Zunehmende Belastung für das Milizsystem

Die Herausforderungen für eine «Kirche von morgen» betreffen zwar in erster Linie den pastoralen Bereich, aber die staatskirchenrechtlichen Körperschaften bleiben davon nicht unberührt.

Die vor allem in den Bistümern Basel und St. Gallen flächendeckend geschaffenen Pfarreiverbände verlangen von den Kirchgemeinden eine verbindliche Zusammenarbeit zur Finanzierung der neuen Strukturebene. Am häufigsten wird die Zusammenarbeit mittels eines Vertrags sichergestellt; dabei handelt es sich in der Regel um einen Verwaltungsvertrag (öffentlich-rechtlicher Vertrag), wobei die Bestimmungen über die einfache Gesellschaft gemäss Art. 530 ff. OR sinngemäss anzuwenden sind. Der Kostenteilschlüssel wird vielfach im Verhältnis zur Mitgliederstärke festgelegt oder im Verhältnis zur Steuerkraft oder in einer Mischform. Die Verträge sind eine probate Form, solange der grössere Teil des Personals weiterhin über die einzelnen Kirchgemeinden angestellt und finanziert wird.

Wenn jedoch der Hauptteil der Kirchensteuermittel auf der übergeordneten Ebene aggregiert wird, weil der Pfarreiverband mehr Personal- und Sachaufwand generiert als die Pfarreien, so zeigt sich die Schwäche dieser Rechtsform: Diesem Konstrukt fehlt die demokratische Legitimation. Wenige Behördenmitglieder bestimmen quasi im Alleingang über ein grosses Budget. Je nach Vertragsgestaltung und Rechtsrahmen stellen die über den Kostenteilschlüssel entstehenden Aufwendungen für die einzelnen Kirchgemeinden nämlich gebundene Ausgaben dar. Diese schränken die Entscheidungsfreiheit der Kirchgemeindeversammlungen bei der Budgetierung ein. Falls die Kosten des Pfarreiverbands für die einzelnen Kirchgemeinden keine gebundenen Ausgaben darstellen, so wird die Budgetfreiheit dennoch erschwert, da in der Regel geeignete Differenzbereinigungsverfahren fehlen, mit denen ein von der Vorlage abweichender Beschluss einer einzelnen Kirchgemeinde aufgefangen werden könnte. Es darf aber festgehalten werden, dass sich bislang im Alltag nur selten Schwierigkeiten dieser Art zeigen.

Fusionen setzen Vertrauen voraus

Fusionen von Kirchgemeinden sind in der Schweiz bislang bei rund 40 Prozent der kantonalkirchlichen Körperschaften ein Thema; diese verfügen über rechtliche Grundlagen für die Verfahren und bieten in der Regel Beratungsleistungen und finanzielle Anreize, wie eine Umfrage von Marcel Notter, Generalsekretär der Aargauer Landeskirche, im Sommer 2019 bei den katholischen Kantonalkirchen ergab.1

Im Kanton Thurgau wurden in den Jahren 2011 bis 2019 neun Fusionsprojekte von katholischen Kirchgemeinden realisiert. Die Zahl der Kirchgemeinden verringerte sich in der Folge um 30 Prozent, von 54 auf 38. Der Endpunkt der Fusionsbewegung ist noch nicht erreicht. Die Pfarreien wurden dabei deutlich weniger häufig vereinigt: Ihre Zahl reduzierte sich im selben Zeitraum von 56 auf 48, was einer Reduktion von knapp 15 Prozent entspricht.

Einige Beobachtungen zu den Kirchgemeindefusionen im Kanton Thurgau: Fusioniert haben nur Kirchgemeinden, die zu einem Pastoralraum mit dem Führungstyp B gehören. Im Bistum Basel bedeutet dies, dass nur noch ein Seelsorger die Pfarreien im Pastoralraum leitet. Kirchgemeinden innerhalb eines Pastoralraums mit dem Führungstyp A, bei dem weiterhin drei oder mehr Seelsorgende die Pfarreien leiten, haben spürbar kein Interesse an einer Fusion. Dies verdeutlicht auch den tieferen Grund für die Fusionen: Dieser besteht im Bewusstsein, dass eine eigenständige pastorale Arbeit innerhalb der eigenen Pfarrei- und Kirchgemeindegrenzen in Zukunft nicht mehr möglich sein wird. Wer sich für die Mitarbeit in einer Kirchgemeindebehörde zur Verfügung stellt, will in aller Regel mitgestalten. Und zwar die Kirche mitgestalten – nicht bloss Gebäude unterhalten. Dieses Mitgestalten wird für kleine Kirchgemeinden in den grösseren werdenden pastoralen Einheiten schwierig. Interessanterweise bedurfte es meist eines zusätzlichen Auslösers, damit die Fusion in Gang kam; dieser bestand nicht selten darin, dass altgediente Behördenmitglieder aufhören wollten und keine Nachfolge fanden; auch das Erfordernis, die Buchhaltungen auf den neuen Rechnungslegungsstandard HRM22 umzustellen, wirkte als Anstoss, oder eine Änderung bei der Berechnung des Finanzausgleichs. Eine ganz wesentliche Voraussetzung, damit die Idee einer Fusion wirksam wurde, stellte das gegenseitige Vertrauen der Kirchgemeindebehörden dar: In diesem Vertrauen, dass das Gegenüber einem gut will, lässt sich der Verlust der Eigenständigkeit besser ertragen.

