Von Goethe stammt die berühmte pädagogische Einsicht, Kinder sollten von ihren Eltern vor allem zwei Dinge bekommen: Wurzeln und Flügel. Gerade in Bezug auf die religiöse Entwicklung gilt auch die Fortsetzung dieses Zitats: Wenn sie klein sind, brauchen sie Wurzeln, wenn sie grösser werden, brauchen sie Flügel. Ich nehme Goethes Zitat zu Hilfe, um die Beschreibung 2E im Kompetenzbereich «Katholischen Glauben feiern» des Zyklus 2 (9–12 Jahre) im Lehrplan für Religionsunterricht und Katechese (LeRUKa) zu interpretieren. Hier geht es um die Frage, wie Kinder und Jugendliche liturgische Feiern als persönliches und gemeinschaftliches Beziehungsgeschehen mit Gott erleben und tätig mitfeiern können. Zum Lebensweltbezug dieser Kompetenz schreibt der LeRUKa: «Im Verlauf des Zyklus 2 vertiefen die meisten Kinder ihre kognitiven, affektiven, sozialen und psychomotorischen Fähigkeiten so weit, dass sie zum Mitfeiern an längeren Gottesdiensten fähig sind. […] Eine gelingende Eucharistiekatechese und ein erster Empfang der Heiligen Kommunion, der oft im Verlauf des Zyklus 2 angesetzt ist, baut die Liturgiefähigkeit der Kinder weiter auf und ermutigt sie, sich als volle Mitglieder der feiernden Gemeinschaft wahrzunehmen.»
Religion als heikles Thema
Dieser Beitrag erscheint im Frühsommer, in dem der Weisse Sonntag und damit die intensive Zeit der Erstkommunionkatechese in den Pfarreien noch nicht so lange zurückliegen. Damit rückt eine religionspädagogische Lehr-Lern-Erfahrung in den Blick, auf die der LeRUKa in der oben genannten Kompetenzbeschreibung zurückgreift: Religionsunterricht und Katechese haben die nicht zu unterschätzende Chance, Kinder liturgiefähig, im besten Fall sogar liturgiebegeistert zu machen, indem sie beim Entschlüsseln von Symbolen, Ritualen und anderen Ausdrucksformen der Liturgie begleitet werden.
Eigentlich wäre der primäre Ort der religiösen Begleitung von Kindern die Familie. Darauf angesprochen, betonen jedoch viele Eltern, dass ihnen die religiöse Bildung und Erziehung ihrer Kinder eigentlich wichtig sind. Für immer mehr junge Familien ist die religiöse Erziehung allerdings ein heikles Thema. Zwar wünschen sich die meisten Mütter und Väter, dass ihre Kinder einen tragfähigen Lebensglauben finden, eine Beziehung zu Gott, zu Glaube, Religion, Liturgie und Kirche aufbauen und sich Werte aneignen, die ihnen förderlich sind. «Aber so, wie das in meiner Kindheit war, kann religiöse Erziehung ja wohl nicht mehr sein!», klagt eine Mutter und fährt fort: «Besonders hilflos bin ich bei den Ritualen. Andere Eltern beten noch am Abend mit ihren Kindern, aber ich fühle mich unsicher und überfordert.» Sie steht stellvertretend für viele. Im Folgenden möchte ich Rituale als besonderen Ausdruck der Beziehung zwischen Gott und Mensch unter die Lupe nehmen.
Rituale haben Konjunktur
Scheinbar gegenläufig zu der ernst zu nehmenden Unsicherheit der jungen Mutter steht die religionssoziologische Wahrnehmung, dass Rituale in unserer gegenwärtigen Religion und Gesellschaft Hochkonjunktur haben. Tischgebete oder Abendgebete junger Eltern mit ihren Kindern gehören in vielen Familien zum festen Alltagsablauf. Viele junge Familien machen die Erfahrung, in einer flexiblen Gesellschaft zu leben, die grosse Freiheiten ermöglicht, aber auch ein hohes Tempo hat. Weil das unsere Lebensverhältnisse instabiler macht, sind Rituale wie Inseln, die Vertrautheit und Sicherheit geben. Daher haben Rituale Konjunktur.
