Wohin zielen Werte-Debatten?

Fusstorso in der Landschaft als Denkanstoss. Foto: Stephan Schmid-Keiser

Zuverlässigkeit, Stabilität, Freundlichkeit, Swissness, Solidarität. Vieles wird in der Schweiz unter Werten aufgezählt. Nicht immer wird klar, wohin hierzulande die Werte-Debatte zielt.

Die schweizerische Identität sei betont an christliche Werte gebunden, meinen die einen. Andere halten dagegen: Verabsolutierung könne Andersgläubige ausgrenzen1. Man müsse sich auf die aufklärerischen Lehren zurückbesinnen. Es seien dies die universellen Rechte der Menschen, welche «auf dem Humus des Westens gediehen sind». Genannt werden die Freiheit, die Gleichheit und die Solidarität. Sie sind in der offenen Gesellschaft nicht selbstverständlich. Gleichzeitig wird das Gespräch über Religion und deren Wirkung wichtiger.

Missbrauch religiöser Sinnwelten

Denn religiösen Wegen wird skeptisch begegnet, wo sie sich nicht ausdrücklich wichtigen Werten des Rechtsstaates unterordnen. Es geht um Anerkennung der Gleichheit aller vor dem Gesetz, transparente Entscheidungen aufgrund gegenseitigem Respekt, Meinungs-, Glaubens- und Religionsfreiheit. Die Grenzziehung markiert der spezifische Missbrauch religiöser Sinnwelten, wie Wahnsinnstaten terroristischer Gruppen mit überstaatlichen Strukturen erschreckend und in einer Mischung von archaischer und anarchischer Gewalt aufzeigen. Diese grausame Intoleranz im Namen religiöser Sinnwelten kann keine Wertegemeinschaft begründen. Es fragt sich, worauf sie sich – dann noch im Namen «göttlicher Instanz» – beruft? Ist sie das Ergebnis im Leben einiger Hundertschaften unter uns, die sich frustriert von der Wohlstandsgesellschaft distanziert haben und sich in die Fänge gewaltorientierter Banden ziehen liessen? Oder nicht vielmehr Ergebnis wachsender weltweiter Ungleichheit? Liegt dieser Intoleranz nicht Enttäuschung und Zorn zugrunde – nicht nur seit der islamischen Revolution 1979 oder dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs 1989?

Radikalisierung und gesteigerte Ungleichheit

Das Auseinanderdriften reicher und armer Weltregionen und die gewachsenen Folgen des Klimawandels sind wohl ebenso starke Ursachen, welche zur Radikalisierung der nachwachsenden Generationen weltweit führen können. So lenkte Hervé Kempf den Blick auf die ökologische Krise und weniger auf die tragischen terroristischen Akte.2 Es sei die in der Entwicklung der Welt seit drei Jahrzehnten gesteigerte Ungleichheit, die uns beschäftigen müsse. Damit wird die konkrete Prägung von Werten und deren Umsetzung für die Gestaltung menschlicher Zukunft zur eigentlichen Überlebensfrage und die Ausgestaltung des Gemeinwohls zum Hauptziel der Werte-Debatte. Sie verlangt mehr als politische Massnahmen.3 Zum Hauptziel wird die Verankerung «grundlegender Gerechtigkeit für jeden Menschen im Staat, im Recht also» und damit auch «systemisch organisierter Nächstenliebe».4

Am Gemeinwohl orientiert

Intellektuelle seien keine Welterklärer, «sie beharren aber auf Werten jenseits von Gruppenegoismen», erläuterte Martin Ebel.5 Zum Prüfstein werde dieses Engagement, wo es «über das eigene Interesse hinausgeht … das Wohl des Ganzen im Auge hat». Die Herausforderung gilt einer alle Interessen übergreifenden Solidarität. Dies bestätigte auf seine Weise der Philosoph Ludwig Hasler: «Die Werte-Debatte wird gern auf Dachterrassen ausgetragen. Unten auf der Strasse fragen sich immer mehr Leute: Okay, Diversity tönt nicht schlecht, aber wo kommen eigentlich wir darin vor? Man will, dass wir permanent solidarisch sind, mit Minderheiten, Flüchtlingen, Migranten. Ist ja in Ordnung, nur, wo bleibt die Solidarität mit uns?»6 Hasler vermutet, dass Werte nur auf Gegenseitigkeit, «nach der Logik eines reziproken Egoismus» funktionieren: «Ich mache gern etwas Gutes – sofern es mir guttut.»