Differenzierung in der Fläche

Was kommt nach den Pastoralräumen? Wahrscheinlich ist, dass diese in Zukunft zu noch grösseren Einheiten fusioniert werden. Statt das immer spärlicher werdende Personal auf immer grössere Flächen zu «verteilen» und den Anschein zu erwecken, als ob alle Orte in gleichberechtigter Form ihren (immer kleiner werdenden) Anteil an der pastoralen Obsorge erhielten, könnte die pastorale Arbeit differenziert auf Orte aufgeteilt werden. Es gäbe einige wenige Zentren für liturgische und sakramentale Dienste, aber an anderen Orten gäbe es kirchliche Familienarbeit, Sozial-, Bildungs-, Migranten- und Jugendarbeit. Ansätze in diese Richtung existieren bereits (z. B. in der Stadt Luzern). Ob es in einzelnen Diözesen in diese Richtung gehen wird, lässt sich noch nicht vorhersehen. Die Frage sei aber bereits erlaubt, was ein solches Pastoralmodell für die staatskirchenrechtliche Struktur bedeuten würde. Eine Differenzierung in der Fläche hätte zur Folge, dass eine neue Zuordnung der staatskirchenrechtlichen zur kanonischen Struktur gesucht werden müsste. Eine Vielzahl unterschiedlicher pastoraler Einheiten würde einer Vielzahl von Kirchgemeinden gegenüberstehen. Lösbar wäre diese Herausforderung, indem jede Kirchgemeinde die Verantwortung für die Unterstützung der pfarreilichen Schwerpunkte vor Ort trüge und zugleich über einen Ausgleichsmechanismus die finanziellen Belastungsunterschiede mitfinanziert würden. Eine andere Variante besteht in der Bildung grossräumiger Kirchgemeindeverbände, die die Kirchensteuererträge aller Kirchgemeinden ag- gregierten und daraus die Personaladministration und Infrastrukturaufgaben besorgten, während den örtlichen Kirchgemeinden im Rahmen eines zugewiesenen Kredits die überschaubare Verantwortung für die Aktivitäten vor Ort bliebe.

Zukünftig freie Wahl der Kirchgemeinde?

Die katholische Kirche kennt das Parochialprinzip. Demnach ist für jeden Gläubigen eine bestimmte Pfarrei zuständig. Diesem Parochialprinzip entspricht in der staatskirchenrechtlichen Struktur die Mitgliedschaft in der Kirchgemeinde des Wohnorts. Der Individualismus und die Mobilität rütteln in zunehmenden Mass am Parochialprinzip. Jene Gläubigen, die die Nähe zur Kirche suchen, treffen häufig eine freie Wahl: Wo fühle ich mich zu Hause? Wo passen mir die Seelsorgenden? Bei der Wahl des Gottesdienstortes sind die Gläubigen ohnehin frei. Auch für das Engagement im Kirchenchor oder in der Frauengemeinschaft spielt der Wohnort nicht wirklich eine Rolle. Aber auch bei den Kasualien, für die das Parochialprinzip eigentlich geschaffen wurde, geben sich die Seelsorgenden vielfach verständnisvoll. Die Kirchgemeinden neigen hingegen dazu, die Benutzung der Kirche durch «Auswärtige» in Rechnung zu stellen. Die Gläubigen, die ihre Kirchensteuer im Sinn eines «umfassenden Service-Vertrags» mit der katholischen Kirche verstehen, reagieren irritiert oder konsterniert, wenn sie eine Rechnung erhalten für die Taufe oder die Eheschliessung ausserhalb ihrer Kirchgemeinde.

Zwei evangelisch-reformierte Landeskirchen haben bislang rechtliche Grundlagen geschaffen, um sogar eine freie Wahl der Kirchgemeinde zu ermöglichen. Bislang überwiegt aber allgemein noch die Einschätzung, dass der administrative Aufwand für eine freie Wahl der Kirchgemeinde in einem ungünstigen Verhältnis stehe zum geringen Wechselinteresse. Für katholische Landeskirchen ist die freie Wahl der Kirchgemeinde bislang kein Thema gewesen, wahrscheinlich wegen der offiziellen Geltung des Parochialprinzips.

Komplexer werdende Strukturen

Das Staatskirchenrecht mit seiner starken Stellung der (autonomen) Kirchgemeinden ist weniger flexibel als das kanonische Recht, in dem die Pfarreien keineswegs sakrosankt sind.3 Dennoch vermag sich bislang die staatskirchenrechtliche Struktur den Herausforderungen gut anzupassen. Spürbar wird jedoch die Gefahr, dass die komplexer werdenden Strukturen (Kirchgemeindeverband) und die grösser werdenden Kirchgemeinden (Fusionen) das Milizsystem vom zeitlichen Aufwand und von den geforderten Fähig- keiten her belasten. Die Managementisierung und Verbürokratisierung der Kirchgemeinden kann zum Stolperstein für das bis anhin sehr wertvolle Milizsystem werden.

Urs Brosi

 

1 Die Publikation der Ergebnisse steht noch aus.

2 HMR2 ist ein harmonisiertes Rechnungslegungsmodell, das in den politischen Gemeinden, den Schulgemeinden, den Zweckverbänden und Anstalten in der Schweiz in den letzten Jahren eingeführt wurde.

3 Vgl. das «oder» [lat. seu] in can. 374 § 1 CIC.

 


Urs Brosi

Urs Brosi (Jg. 1965) studierte Theologie und kanonisches Recht in München, Luzern, Rom und Münster. Er ist seit November 2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und Dozent für Kirchenrecht im Studiengang Theologie des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts.

 

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