Zürich: KirchGemeindePlus

Die reformierte Kirche steht wie die katholische in der Schweiz mitten in Umstrukturierungsprozessen. Die SKZ fragte bei den Ratspräsidenten dreier Landeskirchen nach den gegenwärtigen kirchlichen Entwicklungen. Im Folgenden Michel Müller aus Zürich.

500 Jahre nach der Zürcher Reformation werden für deren Erben grundlegende Herausforderungen erkennbar: In einer multireligiös und zugleich säkular gewordenen Gesellschaft hat die reformierte Kirche schon länger die Mehrheit verloren; die ehemalige Staatskirche ist zur (grössten) Minderheit geworden. Mit kantonal über 400 000 Mitgliedern ist sie noch immer eine beachtliche Organisation, aber weil sie seit Jahrzehnten dem Gefühl des Kleinerwerdens ausgesetzt ist und weil sie sich in der Wachstumsphase aufgesplittert hat in viele Gemeinden und Funktionen, kann sie ihre eigentliche Grösse nur ansatzweise umsetzen.

Es ist umstritten, wie die Gründe für diesen Mitgliederschwund verstanden werden sollen. Wahrscheinlich spielen verschiedene Ursachen zusammen eine Rolle, auch wenn bei der Lösungssuche oft eindimensional vorgegangen wird. So behaupten die einen etwa, nur mit dem richtigen Glauben werde eine lebendige Kirche oder Gemeinde erhalten oder gar neu erschaffen. Dieses Rezept der spirituellen Erweckung, das zur «Beteiligungskirche» führt, keimt seit Jahrhunderten immer wieder auf und bildet den einen Strang der Reformationsgeschichte Zürichs. Religionssoziologisch gerechnet wird davon aber nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung ergriffen. Eine Parochialgemeinde allerdings, in der man Mitglied ist, weil man dort wohnt bzw. schläft, lässt sich nur selten von einer Minderheit religiös dominieren. Es widerspricht auch dem Auftrag der «Volkskirche», die für alle da zu sein hat. Dieser wird von den anderen hochgehalten, indem mit einer weiterhin möglichst starken Anlehnung an den Zürcher (Wohlfahrts-)Staat die Kirche sozial nützliche und anerkannte und teilweise unersetzliche Dienstleistungen übernimmt und sich zugleich an die staatlichen Organisationsbedingungen anlehnt. Der Preis dieser öffentlichen Domestizierung ist zwar ein religiös unscharfes Profil als «Volkskirche», die Chance aber ein grosses kollektives Vertrauen der Gesellschaft trotz schwindender individueller Unterstützung. Dieses staatsnahe System einer «Betreuungs-» oder «Dienstleistungskirche» ist der andere Strang der Zürcher Reformationsgeschichte. Freilich: Ohne persönliches, sprich freiwilliges Engagement im Millionenstundenumfang und ohne professionell und qualitativ hochstehende Anleitung ist diese Glaubwürdigkeit nicht zu bewahren. Und damit verbinden sich die beiden Stränge:

Inneres Engagement, bewegte Gemeinschaft und religiöse und soziale Dienstleistungen brauchen einander wechselseitig als Fortsetzung der spezifischen Zürcher Kirchengeschichte.

Der Zürcher Kirchenrat ist, ausgelöst und getragen von Vorstössen in der Kirchensynode, seit einigen Jahren daran, diesen «Zürcher Weg» weiterzuentwickeln und mit Behörden und Mitarbeitenden umzusetzen. Der Reformprozess heisst «KirchGemeindePlus». Er fasst konsequent alle Vorteile der Zürcher Situation zusammen und erwartet dadurch Synergieeffekte im strukturellen und Innovationseffekte im spirituellen Bereich. Er ist damit ein «dritter Weg», der nicht in Alternativen denkt, etwa inhaltlich gegen strukturell, lebendig-fromm gegen distanziert-volkskirchlich oder auch Gemeinde gegen Landeskirche. Das bedeutet konkret: Der religiöse, sozial- und seelsorgliche Service public wird in der Fläche etwas ausgedünnt, Mehrspurigkeiten müssen abgebaut werden, nicht ohne mit geschickten Massnahmen das Gefühl der Nähe und der Verlässlichkeit aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig sollen dadurch Freiräume entstehen, etwa freie Arbeitszeit der Pfarrpersonen und neue Stellen in den Bereichen Diakonie und Kirchenmusik, um die spirituellen und gemeinschaftlichen Erwartungen der Mitglieder vermehrt und vielfältig aufzunehmen. Initiativen von Mitgliedern und Gruppen können aufgenommen werden, ohne gleich die ganze Gemeinde davon bestimmen zu lassen. Eine Einheit in Vielfalt, eine polyzentrische Gemeinde ist das Leitbild. Die negative Dynamik eines stetigen Kleinerwerdens und Sparenmüssens kann so in ein Wachstumsgefühl gekehrt werden.

