Wie sie den Blick schärfen

Die drei grossen reformierten Schriftsteller Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und Albert Bitzius bringen mit gekonnter Feder literarisch zur Sprache, was unter der Decke politischer Ereignisse gärte.

Wenn wir uns aus literaturgeschichtlicher Sicht dem Entstehen der modernen Eidgenossenschaft, also dem Sonderbundskrieg und der Verfassung von 1848, annähern, dann fallen katholische Autorinnen und Autoren von Bedeutung weg. Es waren vielmehr die grossen Drei der Schweizer Literatur im 19. Jahrhundert, die beiden Zürcher Gottfried Keller (1819–1890) und Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) sowie der Berner Pfarrer Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf (1797–1854), die unseren Blick für das, was unter der Decke der politischen Ereignisse gärte und sich langsam, aber stetig veränderte, schärfen. Für alle drei ist der Katholizismus, im religiösen wie im politischen Sinn, der Gegner, dem mit Verachtung, im besten Fall mit Spott und Ironie begegnet wurde.

Die offensichtliche Begeisterung, mit der Keller und Meyer der grossen gesellschaftlichen Veränderung im Inland begegnen, mit Händen zu greifen natürlich im «Fähnlein der sieben Aufrechten» von 1860, weist sie aus als das, was sie waren: Stadtzürcher, der eine schon in der Oberschicht geboren, der andere trotz harzigem Start schliesslich in dieser angekommen. Aus Sicht der Stadt, zumindest der dort lebenden, materiell gut gestellten Schichten, ist das, was das 19. Jahrhundert der Schweiz brachte, Fortschritt pur, materiell-wirtschaftlicher, aber vor allem geistig-moralischer Fortschritt. Nirgends so klar zu greifen wie in der Festrede des jungen Fähnrich: «Erst da, wo die politische Zusammengehörigkeit zur persönlichen Freundschaft eines ganzen Volkes wird, da ist das Höchste gewonnen; denn was der Bürgersinn nicht ausrichten sollte, das wird die Freundesliebe vermögen, und beide werden zu einer Tugend werden.»1

Alfred Escher (1819–1882), Politiker und Unternehmer, die dominante Zürcher Persönlichkeit dieser Periode und Kultfigur des Freisinns, stand und steht Pate bei all diesem Enthusiasmus. Aus Blick und Sinn verloren gingen dabei das zahlenmässig immer mehr anwachsende Proletariat, das sich gerade in Zürich aus vielen zugewanderten Katholiken rekrutierte, und die gesellschaftlich am Rand Stehenden. 60 Jahre später sollte dann Meinrad Inglin im «Schweizerspiegel» (1938) die Verwerfungen dieser Aufbruchsepoche an Einzelschicksalen verdeutlichen (wie auch die Abspaltung der BGB, heute SVP, vom Freisinn!).

Den Kontrapunkt zu dieser Entwicklung setzt der kulturskeptische, wohl kulturpessimistische Pfarrer aus Lützelflüh im Emmental. Bitzius hatte als junger Mensch die damalige Welt gesehen und bereist, doch erschreckte ihn in seiner langen Tätigkeit als Landpfarrer der Preis, der für den zunehmenden politischen Zentralismus und den materiellen Fortschritt zu bezahlen war: Das Verlorengehen von selbstverständlicher Nachbarschaftshilfe und des Grundwerts der Solidarität im kleinen, überschaubaren sozialen Raum.2 Es wäre aber abgrundtief verfehlt, ihn grundsätzlich als Gegner jeden Fortschritts zu bezeichnen, so engagierte er sich vehement für die allgemeine Schulpflicht3 oder für die Impfpflicht4, beides auch im Auftrag der Bernischen Obrigkeit. Doch dass aus dieser noch geografisch einigermassen nahe liegenden Obrigkeit ein Zentralstaat mit zentralen Regelungen und damit verbunden ein Abbau der nachbarschaftlichen Verpflichtungen wurde, das erschreckte ihn zutiefst. Nicht verschwiegen werden darf bei dieser Beurteilung natürlich auch der theologisch-religiöse Hintergrund: Anders als im liberalen Zürich sind es bei Bitzius keine Festtagsreden von Handwerksgesellen, sondern die Predigten der Pfarrherren, die die ihnen Anvertrauten mit sanfter Hand und Überredungskunst führen.

Mag man die Gotthelf'sche Welt auch als naive christliche Utopie betrachten, so befällt einem beim Blick auf die Auswüchse an Unmenschlichkeit und Intoleranz, die auch die aufgeklärte Moderne nicht verhindern konnte, einiger Zweifel. Sicher ist: Es lohnt sich, Bücher zu lesen!

Heinz Angehrn

 

1 Keller, Gottfried, Das Fähnlein der sieben Aufrechten, Zürich 1965, 293.

2 Siehe: Geld und Geist, 1844; Die Käserei in der Vehfreude, 1850.

3 Siehe: Leiden und Freuden eines Schulmeisters, 1839.

4 Siehe: Anne Bäbi Jowäger, 1844.


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.