Der Berner Religionspädagoge Christoph Morgenthaler1 nennt im Rückgriff auf Victor Turner vier Dimensionen von Ritualen, die wichtig sind, um ihre religiöse Kraft sowohl in der Familie als auch in Religionsunterricht und Katechese zur Geltung zu bringen.
Die kommunitäre Dimension
Die kommunitäre Dimension erzählt von der Bedeutung der Rituale für die Gemeinschaftsbildung. Um Kinder zu motivieren, ihre Sorgen und ihren Dank in Form von Gebeten vor Gott zu bringen, ist es wichtig, dass sie die gemeinschaftliche Wirkung des Betens im Gottesdienst, im Religionsunterricht oder im Rahmen der Kommunionvorbereitung in der Pfarrei kennengelernt haben. Zwar sagen Kinder immer wieder, dass sie nicht wissen, mit welchen Worten sie beten sollen. Nicht zuletzt die Friedensgebete für die Ukraine haben ihnen aber gezeigt, dass es sowohl Kindern wie Erwachsenen manchmal einfach hilft, nicht alleine beten zu müssen und dass es die Gemeinschaft stärkt. Wer alleine beim Beten keine Worte findet, kann sich von der gemeinschaftlichen Beziehung zu Gott tragen lassen.
Die normative Dimension
Zweitens weist Morgenthaler auf die normative Dimension von Ritualen hin, die mit der Internalisierung von Werten zu tun hat. Was wir mit Ritualen umgeben, ist uns viel wert. Das gilt für das Familienleben ebenso wie für das Glaubensleben in Liturgie und Kirchenjahr. Das regelmässige Tischgebet zu Hause ist bekanntlich den kleineren Kindern so wichtig, dass sie es immer dann selber einfordern, wenn die Erwachsenen es einmal vergessen. Bei grösseren Kindern zeigt ein Ritual wie das Tischgebet, dass die Dankbarkeit gegenüber Gott über das Essen hinausgeht und wichtige Alltagserfahrungen wie Prüfungen, Abschiede, Erfolge und Glück einschliesst. Ein Ritual verdichtet Momente der Freude wie des Leids und bezieht Gott in all diese Wirklichkeiten mit ein.
Die semantische Dimension
Alle Gebete, Liturgien und Gottesdienste unserer Glaubenspraxis weisen darauf hin, dass der unsichtbare und für das menschliche Auge abwesende Gott mitten im Ritual unter den Glaubenden anwesend ist. Damit die Rituale kindgemäss sind bzw. bleiben, ist es wichtig, dass Kinder sie mitgestalten. Weil Rituale Übergänge gestalten helfen, Raum für Gespräch und Gebet geben, Anlass für Konflikt und Versöhnung sind, lohnt es sich, mit Kindern eine Spiritualität des Rituals zu entwickeln.
Die syntaktische Dimension
Rituale beziehen ihre Kraft wesentlich aus der verlässlichen Wiederkehr derselben Handlungen. Da Rituale die Zeit strukturieren, gilt das für den Ablauf eines biografischen Jahres (Geburtstage, Tauftage) genauso wie für den Ablauf des Familienjahres (Hochzeitstage) oder Kirchenjahres (Hochfeste und Feiertage). Bei Ritualen ist gerade für Kinder wichtig, dass sie eine feste Ordnung haben, denn das gibt ihnen Sicherheit. Gleichzeitig muss es aber immer wieder Variationen geben, damit das Ritual nicht leerläuft.2
Diese religionspädagogischen Überlegungen zeigen exemplarisch, wie der LeRUKa die Ritualkompetenz von Kindern fördern und stärken will. Damit trägt er zu einer alltagstauglichen Mystagogie bei, die Kindern durch Rituale einen Raum der Gotteserfahrung eröffnen will. Viele Erwachsene von heute erzählen, dass Grosseltern und Eltern, aber eben auch Religionsunterricht und Katechese eine «Hebammenfunktion» beim Erlernen von Gebeten und Ritualen gehabt hätten, die sich ein Leben lang als tragfähig erwiesen hat. In Anlehnung an Goethe ist das ein schöner Beweis für die Einsicht, dass Kinder gerade in Sachen Religion zuerst Wurzeln brauchen, damit sie später Flügel entwickeln können.
Christian Cebulj