Bern-Jura-Solothurn: Vision Kirche 21

Die reformierte steht wie die katholische Kirche in der Schweiz mitten in Umstrukturierungsprozessen. Die SKZ fragte bei den Ratspräsidenten dreier Landeskirchen nach den gegenwärtigen kirchlichen Entwicklungen. Andreas Zeller (Bern-Jura-Solothurn) führt aus, wo die Stossrichtung bei der der grössten reformierten Landeskirche der Schweiz liegt.

Seit geraumer Zeit befindet sich die mit über 600'000 Mitgliedern grösste reformierte Landeskirche der Schweiz in einer Phase grundlegender Veränderungen. Die Gründe dafür sind das neue bernische Landeskirchengesetz (LKG), das auf den 1. Januar 2020 in Kraft tritt, und die 2017 formulierte Vision Kirche 21 «Von Gott bewegt. Den Menschen verpflichtet».

Die sehr enge Verbindung zwischen reformierter Kirche und Staat in Bern geht auf die Reformation 1528 zurück, als der Staat 36 Klöster aufhob, sich deren Ländereien einverleibte und den zuständigen Bischöfen von Basel, Konstanz, Lausanne und Sitten das Kirchenregime entzog. Fortan waren Grosser und Kleiner Rat Vorgesetzte der rund 200 bernischen Pfarrer. 1804 erfolgte die Übernahme des restlichen Kirchenguts durch den Staat – über sieben Millionen Quadratmeter Land an bester Lage –, der sich im Gegenzug in einem Dekret verpflichtete, die Besoldung der bernischen Pfarrschaft zu übernehmen. Weil dieses Dekret nie aufgehoben wurde, bezahlt der Kanton Bern die Pfarrlöhne auch der römisch-katholischen und christkatholischen Pfarrer bis heute.

Mit dem Expertenbericht «Ad!vocate/Ecoplan» präsentierte der Regierungsrat im März 2015 eine Auslegeordnung zum Verhältnis von Kirche und Staat im Kanton Bern. Der Bericht machte deutlich, dass die Landeskirchen als offene Volkskirchen stark auch zugunsten von Konfessionslosen sowie Menschen anderer Religionen wirken. Dabei übersteigen die gesellschaftlich relevanten Leistungen der Kirchen die finanziellen Entschädigungen des Staates deutlich. Gestützt auf diesen Expertenbericht verabschiedete der Grosse Rat im September 2015 Leitsätze mit dem Ziel, das Verhältnis Kirche – Staat zu entflechten, die Eigenständigkeit der Kirchen zu stärken und das bisherige Kirchengesetz von 1945 total zu revidieren. Am 21. März 2018 wurde das neue LKG im Grossen Rat verabschiedet. Die Kerninhalte des neuen Gesetzes sind ein neues Finanzierungsmodell für die Landeskirchen und die Übergabe der Dienstverhältnisse der evangelisch-reformierten, der römisch-katholischen und der christkatholischen Pfarrpersonen in die Verantwortung der Landeskirchen. Mit der Einführung eines Zwei-Säulen-Modells, das einerseits die historischen Rechtsansprüche wahrt und anderseits die gesamtgesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Leistungen der Kirchen berücksichtigt, wird die Finanzierung auf eine neue, verlässliche Basis gestellt. Die Übernahme der Dienstverhältnisse von annähernd 500 Pfarrpersonen (rund 335 Vollzeitstellen) bedeutet für die reformierte Landeskirche eine grosse Herausforderung. Die Kirchenleitung, der Synodalrat, ist sich ihrer grossen Verantwortung bewusst und bereitet sich zeitgerecht auf die innerkirchliche Umsetzung des LKG vor.

Am 10. September 2017 erfolgte auf dem Bundesplatz in Bern vor mehreren tausend Gästen die feierliche Proklamation der neuen, über mehrere Jahre breit erarbeiteten Vision der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn im Rahmen des Kirchenfestes «Doppelpunkt 21»:

Von Gott bewegt. Den Menschen verpflichtet.
Auf die Bibel hören – nach den Menschen fragen.
Vielfältig glauben – Profil zeigen.
Offen für alle – solidarisch mit den Leidenden.
Die Einzelnen stärken – Gemeinschaft suchen.
Bewährtes pflegen – Räume öffnen.
Vor Ort präsent – die Welt im Blick.
Die Gegenwart gestalten – auf Gottes Zukunft setzen.

Die Vision verfügt über eine hohe geistlich-theologische Konzentration. Die Gedankenstriche bei den Leitsätzen, z. B. «Bewährtes pflegen – Räume öffnen», zeigen kein blosses «sowohl – als auch», sondern weisen auf Spannungsfelder in der Kirche hin. Die Volkskirche löst diese nicht auf, sondern lebt und gestaltet sie. Die vorhandene Dynamik bedeutet, dass Kirchesein eine stete Aufgabe ist, ganz nach dem reformatorischen Grundsatz «ecclesia semper reformanda».

Ziel ist die Zukunftsfähigkeit der Kirche. Zukunftsfähig wird sie, wenn sie weiss, wer sie ist und wohin sie will.

Es geht um Themen wie Kirchenverständnis, Identität, Auftrag, Ausrichtung, Positionierung und Zukunftsbild. Die Vision gibt die Richtung an. Dabei müssen in den Diskussionen der kommenden Jahre Aspekte der Volkskirche zusammen mit den Spannungsfeldern sowie die biblische Grundlage und die Geschichte beachtet werden. Zudem sollen Inhalte vor Strukturen, Glaube vor Finanzen kommen. Im Mai 2017 erfolgte die Zustimmung der Synode. Das Kirchenfest «Doppelpunkt 21» war auch das Startsignal zur Umsetzung. Umsetzung der Vision bedeutet, dass diese Eingang in das Leben der Kirche auf allen Ebenen findet und Orientierung ist in Gottesdienst, Unterricht, Seelsorge, Diakonie sowie dem öffentlichen Wirken der Kirche. Das gilt auch für Synode, gesamtkirchliche Dienste und Synodalrat. Letzterer traf zur Umsetzung der Vision wichtige Entscheide: Der erste Sonntag im November, der Reformationssonntag, wird neu Visionssonntag. An ihm soll gemeinsam darüber nachgedacht werden, was die Vision und die Leitsätze für unsere Kirche bedeuten. Nach wie vor soll aber auch reflektiert werden, was es heute heisst, reformiert zu sein. Der Visionssonntag eröffnet jeweils für das kommende Jahr den Weg mit dem neuen Leitsatz als «Jahresmotto» im Sinne eines Schwerpunkts. Überdies erfolgte die Einsetzung eines Thinktank «Vision Kirche 21» als kreatives Instrument zur Umsetzung der Vision. Er umfasst Mitarbeitende aus dem Haus der Kirche und Externe, die Ideen generieren und diskutieren. Sie denken unabhängig von Machbarkeit, Kirchenpolitik und Strukturen. Zudem sichert ein «Visionsbotschafter» die Kommunikation mit Kirchgemeinden und Öffentlichkeit, unterstützt und vernetzt nach innen und nach aussen, und garantiert Wissenstransfer, Berichterstattung und den Kontakt zum Thinktank. Man darf gespannt sein, wie sich diese von Gott bewegte und den Menschen verpflichtete Kirche entwickelt.

Andreas Zeller

 


Andreas Zeller

Pfr. Dr. Andreas Zeller ist seit 2007 Präsident des Synodalrats der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und seit 2015 Leiter des Gesamtprojektes «Kirche und Staat».

 

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