Zeitforschung

 

Ein Grossteil der zeittheoretischen Diskussionen dreht sich um die Frage, wie real denn Zeit tatsächlich ist, ob es sie wirklich gibt oder nicht nur Einbildung oder eben ein menschliches Konstrukt ist, das der Orientierung in einer hoch komplexen Welt dient. Tatsächlich finden wir Spuren zeitlicher Orientierungssysteme schon in den frühen Hochkulturen, nicht zuletzt auch im Alten Testament oder bei Augustinus. Dieser bekannte, dass er zwar wisse, was Zeit ist, wenn ihn niemand frage, er aber passen müsste, wenn man ihn fragte. Eines der ältesten und zugleich aktuellsten Zeugnisse menschlicher Zeitstrukturierung, die wir kennen, ist bekanntlich – ausser unserer gültigen Zeitrechnung nach Christi Geburt – die Zeitinstitution des jüdischen Sabbats und daraus abgeleitet der siebentägige Wochenrhythmus mit dem christlichen Sonntag. 
Will man sich das gegenwärtige, komplexe Netz der Zeit, in dem wir in unserem Alltag leben, vergegenwärtigen, reicht es zunächst festzustellen, dass Zeitstrukturen, wie sie uns täglich begegnen, nicht vom Himmel gefallen, sondern Kreationen sind, die sich der Mensch im Verlauf der Evolution zu seiner Orientierung und zur Verbesserung seiner Lebensbedingungen zugeeignet hat. Dabei haben sich das Zeitverständnis und die Zeitbegriffe als solche im Lauf der Zeit evolutionär mit verändert.
So besteht das Netz im Einzelnen aus vier Komponenten: Erstens aus externen zeitlichen Verpflichtungen, die von Zeit-Institutionen gesetzt werden und die wir kaum ändern können, und zweitens aus Terminen und zeitlichen Normierungen, die wir uns eigensinnig und in relativer Freiheit selbst gesetzt haben. Darüber hinaus sind drittens die äusseren natürlichen Gegebenheiten unserer Umwelt, wie etwa der Tag-Nacht-Rhythmus Teil des Netzes der Zeit sowie viertens und nicht zuletzt die Rhythmen unserer inneren biologischen Uhr, die uns treibt oder retardieren lässt. Dementsprechend orientieren wir unseren Alltag an den Stundenplänen der Schule, an den Fahrplänen des Nahverkehrs, den vom Arbeit­geber gesetzten Anfangs- und Endzeiten unserer Erwerbsarbeit, an den Öffnungszeiten des Einzelhandels oder an den Zeiten der Heiligen Messe. Im Sieben-Tage-Rhythmus freuen wir uns auf das regelmässige Freizeitbiotop «Freies Wochenende», im Jahresrhythmus auf Weihnachten und den Urlaub. Der Tag-Nacht-Rhythmus bestimmt, wann wir wach oder müde sein sollen, und nicht zuletzt unser Körper bestimmt mit darüber, wann und wie lange wir besonders leistungsfähig oder lustlos, hungrig oder satt sind.

