisiert. Bereits vor dem ethischen Ernstfall, der mit der Machtübernahme Hitlers eingetreten ist, beginnt er sie zu korrigieren, indem er die Rechtfertigung des Menschen und seine Heiligung neu aufeinander bezieht. Am deutlichsten äussert sich Bonhoeffer dazu dann im Kirchenkampf, als in der gleichgeschalteten Reichskirche «die Botschaft von dem allein rettenden und erlösenden Glauben erstarrte, ein totes Wort wurde, weil sie nicht lebendig gehalten wurde durch die Liebe».7 In dieser Zeit entsteht sein Buch «Nachfolge», das 1937 veröffentlicht wird. Es war ein Widerstandsbuch für die Bekennende Kirche damals und es ist der zentrale Text heute, wenn nach Bonhoeffers Verhältnissetzung von Rechtfertigung und Heiligung gefragt wird.8 Wenn nicht anders angegeben, stammen die nachfolgenden Zitate aus der «Nachfolge».
Bonhoeffer bestimmt die Nachfolge Christi als Existenzform der Christinnen und Christen, die sich ausdrückt in ihrem Glauben und ihrem Gehorsam. Im Glauben anerkennen sie die Gerechtigkeit Gottes, die am Kreuz Jesu die Sünde verurteilt und bestraft, aber die Sünder – sie selbst – verschont. Verschont, da Jesus – Gott selbst – «an seinem Leib unsere Sünde ans Holz getragen» hat. Sie anerkennen, «dass Gott allein gerecht ist» und «gerecht bleibe[n muss] vor sich selbst» und darum ihre Sünde ernstnehmen und verurteilen muss. Das ist Bonhoeffer wichtig: der Glaube als die Anerkennung des Kreuzes «als Urteil, das über uns als Sünder ergangen ist». Bonhoeffer stellt sich gegen «alle […] falschen Gedanken über die Liebe Gottes, der die Sünde nicht so ernst nimmt», wie er an anderer Stelle schreibt.9 Er fragt: Wenn Gott die Sünde nicht ernstnehmen würde, warum sollte der Mensch es tun? Das Luthertum aber nehme die Sünde nicht ernst. Es habe ein Verständnis der die Sünder verschonenden Liebe Gottes als «billige Gnade» entwickelt, das zur «Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders» führt. Der Glaube an diese billige Gnade wird im Leben des Menschen nicht allein ethisch, sondern viel grundsätzlicher, nämlich existenziell wirkungslos bleiben. Der Mensch wird seine Rechtfertigung nämlich als «prinzipielle Voraussetzung» annehmen und «im voraus die Rechtfertigung meiner Sünden, die ich in der Welt tue», erwarten. Sündige tapfer! Denn: «Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, dass die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist.» Bonhoeffer meint: Der Zuspruch des Evangeliums für die Menschen werde lauter verkündigt als der Anspruch des Evangeliums an sie. Nicht wenige Christinnen und Christen beanspruchten daher für sich: «Ich bleibe daher in meiner bürgerlich-weltlichen Existenz wie bisher, es bleibt alles beim alten.»
Bonhoeffer korrigiert das Missverständnis der Rechtfertigungslehre als Lehre von der billigen Gnade, indem er ihm die Einheit von Glauben und Gehorsam gegenüberstellt. Für ihn ist der Gehorsam nicht etwas Zweites, das – vielleicht – zum Glauben hinzutritt, sondern Glaube und Gehorsam bilden vielmehr darin eine Einheit, «dass Glaube nur im Gehorsam existiert, niemals ohne Gehorsam ist, dass Glaube nur in der Tat des Gehorsams Glaube ist». Glaube und Gehorsam sind von Bonhoeffer als gleichursprünglich gedacht im Handeln Gottes in und durch Jesus Christus. Und sie sind als gleichgewichtig gedacht.10 Nach Bonhoeffer rechtfertigt allein der Glaube, der existenziell und ethisch wirkungslos – und d. h. ohne Gehorsam – bleibt, den Menschen nicht. In einem späteren Text schreibt er, dass der Glaube «niemals rechtfertigt, wenn Liebe und Hoffnung nicht bei ihm wäre».11 Das erinnert an Luther: Da ist kein Glaube, wo nicht gute Werke sind.
Nicht erst angesichts des ethischen Ernstfalls, aber da besonders, ist Bonhoeffer davon überzeugt, dass man Luther «nicht verhängnisvoller [missverstehen konnte] als mit der Meinung, Luther habe mit der Entdeckung des Evangeliums der reinen Gnade einen Dispens für den Gehorsam gegen das Gebot Jesu in der Welt proklamiert». Glaube und gerechtes Handeln sind nicht voneinander zu trennen. Im Leben der Christinnen und Christen muss ihre Rechtfertigung eine Rolle spielen. Bonhoeffer schreibt an anderer Stelle: «Nachfolge Christi […] ist nicht erschöpft in unserem Begriff des Glaubens.»12 Nachfolge ist auch ein «Schritte tun», ist ein «bewusstes, verantwortliches Wandeln».13
Rechtfertigung und Widerstandskraft
Bonhoeffer hat gewusst, dass Rechtfertigung nie ist ohne Heiligung. Durch seine Korrektur gewinnt die lutherische Rechtfertigungslehre ihre existenzielle Bedeutung und ethische Wirkmächtigkeit zurück. Sie gewinnt angesichts des ethischen Ernstfalls damals und der ethischen Ernstfälle heute nicht zuletzt auch die ihr eigene Beharrungs- und Widerstandskraft zurück, die sie «gefährlich» werden lässt für die Diktatoren der Vergangenheit und die Despoten der Gegenwart.
Denn ihr Glaube und ihr Gehorsam binden Christinnen und Christen allein an Jesus Christus; ihm allein folgen sie nach. Darum werden sie anderen «Mächten, Gestalten und Wahrheiten» widerstehen, wie die Barmer Theologische Erklärung von 1934 – ein Text, der Bonhoeffer sehr wichtig war – formuliert. Einer ihrer Kernsätze lautet:
«Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.»14
Christinnen und Christen verschanzen sich nicht in ihrer bürgerlich-weltlichen Existenz. Sie hören das Evangelium je und je als Zuspruch und Anspruch zugleich. Ihre Rechtfertigung erfahren sie immer als ihre Heiligung. Darum muss – und darum wird! – nie alles beim Alten bleiben in dieser Welt.
Dominik Weyl