Wo sich Monster und Heilige begegnen

Das Chorgestühl der Stiftskirche St. Michael in Beromünster LU ist über die Landesgrenze hinaus bekannt. Noch heute beten die Chorherren darin täglich ihr Stundengebet.

Propst Harald Eichhorn (Jg. 1959) in seinem Chorsitz. Das Relief zeigt den Einzug in Jerusalem. (Foto: rs)

 

Die Augen starren ausdruckslos, der Rücken ist mit Schuppen bedeckt. Was im ersten Moment wie eine Verzierung des Chorgestühls aussieht, entpuppt sich als Monster. Sah so vielleicht der Leviatan aus? Propst Harald Eichhorn weiss es nicht. Er hat gelernt, mit diesen Figuren zu leben, ja sogar in ihrer Gegenwart zu beten. «Die meisten Monster liegen ja zu unseren Füssen», meint er mit einem Schmunzeln. Am Chorgestühl der Stiftskirche St. Michael tummeln sich 621 Wesen: Monster, Drachen, aber auch Engel und Heilige. Hier treffen sich die Chorherren täglich zum Gebet. Um 8.15 Uhr die Lesehore, danach die Laudes, anschliessend die heilige Messe in den Anliegen der Stifter, des Bistums und der Menschen, gefolgt von der Terz. Um 18 Uhr treffen sie sich noch einmal für die Vesper und die Komplet.

Seit rund tausend Jahren beten hier ununterbrochen Chorherren. Die Lenzburger haben am Ort ihrer Grablege zunächst ein reguliertes Chorherrenstift gegründet; nach dem Franzoseneinfall wurde daraus ein Ort für pensionierte Priester. «Es ist unglaublich, wenn man im Chorgestühl sitzt und weiss, es sind schon Hunderte von Jahren ganze Generationen von Chorherren hier in dieser Kirche gesessen und haben das Gleiche getan.» Propst Eichhorn ist sichtlich beeindruckt. «Wenn abends nach der Vesper die Namen der Verstorbenen vom kommenden Tag vorgelesen werden, spüren wir den grossen Zusammenhang, in dem wir stehen. Wir Chorherren sind von unserer Herkunft und unserem Werdegang her total verschiedene Menschen, doch wir sind uns einig, dass wir diese Traditionen aufrechterhalten möchten.»

Ein aussergewöhnliches Kunstwerk

1601 erhielt der Bildhauer Christoffel Fünffe aus Waldshut (D) den Auftrag, ein neues Chorgestühl zu schnitzen. Von ihm stammen jedoch nur die Christusfigur auf der linken und die Marienfigur auf der rechten Seite. 1606 übernahmen Melchior und Heinrich Fischer aus dem süddeutschen Laufenburg die Arbeit und schufen binnen dreier Jahre das Chorgestühl aus Eichen- und Nussbaumholz. Die 26 Holzreliefs im Stil der Spätrenaissance zeigen Szenen aus dem Leben Jesu und Mariä, von der Verkündigung des Herrn bis zur Himmelfahrt Mariens.1 Dabei nimmt die Passion Christi mit 15 Szenen den grössten Raum ein. Über den Reliefs befinden sich Halbfiguren von Engeln und Heiligen: rechts Michael, Gabriel, Melchisedek, Abraham, Mose, David, Johannes, Matthäus, Gregor der Grosse, Hieronymus und Karl Borromäus; links Raphael, Uriel, Isaak, Jakob, Jesaja, Jeremia, Markus, Lukas, Ambrosius, Augustinus und Niklaus von Flüe. Den oberen Abschluss bilden auf beiden Seiten je sieben Engel. Das Chorgestühl verfügt über 48 Plätze: 26 Hochstühle für die Chorherren und 22 Vorderstühle für die Kapläne.

Propst Eichhorn ist überzeugt, dass sich Kunst und Theologie gegenseitig befruchten. «Die Stiftskirche ist ein Gnaden- und Kraftort, der durch die Kunst verstärkt und versinnbildlicht wird. Sein Lieblingssitz im Gestühl? «Natürlich meiner», lacht er. 
Von den 16 Pfründen2 (ursprünglich waren es sogar 21) sind zurzeit nur sieben vergeben. «Früher hatten die Priester im Ruhestand kein grosses Einkommen, heute sind sie durch AHV und Pensionskasse abgesichert», erklärt Propst Eichhorn diesen Umstand. Während seiner über 30-jährigen intensiven Pfarreitätigkeit musste er das Gebet immer irgendwie im Tagesablauf unterbringen, heute ist es der Fixpunkt, um den sich alles andere ordnet. «Ich geniesse es.»

Rosmarie Schärer

 

 

1 Als Vorlage diente eine Kupferstichfolge des niederländischen Meister Hendrik Goltzius (1558–1617).

2 Die Pfrund besteht darin, dass jeder sein Haus zu einem sehr günstigen Mietzins erhält, dafür ist er zum täglichen Stundengebet und zur Eucharistiefeier verpflichtet.

Stift Beromünster wurde vermutlich Mitte des 10. Jahrhunderts von Graf Bero von Lenzburg gegründet. Zunächst war es ein Chorherrenstift, seit dem Wessenberg-Konkordat von 1806 sind die 16 Chorherrenpfründe für betagte Geistliche der deutschsprachigen Bistümer der Schweiz reserviert. Das Ernennungsrecht liegt bei der Luzerner Regierung. Interessierte Priester können sich direkt bei Propst Harald Eichhorn melden.

Die Aufgaben der Chorherren Chorgebet und Gottesdienste in der Stiftskirche; Seelsorge in den umliegenden Pfarreien; Betreuung und Verwaltung des grossen Kulturgutes am Stift: Baudenkmäler, Stiftsschatz, Bibliothek und Archiv. www.stiftberomuenster.ch

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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