Wie aus Spannungen Differenzen werden

Der Streit zwischen politischen Gruppierungen in den Drei Bünden wuchs zunehmend zu einem politisch-religiösen Konflikt aus. Dieser hinterliess tiefe gesellschaftliche Risse in den Gemeinden und Talschaften.

Die «Bündner Wirren» – einer der heissen Nebenschauplätze des Dreissigjährigen Krieges – werden gemeinhin als Konflikt gedeutet, der seine Ursachen in den seit der Reformation im 16. Jahrhundert bestehenden religiösen Unterschieden hat. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass das Zerreissen des sozialen Bandes, die Verhärtung von Differenz zu konträren Identitäten, erst nachträglich durch religiöse Unvereinbarkeit motiviert wird. Stabile religiöse Identitäten sind dem blutigen Konflikt in den Bündner Alpentälern nicht vorrangig, im Gegenteil: Erst im Verlauf seiner Entwicklung verhärten sich die Fronten entlang politisch-religiöser Differenzlinien, sodass ein friedliches Mit- und Nebeneinander sich zunehmend schwierig gestaltet. So handelt es sich bei den «Bündner Wirren» um einen Konflikt, der um 1613 zunächst als gewöhnlicher Streit zwischen rivalisierenden politischen Faktionen beginnt, im Verlauf seiner Entwicklung aber mehr und mehr eine religiöse Aufladung erfährt und schliesslich in den 1620er Jahren als «konfessioneller Bürgerkrieg» (Ulrich Im Hof) in die Mühlen der Weltpolitik gerät.

Religiöse Differenzsemantiken werden um 1618 vor allem von einer kleinen Gruppe junger, radikaler reformierter Prediger in Umlauf gebracht. Um ihre Beteiligung an einem weltlichen Strafgericht zu rechtfertigen, veröffentlichen sie ein aufsehenerregendes Pamphlet, in dem sie das Geschehen als Episode eines steten Kampfes des bedrohten Gottesvolkes gegen die Feinde im Inneren deuten. Die Intervention der Prediger hat schwerwiegende Folgen für den Konfliktverlauf in den Drei Bünden: Sie katapultiert die Konflikte in eine andere Grössenordnung, in die des Dreissigjährigen Krieges.  

Erste Spannungen

Wie so oft in den Drei Bünden führte auch 1613 die Frage nach der aussenpolitischen Orientierung der Drei Bünde zu wachsenden Spannungen zwischen den um Macht, Ansehen und Reichtum konkurrierenden politischen Gruppierungen im Land. Aufgeworfen wurde diese Frage durch die Bemühungen der umliegenden Grossmächte um den Zugang zu den strategisch wichtigen Alpenpässen. Während sich die Anhänger Spaniens um ein Bündnis mit Mailand und dem spanischen König bemühten, warben die «Venezianer» für den erneuten Schulterschluss mit der Dogenstadt. Auch wenn es auf Dorf- und Gemeindeebene bereits seit dem 16. Jahrhundert immer wieder zu Streitereien zwischen lokalen Konfessionsgruppierungen gekommen war, religiöse Motive spielten bei der Parteizugehörigkeit in der Bündnisfrage jeweils keine Rolle.

Im frühen 17. Jahrhundert hatten sich die politischen Vorzeichen allerdings geändert: Nachdem sich zahlreiche Anhänger Frankreichs in den Drei Bünden überraschend auf die Seite der «Spanier» geschlagen hatten, rückte ein Militärbündnis mit dem spanischen König erstmals in greifbare Nähe – eine Zumutung aus Sicht einer Gruppe junger Prediger, darunter der noch junge Jörg Jenatsch, die seit Jahren gegen den wachsenden Einfluss Spaniens im östlichen Alpenraum – umstrittene kulturelle Grenzregion zwischen nordalpiner Reformation und italienischem Katholizismus – gekämpft hatten. Als die Versammlung der Vertreter der Bündner Gemeinden, der Bundstag, 1617 schliesslich ein Mandat erliess, das es den Pfarrern aufs Schärfste verbot, sich in Predigten politisch zu äussern, schien der Kampf für die Prediger verloren.

Religiöse Aufladung

Um sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, liessen die Prediger in ihren Kirchgemeinden einen Brief verlesen, der angebliche Beweise einer Verschwörung der Anhänger Spaniens in den Drei Bünden enthielt. Der Brief löste eine Welle der Entrüstung aus. Während sich anti-spanische Ressentiments ausbreiteten, wuchs unter den Landleuten das Unbehagen gegenüber den angeblich korrupten Eliten. Die angespannte Lage machten sich die Prediger zunutze: Ausgehend von ihrer agitatorischen Hochburg, dem Engadin, zettelten die Prediger einen Fähnlilupf an, einen Aufstand, und richteten in Thusis ein Strafgericht auf, um die «Spanier» zur Verantwortung zu ziehen. Unter ihrer Federführung wurden in Thusis nicht nur die führenden Köpfe der Spanierpartei drakonisch bestraft, sondern auch einzelne Exponenten der weltlichen und geistlichen Elite aus dem mehrheitlich katholischen Untertanengebiet im Veltlin. Kompromisslos gingen die Prediger gegen ihre politischen und religiösen Gegner vor und produzierten so einen Skandal, der ganz Graubünden erschütterte. Noch nie hatten sich religiöse Akteure in den Drei Bünden an einem weltlichen Strafgericht beteiligt, der Aufschrei im Land war gross.