Unter dem Eindruck, dass «weiter so» nicht geht, entschloss sich deshalb in verschiedenen Gemeinden die Stimmbevölkerung zu Grossreformen, allen voran in der Stadt Zürich, aber auch in verschiedenen Agglomerations- und Landgebieten. Zwar ist noch nicht die Mehrheit der Gemeinden von der Fusionswelle erfasst, aber mindestens eine derart qualifizierte Minderheit, dass daraus Erfahrungen gewonnen und wissenschaftlich ausgewertet werden können. Diejenigen Gemeinden, die jetzt begonnen haben, machen vielleicht Anfangsfehler, profitieren aber umgekehrt davon, dass sie zusätzliche Res- sourcen erhalten, um den Übergang innovativ und sorgsam zu gestalten. Reformierte Kirche kann eine lernende Organisation sein! Wer dagegen später kommt, wird eher von der absehbaren Not unter Druck gesetzt handeln müssen. Warten erhöht den Handlungsspielraum kaum, obwohl gerade das paradoxerweise der Grund dafür zu sein scheint.

Solches Abwarten ist damit eines der Risiken, die diesen Reformprozess verzögern, weil er wegen der traditionell protestantisch-antihierarchischen Leitungsstruktur nicht zentral gesteuert werden kann. Ein weiteres Klumpen- risiko ist die infrastrukturelle Überlast, entstanden in Zeiten des Mitgliederwachstums einer Staatskirche, nun aber den Anforderungen der Denkmalpflege ausgesetzt, die oft bedürfnisorientierte, aber auch ökologisch und wirtschaftlich nachhaltige Lösungen behindert. Und schliesslich stellt auch der Umstand ein Risiko dar, dass das jetzt handelnde Personal mehrheitlich noch für eine Kirche der Vergangenheit ausgebildet ist und solche Wahrnehmungsmuster mit sich trägt. Pfarrpersonen und Sozialdiakone, aber auch Behördenmitglieder müssen lernen, ganz neu zusammenzuarbeiten. Gerade dort, wo sich aber die betroffenen Personen an die Spitze der Entwicklung setzen, können sie sie prägen und gewinnen jeweils grosse Mehrheiten in der Bevölkerung.

Noch also hat die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich Zeit, Mittel und Menschen, die notwendigen Veränderungen aus dem Glauben heraus und in eigener Kraft anzugehen. Erfolgversprechend ist dabei einerseits ein neuer Fokus auf die einzelnen Mitglieder in der Vielfalt ihrer Lebenswelten und andererseits die Stärkung der Landeskirche, die das ganze System im Sinne eines solidarischen Ausgleichs, einer zentralen Koordination und um des Erhalts von Gemeinsamkeiten willen zusammenhält. Sie muss diesen geschichtlichen Auftrag annehmen, um gerade diejenigen Schätze in die Zukunft zu überführen, für die sie sich einst «reformiert» hat: Die immer neu zu erarbeitende zeitgemässe Verkündigung des Wortes Gottes, das aktuelle Engagement zur menschen- und schöpfungsfreundlichen Veränderung der Gesellschaft, die religiöse Mündigkeit des Einzelnen, der mit seinem Gewissen vor Gott steht und daraus die Freiheit des Glaubens, Denkens und Handelns gewinnt.

Michel Müller


Michel Müller

Pfr. Michel Müller ist seit 2011 Kirchenratspräsident der Evangelisch-reformierten Kirche im Kanton Zürich.

 

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