Im Gespräch mit Niklaus Peter werden dessen Werte hörbar. Gott selbst weiche dem Leiden nicht aus, er gehe den Weg mit den Menschen.7 Religion habe auch mit Schönheit und Kunst zu tun, und dies nicht als «individuelle Ausstülpung von oftmals peinlichen Privatmythologien». Zwingli sei tief geprägt vom christlichen Humanismus eines Erasmus von Rotterdam, und Zwinglianer hätten einen «innovativeren Geist eingebracht als Lutheraner». Dem Pfarrer ist Religion nicht als Reihe von Dogmen wichtig, sondern als «eine Sprache, in die ich hineinwachse». Und es gehe nicht darum, «sich im Kampf gegen andere durchzusetzen, sondern gemeinsam mit anderen etwas aufzubauen». «Antiislamistisch aufrüsten» solle man nicht. «Doch wachsen Werte nicht auf den Bäumen, sondern meist – freilich nicht allein – in religiösen Kontexten.» Und mit Bezug auf eine «vitale Wirtschaft» plädiert er für «das freie Spiel der Kräfte».

Verlorene Zivilcourage?

Gleichzeitig stehen gegenwärtig mehr Menschen weltweit im Kampf um ihr Überleben und entscheiden sich zu zivilem Ungehorsam gegenüber politischen und gesellschaftlichen Instanzen, deren Macht und Regeln sie ausgesetzt sind. Sichtbar wird, wie mit Zivilcourage für mehr Gemeinwohl eingestanden wird, wie sich einige wenige Allianzen über die Grenzen von Nationen und Religionen bilden. Das Ringen um die Werte in der Öffentlichkeit wird auch in der Schweiz nicht darum herumkommen, sich deutlicher noch als bisher die selbstkritische Frage zu stellen: Wie tragfähig ist eine Wertedebatte, die sich nicht daran wagt, «die Strukturen der Gesellschaft so zu gestalten, dass darin ein menschenwürdiges Leben für alle möglich ist»?8

Werte sind unsichtbare Währung

Ein von allen solidarisch mitgetragenes Sozialsystem zeigt es: Werte sind wie die unsichtbare Währung, von der Gesellschaften zehren. Schwankt ihr Kurs, sind ihre Währungshüter gefragt – alle, die sich für die Währung interessieren. Ohne Engagement und Interesse kann der Verfall einer Werteskala die einmal erreichte minime Solidarität (AHV als typisch schweizerische Lösung) gefährden. Der Vergleich mit dem Verfall von Geldwerten mit dem Werte-Verfall spielt jedoch jenen in die Hände, die sich reiner Nützlichkeit verschrieben haben. Dann ist man definitiv auf den Rat des Verhaltensforschers angewiesen, der danach befragt, ob manche moralische Prinzipien weltweit gültig seien, antwortet: «Es gibt keine Kultur, die es gutheisst, Individuen aus der eigenen Gruppe einfach so zu töten. Darüber hinaus gilt universell: Jeder aus der eigenen Gruppe soll zu essen bekommen, auch der Faulste.»9

Fast ein Jesus-Schluss? Es wäre einseitig, zu behaupten, Werte zielten allein dort hin, auch die Faulsten zu belohnen. Und dennoch: Werte werden geprägt von Grundhaltungen, die, einmal erlernt, das Gefüge einer Gesellschaft mitaufbauen helfen. Werte realisieren ist eine menschliche Herausforderung über den Horizont seiner selbst, seiner Familie und der Nation hinaus. Fatal wäre es, würde es keinen Grundkonsens über die Existenz der UNO und vieler brückenbauenden Initiativen und Organisationen geben.

 

1 Simon Hehli: Der Wert der Wertedebatte, NZZ 10. 11. 2016, 12.

2 H. Kempf: Tout est prêt pour que tout empire. 12 leçons pour éviter la catastrophe, Paris 2017. Vgl. auch Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart, Frankfurt 2017.

3 Michelle Becka fordert eine kritische Gestaltung der Globalisierung, «die den Gemeinwohlbegriff stärkt und den von Papst Franziskus häufig geäusserten unscharfen Begriff des globalen Gemeinwohls theoretisch auszuarbeiten und zu begründen versucht». www.feinschwarz.net 22. 2. 2017.

4 Peter Schallenberg: Barmherzigkeit schafft Wohlstand. Eine Antwort auf Marti Rhonheimer, in: Die Tagespost 18. 2. 2017, 14.

5 TA 9. 12. 2016, 31.

6 Meinte Weihnachten je, alles sei in Butter? NZZ am Sonntag 25. 12. 2016, 61.

7 Interview Urs Bühler mit Niklaus Peter: «Werte wachsen nicht auf Bäumen», NZZ 24. 12. 2016, 19.

8 Daniel Bogner: Bausteine einer menschlichen Gesellschaft, in: SONNTAG 5/2017 32 f., 33.

9 Interview von Till Hein mit Michael Tomasello, in: NZZ am Sonntag 25. 12. 2016, 49 f.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)