Kirchen als Verteidiger der Zeit 

Wenn man von Strukturierung der Zeit spricht, kann Kirche beziehungsweise der christliche Glaube nicht aussen vor bleiben – gerade auch mit Blick auf zukünftige, nachhaltige Zeitstrukturen der Gesellschaft. Von der christlich geprägten Kalenderordnung war schon die Rede. Ebenso hervorzuheben ist, dass die beiden grossen Kirchen in den vergangenen zwei Jahrhunderten dem Ansturm der Industrialisierung gegen die politisch und wirtschaftlich motivierte Abschaffung des (erwerbs-)arbeitsfreien Sonntags standgehalten haben; sie haben alles getan, um der soziokulturellen Erosion des Sonntags als herausgehobenen Tags entgegenzutreten. Auch wenn man ihnen dabei ein grosses Stück Eigeninteresse unterstellen darf, darf ihnen dies rückblickend als grosses historisches Verdienst angerechnet werden. 
Tradition und Zukunft treffen hier in zweierlei Hinsicht günstig zusammen: Die Zeitstruktur des siebentägigen Wochenrhythmus mit seiner wiederkehrenden Dramaturgie alltäglicher Abläufe bildet in Zeiten der Digitalisierung, die eine Linearisierung von Abläufen jenseits des Tag-Nacht-Rhythmus an 365 Tagen im Jahr bedeutet und damit eine massive zeitliche Entstrukturierung aller sozialen Verhältnisse und Aggregate, eine der wirksamsten Barrieren, die man sich vorstellen kann. Dies wäre die alltagspraktische Dimension: In dieser ermöglicht das freie Wochen­ende, ein zeitliches Biotop aufrechtzuerhalten, das ausser, dass es dem Alltag Struktur gibt, innerhalb dieses durch Gesetz und gelebte Praxis geschützten zeitlichen Areals den Menschen eine grösst­mögliche Freiheit der Zeitgestaltung gibt und damit gute Realisierungschancen für das «Recht auf eigene Zeit». Die zweite Funktion bezieht sich auf die symbolische Ebene des Sieben-Tage-­Rhythmus und seiner sabbattheologischen Deutung: Anknüpfend an den Schöpfungsbericht modelliert die Dramaturgie des Wochenverlaufs die Rhythmizität alles Lebendigen und der Natur oder theologisch gesprochen der göttlichen Schöpfung, und ist damit in einer säkularen Gesellschaft noch eine der wenigen Botschaften, die unabhängig von ihrem Glaubensbekenntnis von allen Mitgliedern der Gesellschaft akzeptiert werden können. Beide genannten Aspekte bedingen einander und verstärken sich gegenseitig: Das Sabbat-Gebot der regelmässigen Unterbrechung menschlicher Aktivität, verstanden als die Aufforderung, «nicht das Letzte herauszuholen», stellt sich sowohl gegen die infinite wirtschaftliche Ausbeutung des Planeten als auch gegen die Versklavung des Menschen durch nimmer endende Arbeit. 

Zeit-Gestaltungskompetenz ausweiten

Für die Kirchen wird es in Zukunft darauf ankommen, mit diesem Pfund zu wuchern. Das heisst, die angestammte Zeit-Gestaltungskompetenz auf diesem Feld nicht nur zu erhalten, sondern auszuweiten und zu zeigen, dass sie sich nicht auf organisationsinterne Ziele beschränkt, sondern vor allem darauf gerichtet ist, die Lebensverhältnisse der Menschen mit interessanten neuen, in mehrfacher Hinsicht nützlichen und orientierenden Impulsen mitzugestalten. Exemplarisch seien hier drei Felder benannt: 
Erstens sollten sich die Kirchen im Sinne des Humanums, sprich: im Interesse der arbeitenden Menschen, ausser «ihrem» Sonntag auch den Samstag als zweite Komponente des wöchentlichen zeitlichen Biotops zu eigen machen: Wenn sich die Menschen am Freitag aus den Fabriken und Büros verabschieden, wünschen sie sich schon seit Jahrzehnten statt einen «Schönen Sonntag» ein «Schönes Wochenende». 
Zweitens müssen die Kirchen sich intensiver als bisher mit eigenen Vorschlägen in die öffentliche Debatte einbringen, wenn es darum geht, in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft auch die Wochenhöhepunkte, hohen Feiertage und Feierzeiten anderer religiöser Gruppierungen und Kulturen auf Augenhöhe in die offizielle Kalenderordnung der Schweiz zu integrieren. 
Drittens ist der Sonntag beziehungsweise das freie Wochenende trotz aller Erosionstendenzen zwar relativ frei von Erwerbsarbeit, dagegen – solange die Arbeitsteilung in den Familien sich noch weithin am traditionellen Rollenmuster orientiert – kein wirklich arbeitsfreier Tag für die grosse Mehrzahl der Frauen und hierin insbesondere der Mütter. Die Kirchen müssten dies in ihren regelmässigen Kampagnen zum Erhalt des freien Sonntags öfter ansprechen und würden damit einen wichtigen Beitrag zum nachhaltigen Überleben einer von genuin christlichen Werten inspirierten und zugleich auch für die kommende Gesellschaft unschätzbar wertvollen Zeitinstitution liefern.

Jürgen P. Rinderspacher

 


Jürgen Rinderspacher

Dr. rer. pol. dipl. pol. Jürgen Rinderspacher (Jg. 1948) studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie evangelische Theologie in Berlin. Er ist Zeitforscher und arbeitet als Dozent am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

 

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