Um ihr Vorgehen zu rechtfertigen, veröffentlichten die Prediger noch während des Strafgerichts die «Grawpündtnerischen Handlungen des 1618. Jahrs». Mit der wohl berühmtesten Druckschrift aus der Zeit der «Bündner Wirren» – sie erschien in sieben Sprachen und vier Ausgaben – wurde zum ersten Mal in den Drei Bünden ein zeitgenössischer Konflikt im Medium des Drucks reflektiert. Die Autoren deuteten ihn dabei als historische Episode eines permanenten Befreiungskampfs der «Grisonen», die ihre von Gott verliehene Freiheit gegen die tyrannischen «Herren» im Innern des Landes zu verteidigen hatten. Die «Grawpündtnerischen Handlungen» codierten den an sich gewöhnlichen Konflikt zwischen zwei politischen Faktionen narrativ als religiösen Bürgerkrieg und prägten dem Geschehen so ein folgenreiches Deutungsschema auf: So diente die Erzählung des gerechten Kriegs gegen die gottlosen Vaterlandsfeinde im Innern nicht nur den radikalen Predigern als Formatierungsvorlage, an der sie ihr Handeln ausrichteten, auch die anderen Konfliktakteure, die Anhänger Spaniens und Venedigs, begannen sich den Konflikt mit Hilfe der Erzählung des Bürgerkriegs begreiflich zu machen. Damit war das Drehbuch für die weitere Eskalation der Konflikte in Graubünden geschrieben. Die Auseinandersetzungen zwischen «Spaniern» und «Venezianern» gerieten nach dem Thusner Strafgericht endgültig ausser Kontrolle.

Konfessioneller Bürgerkrieg

Das Thusner Strafgericht riss innerhalb Graubündens tiefe gesellschaftliche Gräben auf. Die Spannungen zwischen «Venezianern» und «Spaniern» im Land, die durch die Bündnisverhandlungen von 1613/16 aktiviert worden waren, eskalierten. Mehrere, hintereinander abgehaltene Strafgerichte (Chur 1619, Davos 1619) gingen willkürlich und mit grosser Brutalität gegen den politischen Gegner vor. Die Zeit nach dem Strafgericht von 1618 war gekennzeichnet von wachsender Gewalt zwischen den politischen Faktionen und von zunehmendem politisch-religiösen Hass, der von beiden Seiten in einer beispiellosen Flut an Druckschriften – zwischen 1618 und 1623 erschienen in den Drei Bünden an die 100 gedruckte polemisch-satirische Lieder, Gedichte und Pamphlete – kultiviert wurde. Der «literarische Krieg» (Friedrich Pieth) trug massgeblich zur Verschärfung der Auseinandersetzung und zu ihrer religiösen Aufladung bei.

So artikulierte sich der innenpolitische Konflikt, nach 1618 mehr und mehr als Rivalität zwischen reformierten Anhängern Venedigs bzw. später Frankreichs auf der einen Seite und katholischen Anhängern Spaniens auf der anderen Seite, als «konfessioneller Bürgerkrieg». Polarisiert durch die blutigen Fähnlilüpfe von 1618/19 sowie durch die europaweit Aufsehen erregenden Ereignisse des Veltliner Mords vom Juli 1620 gerieten die Drei Bünde in den Sog der europäischen Religionskriege. Es folgten zwei Jahrzehnte des Krieges und der politisch-religiösen Kämpfe zwischen den europäischen Grossmächten Österreich, Spanien und Frankreich um das Gebiet der Drei Bünde, die erst mit den Verträgen von Mailand 1639 ein Ende nehmen sollten. Krieg, Plünderung, Brandschatzung, religiöse Verfolgung, Hungersnot und Pest kosteten zwischen 1618 und 1639 nicht nur fast einem Fünftel der Bevölkerung Graubündens das Leben, sie säten auch tiefes Misstrauen zwischen den religiösen Gruppen. Besonders in den gemischtkonfessionellen Gemeinden und Talschaften der Drei Bünde, dort, wo man vor dem Dreissigjährigen Krieg trotz bestehender Spannungen noch neben- und miteinander gelebt hatte, waren tiefe, auf Jahrzehnte hinaus spürbare gesellschaftliche Risse entstanden. Die bis Anfang des 17. Jahrhunderts weitgehend unwesentlichen religiösen Differenzen hatten sich in stabile Konfliktlinien verwandelt, die quer durch Familien, Nachbarschaften und Dörfer verliefen.

Sandro Liniger

 


Sandro Liniger

Dr. phil. Sandro Liniger (Jg. 1983) studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Sozialanthropologie an der Universität Bern. Er promovierte 2015 in Geschichte am Exzellenzcluster 16 «Kulturelle Grundlagen von Integration» an der Universität Konstanz. Seit 2019 arbeitet er als Projektleiter
Themenmanagement bei der SP Schweiz.